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Ausgabe:

1967

Spalte:

857-859

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Atlas der deutschen Volkskunde 1967

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Im ganzen ein Dokument pastoraler Weisheit (z. B. in den
Anweisungen zur Handhabung der Disziplin) und vorsichtiger
Öffnung nach vorn. Wenn man selbst jahrelang an der Aus*
bildung künftiger evangelischer Pfarrer beteiligt ist und die
Intellektualisierung, Individualisierung und die mangelnde
kirchliche Verbindlichkeit unseres Studienbetriebs kennt, sieht
man mit ein bißchen heimlichem Neid auf die Einheit von gediegener
wissenschaftlicher Ausbildung und überlegter geistlicher
Formung, wie das Dekret sie anstrebt. Andererseits wird
man freilich das Gefühl nicht los: es werde hier zu bewußt
versucht zu prägen; zu groß sei die Abschirmung der künftigen
Priester vor der Zugluft der Welt; zu fest nehme die
Kirche hier an die Hand. Ob dies nur ein typisch „protestantisches
" Gefühl ist oder vielleicht doch noch etwas mehr, könnten
nur die Kandidaten der Priesterseminare selbst beantworten.
Eine gute Mutter läßt doch ihre erwachsenen Söhne los?

Der Anhang dieses Buches (S. 130-163) enthält die wichtigsten
Abschnitte aus dem Dekret „Über Dienst und Leben der
Priester", das im engsten sachlichen Zusammenhang mit dem
Dekret über die Ausbildung steht.

Leipzig Warner Kruich«

RELIGIÖSE VOLKSKUNDE

Zender, Mattjiias: Atlas der deutschen Volkskunde. Neue
Folge. Auf Grund der von 1929 bis 1935 durchgeführten
Sammlungen im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft
hrsg. Lfg. 3. Karte 25-36. 70*80cm. DM 36.-. Erläuterungen
zur 3. Lfg. S. 529-752. Abb. 62-95. 4°. DM 22.50.
dasselbe Lfg. 4,1, hrsg. in Zusammenarb. m. G. G rober-
Glück u. G. Wiegelmann. Karte 37-42. 70>80 cm. DM 36.-.
Erläuterungen zur Lfg. 4,1. II, 223 S„ 28 Abb. 4°. DM 22.-.
Marburg: Elwert 1964/66.
In zwei voraufgehenden Besprechungen (ThLZ 1960 Sp. 34
u. 1965 Sp. 537) haben wir gesagt, daß die Aufmerksamkeit
der Theologen gefordert sei. Wir wiederholen es, mit womöglich
noch größerem Nachdruck.

Die dritte Lieferung, die den ersten Band beschließt, behandelt
drei Themen: Das Totenmahl (anschließend an die beiden
voraufgegangenen Beiträge zu Grabbeigaben und Totenfest),
häusliche Gemeinschaftsarbeiten (Verarbeitung von Obst, Gemüse
und Feldfrüchten, Federnschleißen, Spinnen, Flachsbereitung
, Dreschen), Brauchtum bei der Taufe. Wir verweilen beim
letzten Thema, weil es zur Aufgabe der Theologie in unmittelbarer
Beziehung steht. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens
ist s. Z. den geplanten Aufsatz über die Taufe schuldig
geblieben. Die so bedauerliche wie ärgerliche Lücke ist
durch den gewichtigen Kommentarbeitrag von Lothar Martin
(S. 673-752) jetzt weitgehend geschlossen. Wie immer steuert
der Kommentar zu den Atlaskarten Nebenkarten bei; sie werden
Abbildungen genannt, um bei Zitierungen und Verweisen
Verwechslungen zu vermeiden. Weil sie der schnellen Orientierung
dienen, seien ihre Themen genannt: Zeitpunkt der Taufe
(Abb. 88f), ihr Ort (90), zur Taufe Unehelicher (91), Teilnahme
der Mutter (92), Bezeichnungen der weltlichen Nachfeier (93),
Tauf schmaus in Siebenbürgen und Bessarabien (94f). Auf den
drei Atlaskarten (34d-36) sind die mannigfachen Bezeichnungen
des Taufschmauses durch Symbole eingetragen. Auf den
ersten Blick wird deutlich, daß das nördliche Deutschland erheblich
ärmer an Variationen und darum einheitlicher im
Sprachgebrauch ist. Wichtiger für uns ist der Kommentar, der
bedeutsame große Exkurse bringt, die meist im allzu knappen
Inhaltsverzeichnis gar nicht genannt sind (und darum zum
Schaden der Sache leicht übersehen werden könnten: Zur Geschichte
der Tauftermine (687-694), Kirche. Schule, Pfarrhaus
als Ort der Taufe (694-696), Haustaufe (697-704), neuere Entwicklungen
der Taufsitte (704f), Teilnahme der Mutter an der
kirchlichen Feier (706-711). In Zukunft wird kein Mitarbeiter
der religiösen Volkskunde an diesen Ausführungen vorbeigehen
können. Was zur Geschichte der Tauftermine zusammengetragen
ist, übertrifft die Angaben der uns bekannten

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liturgischen Lehrbücher. Allein die aus der reichen Heranziehung
der kirchlichen Taufregister gewonnenen Daten sind höchst
dankenswert. Zur Geschichte der mittelalterlichen Entwicklung
möchten wir zu bedenken geben, ob die altkirchlichen Tauftermine
der großen Festtage wirklich beachtet sind, obwohl
Partikularsynoden bis ins 16. Jahrhundert und das Rituale
Romanum von 1614 es forderten. Bisher ist wohl bei dieser
Frage niemals die Geschichte der Pfarrei herangezogen worden.
Sie zeigt, daß die Stadt, besonders die Bischofsstadt, die Paro-
chialteilung nur sehr zögernd mitgemacht hat, nachdem sie
auf dem platten Lande sich seit Karl d. G. durchgesetzt hatte.
Parochialrecht aber ist primär Taufrecht, das nicht dezentrali-
stisch verliehen werden brauchte, wenn nur an drei festen Terminen
die Taufen vollzogen wären, abgesehen von Notfällen,
in denen ja auch das Taufrecht der Laien feststand. Die Rundreise
des Bischofs oder seines Beauftragten hätte genügt. Gerade
die Volkskunde sollte vermerken, daß in der Frage des
Taufrechtes sich Stadt und Land verschieden entwickelt haben.
Das Land hat in der Parochialbildung und damit grundlegend
in der Ausübung des Taufrechtes die Stadt überholt, die oft
genug bis ins hohe Mittelalter dabei blieb, daß nur im bischöflichen
Baptisterium und nur zu den alten kanonischen Zeiten
getauft werden dürfte.1 Dem werden auch die Beschlüsse der
Provinzialsynoden (z. B. Köln 1549) Ausdruck geben; sie hinken
wohl weit hinter der Entwicklung her, in der die Dorfpfarreien
vorangegangen sein dürften. Den Gründen des Taufaufschubs
in der Neuzeit wird nüchtern nachgegangen (Industrialisierung
mit Fesselung des Arbeiters an Zeit und Platz,
Wandlungen der Kirchlichkeit, Ausgestaltung zum Familienfest,
Rücksicht auf die Gesundheit des Kindes). Von den reichen,
geschichtlichen Ausführungen gilt, daß sie keinen unmittelbaren
Zusammenhang mit dem volkskundlichen Fragebogen
haben, also echte Exkurse sind, für welche gerade die Theologen
dankbar sein werden. Das gilt auch für die Ausführungen
über Schule und Pfarrhaus als Ort der Taufe und über die
Haustaufe. Nach der instruktiven Abbildung 90 kommen Haus-
taufen geballt in Schleswig-Holstein und Teilen von Hessen
vor, Taufen in Schule und Pfarrhaus am meisten in Mecklenburg
und im Abstand von ihm im Alpengebiet. Unter „Neuere
Entwicklungen" lernen wir die Gegenbewegung - zurück zur
Taufe in der Kirche - kennen. Aufschlußreich ist auch die Mitteilung
, daß in katholischen Gegenden die Taufe in den Entbindungsheimen
zur Regel zu werden und die Kirchentaufe zu
verdrängen scheint. Die Teilnahme der Mutter an der Kirchentaufe
hatte sich 1932 - Jahr des Fragebogens! - landschaftlich
ungleich durchgesetzt. ,Die ikirchenkundlicho Bedeutung alles
Genannten bedarf keiner besonderen Hervorhebung. Die weltliche
Nachfeier, die buntfarbig vor unsern Augen erscheint,
übergehen wir hier. Zu bedauern bleibt, daß L. Martin über
die Taufe als theologisches Problem mangelhaft unterrichtet ist.
Es muß ihm gesagt werden, daß für den Protestantismus genau
so wie für den Katholizismus die Taufe Sakrament ist; sonst
würde sie nicht von den Kirchen gegenseitig anerkannt, sondern
wiederholt werden. Die lutherische Lehre wenigstens behauptet
energisch die Heilsnotwendigkeit der Taufe. Es fällt
auf, daß Martin die katholische theologische Literatur bevorzugt
. Die RGG nach der zweiten Auflage zu zitieren, ist heute
nicht mehr statthaft. - Der Kommentarband erreicht den stattlichen
Umfang von 752 Seiten.

Der zweite Band beginnt mit den gewichtigen Beiträgen
„Zweites Gesicht und Wahrsagekunst", „Aufhocker und Aufhocken
", beide bearbeitet von Gerda Grober-Glück. Für uns
hat das erste Thema das größere Interesse. Das Phänomen
„Zweites Gesicht" ist bereits viel verhandelt; auf S. 4f findet
man erfreulich reichhaltige Literaturangaben, gegliedert nach
psychologischen (einschließlich eidetischen), parapsychologischen,
volks- und sagenkundlichen Gesichtspunkten. Wer weitere Literatur
sucht, sei auf G. F. Hartlaub, Das Unerklärliche, 1951,
verwiesen. Besonders hilfreich scheint sich die Vorarbeit von
W. E. Peuckert im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens
(VIII 1695ff) erwiesen zu haben. Im Zweiten Gesicht han-

) Vgl. jetzt G. Holtz, Die Porochie. 1967, S. 8-19.

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 11