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Ausgabe:

1967

Spalte:

952-953

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Grin, Edmond

Titel/Untertitel:

Théologie systématique en Suisse romande 1967

Rezensent:

Quervain, Alfred

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menen Wortes von der Vergebung der Sünden. Jeder Versuch,
neben dieses Wort noch eine Kirche zu stellen, sei schon Verrat
am Evangelium. Wir haben nur 2x1 rechnen mit dem Volk, mit
der Welt und mit dem Wort, das auf diesem Acker ausgestreut
wird". Hier wendet sich Iwand direkt gegen Hirsch und „einen
etwas wild gewordenen Menschen wie Hans Michael Müller"
(S. 203). Das alles ist natürlich auf dem Hintergrund des damaligen
Kirchenkampfes ausgeformt. Es ist aber, wenn ich nicht
irre, gerade heute höchst aktuell und besonders wichtig, das
von einem Theologen zu hören, der nicht vom Pietismus, sondern
sehr pointiert von Luther herkommt.

Das eigentliche Unheil ist, daß die moderne Theologie „Gesetz
und Christus auseinandergerissen hat und jenes Gesetz predigt
, das nicht anders ist als das Naturgesetz, das Sittengesetz
aber nicht den Nomos Gottes, der immer Christus meint!" (S.
264). Auch ein Mann wie Kahler hat zwar mit Recht Sünde als
„ungläubigen Ungehorsam" definiert. Ganz recht, kommentiert
Iwand, aber was ist „ungläubiger Ungehorsam"? Kahler antwortet
: „Bruch der göttlichen Lebensordnung, des Gesetzes", wozu
Iwand fragt: „Ist das Evangelium nicht auch „Bruch des Gesetzes
"? Und weiter: Ist wirklich, vom Evangelium her gesehen,
das Gesetz „Lebensordnung"?" (S. 251). Wie überaus aktuell ist
doch gerade heute dies alles.

Man könnte fortfahren. Ganz besonders interessant sind auch
seine Ausführungen über Calvin und dessen Lehre vom Gesetz.
Iwand kann ihm nicht Folge leisten in seiner Lehre vom Alten
Testament. Gerade hier brechen die schärfsten Differenzen auf.
Das Alte Testament ist für Iwand kein eindeutiges Zeugnis von
Christus. „Es steht im Alten Testament nicht nur der Weg zu
Christus, sondern auch der Weg von Christus weg, aber er steht
da und soll stehen bleiben, damit die Gemeinde Gottes erkennt,
welcher Weg auch für sie der Weg von Christus weg ist" (S. 181).
Trotzdem wird aber Calvin gelobt, weil er, anders als Melan-
chthon, verstanden hat, daß die Verkündigung des Gesetzes bereits
innerhalb der Botschaft von der Gnade erfolgt (S. 318). Der
innere Zusammenhang von Gesetz und Leben ist somit für Calvin
„nicht nur ein moralischer, sondern auch ein promissioneller.
Darin unterscheidet sich das biblische offenbarte Gesetz von dem
der ratio" (S. 380). Weil das Gesetz im Gnadenbunde gegründet
ist und auf die kommende Welt hinweist, „ist die Gefahr Me-
lanchthons vermieden, dafj die lex naturae das offenbarte Gesetz
in sich aufnimmt" (S. 383). Calvins Ethos ist ein eschatolo-
gisches, auf die Auferstehung bezogen. Das kann zu einem derartigen
contemptus vitae praesentis führen, dafj der lutherische
Theologe einen platonischen Klang heraushört (S. 386). Aber
trotzdem, Calvin weiß von der meditatio futurae vitae, der
Oberwindung des Todes.

Und doch, Iwand sieht, wie wenig diese Auffassung von dem
göttlichen Gesetz Calvins Lehre von den beiden Reichen geprägt
hat. Die Art, wie er vom Gewissen spricht, ist gemäß Iwand der
Angelpunkt, in dem die Lehre von den beiden Reichen bei Calvin
schwingt. „Hier stoßen wir auf einmal auf Reste jener These,
dafj der natürliche Mensch im Gewissen von Gott her angesprochen
und auf ihn bezogen sei, während er erst im Evangelium
unter die Offenbarung Gottes tritt." Und deshalb spüren wir auch
bei Calvin ebenso wie bei Melanchthon die Gefahr, dafj die
Lehre von den beiden Reichen ein Nebeneinander von christlicher
Innerlichkeit und politischer Gerechtigkeit ergibt (S. 392 f.).

Dies mag genügen, obwohl diese Besprechung nur einen dürftigen
Eindruck von dem Reichtum dieser Arbeit hat vermitteln
können. Iwand gehört einer jetzt vergangenen Zeit an, meint
man vielleicht. Er war ein entschiedener Gegner der Bultmann-
schen Entmythologisierung und des ganzen Existentialismus bei
Bultmann und auch bei Gogarten. Und was nun, falls Barth richtig
sieht, wenn er meint, dafj die neueste theologische Entwicklung
zu längst überholten Fragestellungen des 19. Jahrhunderts
zurückführt? „Der Schleiermacher und der Feuerbach sind wieder
aktuell geworden", wie Barth sagt. Aber gerade dann hat
ein Denker wie Iwand etwas überaus Wichtiges zu geben. Gerade
heute ist es von äußerster Wichtigkeit, dafj ein Buch wie
das hier besprochene studiert wird.

Kopenhagen N. H. See

952

G r i n, Edmond: Theologie systemalique cn Suisse Romande.
Continuite d'une tradition. Lausanne: Payot 1966. X, 246 S.
gr. 8° = Publications de la Faculte de Theologie, Universite-
de Lausanne, IV.

Eine Geschichte der Theologie der französischen Schweiz?
Nein! Das Buch zeigt, was der Lausanner Theologe Edmond
Grin in der Verbundenheit mit der Geschichte der Kirche und
der Theologie in der Westschweiz mit der theologischen Arbeit
überhaupt erarbeitet hat. So hat er auszuführen versucht, was
der Lausanner Dekan Rene Guisan 1932 als Aufgabe ihm gezeigt
hat. Rene Guisan war kein Theologe, der in den Grenzen
einer kleinen, aber bedeutenden Heimat eingeschlossen blieb,
ein Theologe waadtländischer Prägung. Die letzten Gedanken
des Schwerkranken galten der Bekennenden Kirche in Deutschland
, der freien reformierten Synode in Barmen. März 1934 ist
er dann gestorben. Edmond Grin hat mit besonderer Liebe Alexandre
Vinet und Charles Secretan studiert. Aber nicht, weil sie
Waadtländer waren, sondern weil vor über 100 Jahren in der
waadtländischen Kirche v/irklich theologische Entscheidungen
fielen! Man denke etwa an die deutsche Parallele: das theologische
Lebenswerk Vilmars und die Hessische Renitenz. E. Grin
weifj, daß Vinet gegen zwei Fronten kämpft: gegen den Rationalismus
und gegen die neue Orthodoxie, gegen die calvinistische
Renaissance im Reveil. Vinet hat manche Züge mit Schleiermacher
gemeinsam. Er ist der Theologe einer reichen persönlichen Frömmigkeit
, einer Frömmigkeit, die um das christlich bestimmte Gewissen
kreist. Da die Auswahl der Arbeiten Grins begrenzt ist,
tritt das zurück, was für den deutschen Leser so lehrreich bei
Vinet und Secretan wäre: der Kampf gegen den Hegelianismus
und gegen die Staatskirche, die Auseinandersetzung mit dem
Sozialismus bei diesen Denkern, die den Kapitalismus ablehnten.

Von Vinet und Secretan greift E. Grin auf Calvin zurück. Die
Calvinisten im frühen 19. Jahrhundert waren keine wirklichen
Schüler Calvins. Aber ob man von Kontinuität zwischen Calvin
und Vinet reden darf, ist mir trotzdem zweifelhaft. Daß Calvin
kein Theologe der religiösen Erfahrung im Sinn des 19. und 20.
Jahrhunderts war, zeigt Grin sehr klar in seinem Aufsatz „Ex-
perience et temoignage du Saint Esprit". Es folgen Aufsätze systematischen
Inhalts. Immer ist der Blick des Theologen auf die
Lage der Gemeinde in der Welt, auf die Lage dessen gerichtet,
der dem Evangelium glaubt und Gott gehorcht. Was Grin 1938
über das Verständnis des Menschen bei Karl Barth schreibt,
würde er heute kaum mehr schreiben. Das ist der Nachteil einer
Sammlung von Aufsätzen aus verschiedenen Zeiten. Wo Vinet
zitiert wird, würde man gerne die Warnung und den Trost Kohlbrügges
vernehmen. Er hat die Versuchungen gesehen, die seinen
Vinet nahestehenden ehemaligen Freunden aus dem Reveil
verborgen blieben. Die Frage nach der Berechtigung, ja nach der
Notwendigkeit eines Totensonntags, eines Gedenktages an die
Verstorbenen beunruhigte vor über zehn Jahren viele Waadtländer
. Die Antwort des Lausanner Dogmarikers ist wichtig auch
für andere Kirchen.

Dieser Sorge um die rechte Predigt und um die rechte Entscheidung
der Glieder der Gemeinde entspricht es, wenn E. Grin
mit großer Liebe auf den Prediger und Homileten Bonhoeffer
hinweist. So erkennen wir, daß der waadtländische Theologe
nicht in einem nach außen abgeschlossenen Raum einer geistigen
und geistlichen Heimat lebt. Daß Bonhoeffer den Methodismus,
den Weg von der Angst und Zerschlagenheit durchs Gesetz zur
Freude des Evangeliums ablehnt, ist Grin wichtig. Damit hat
Grin den Sinn der reformatorischen Verkündigung verstanden 1
Umkehr in der Freude am Evangelium! Dann werden Vinet und
Bonhoeffer verglichen, Verschiedenheit und Gemeinsamkeit hervorgehoben
. Mir scheint die Verschiedenheit sehr groß zu sein,
größer als E. Grin sie zu sehen meint.

Das Buch schließt mit der Abschiedsvorlesung des Lausanner
Systematikers. Sie untersucht die Möglichkeit eines „christlichen
Systems". Melanchthon und Calvin waren, wie ihre „Dogmatiken
" zeigen, keine „Systemariker". Calvin hat im Zusammenhang
das gelehrt, was die Reformation als Tat und Werk Gottes erkannt
hatte. Orthodoxie und Aufklärung sind dem Systemdenken

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 12