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Ausgabe:

1967

Spalte:

852-853

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Norden, Günther van

Titel/Untertitel:

Kirche in der Krise 1967

Rezensent:

Meier, Kurt

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Seite 1, Seite 2

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denz seiner Gedankenwelt stößt kaum noch auf ein Echo. Die
Zeit ist wilder, brutaler, „existentieller" geworden. Um so dankenswerter
ist es, daß Leben, Wirken und Werk dieses Mannes
eine zusammenfassende wie auch analysierende Darstellung gefunden
haben.

Mattmüllers Buch, das aus einer Baseler Dissertation hervorgegangen
ist, gliedert sich in zwei große Teile: einen genetischbiographischen
und einen systematischen.

Zum äußeren Lebensgang: Carl Hilty, der als Sohn eines
Arztes in Chur zur Welt kam, studierte nach dem Schulbesuch
in Göttingen und Heidelberg Jura und lief} sich zunächst in
seinem Geburtsort als Advokat nieder. Als 40jähriger wurde er
als Professor für Staatsrecht an die Universität Bern berufen,
wo er bis zu seinem Tode wirkte. Als Politiker dem Freisinn
zugehörend (Radikal-demokratische Gruppe), wurde er in den
Nationalrat gewählt und vom Bundesrat als Rechtsberater herangezogen
. Für sein starkes Interesse am öffentlichen Leben
sprach auch das von ihm herausgegebene Politische Jahrbuch,
in dem er selber mit einer Reihe bemerkenswerter Aufsätze
(u. a. einem über „Ferdinand Lassalle und Thomas von Aquino")
vertreten war.

Überhaupt ist seine berufliche Tätigkeit sein ganzes Leben hindurch
von einer regen schriftsstellerischen Tätigkeit begleitet
gewesen, durch die er über seine engere Heimat hinaus weithin
bekannt geworden ist. Das eingangs genannte 3teilige Buch
.Glück" ist geradezu zu einem der beliebtesten Lesebücher geworden
.

Aber worin bestand die Breitenwirkung, die Hilty, mindestens
bis zur Schwelle des 1. Weltkrieges, erreichte?

Er war - das kommt auch bei Mattmüller sehr gut heraus -
ein Erbe der Goethezeit. Aber dieser damit zusammenhängende
Idealismus wurde schrittweise temperiert durch einen Realismus,
der ihn vor einer romantischen Idylle bewahrte, aber auch die
Grenzen zu dem Materialismus der Zeit ziehen ließ. Er ist in
seinen jüngeren Jahren durch eine Reihe innerer Kämpfe und
Wandlungen gegangen, die ihn allmählich zu einer Reife von
Welt- und Lebensanschauung emporführten. Er war keine robuste
Kämpfernatur und frei von aller doktrinären Verhärtung.
Das betrifft nicht zuletzt seine Stellung zum Christentum. Dieses
ist ihm „im Wesentlichen keine Theorie, die man erlernen oder
gar die Unmündigen auswendig lernen lassen kann, sondern
eine Lebenserfahrung, die man selbst erproben kann und muß".
Dazu trat für ihn auch die Gotteserfahrung in der Geschichte.
Beide: die individuelle persönliche Führung und das Wissen
um Gottes Dasein in der Geschichte machten seine Glaubensüberzeugungen
aus. Es war ein Erfahrungsglaube, der richtig als
Nachklang zur Erweckungstheologie charakterisiert worden ist.
Tholuck und Rothe sind von Hilty oft zitiert worden. Das für
heutige Ohren so ominöse Wort „Glück", das den Titel seines
Hauptwerkes bildet, hängt mit dieser religiösen Erfahrung zusammen
. Man darf „glücklich" sein, wenn man der persönlichen
Führung Gottes gewifj geworden ist. Wenn Hilty frei ist von
jeder christologischen Fixierung des Glaubens, so war es doch
seine feste Überzeugung, daß nur die Rückkehr zum Worte
Christi uns an die Quelle bringt. Hilty war kein systematischer
Denker, deshalb darf man aus seinen Schriften, in denen immer
wieder vom Glauben die Rede ist, keine theologische Lehre
suchen. Das Leben und die Erfahrungen mit Gott, dem Lebendigen
, standen ihm höher als alle theologischen Formulierungen
. Dieser gläubige Optimismus konnte sich nun auch mit
allem Schönen und Guten in der Welt verbinden. Man wird
auf Hilty das Wort „Kulturprotestantismus" nicht anwenden
dürfen. Aber er konnte zur Dichtung und Kunst mit ganzem
Herzen Ja sagen, wenn sie „das Glück" des Glaubens nicht erdrückten
. Seine Urteile über einzelne Dichter, Künstler und
Musiker wird man heute noch weniger als schon zu seiner
Zeit teilen. Aber sie gehören zum Ganzen seiner Gedankenwelt.
Obwohl er im Grunde seines Wesens ein liberaler Mensch war,
politisch überzeugter Republikaner, besafj sein demokratisches

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Bekenntnis doch einen recht konservativen Grundzug. Man
spürt das nicht nur in seiner Haltung zum Sozialismus, den er
durchaus zu verstehen sucht, allerdings den Materialismus und
Atheismus, wie natürlich die Ideologie, ablehnt, man spürt das
auch in seinen vielen Urteilen über den Geist der Zeit, vor allem
in Technik und Wirtschaft. In dieser vielfächerigen Christlichkeit
, die nicht im imperativen Stil eines Sic et Non auftrat
und doch geistig-seelische Wärme und Überzeugung ausstrahlte,
hat Hilty auf zahllose Christen seiner Zeit gewirkt.

Mattmüller hat das in seinem Buch sehr klar und überzeugend
dargestellt, besonders dadurch, dafj er Hilty selber reden liefj.
Die Auswertung des ungedruckten Materials ist hier besonders
hevorzuheben. Carl Hilty war der Typ einer besonderen Art
des christlichen Spätbürgertums, das im Ausgang des vorigen
Jahrhunderts - meist abseits der verfafjten Großkirchen - eine
stille Blüte erlebte, aber in den Wirren unseres Jahrhunderts
wohl endgültig vergangen ist. So gibt das Buch von Matt-
müller ein historisches Zeitbild, wie wohl noch manches andere
gezeichnet zu werden verdient.

Berlin Karl Kuplsch

Norden, Günther van: Kirche in der Krise. Die Stellung der

evangelischen Kirchen zum nationalsozialistischen Staat im

Jahre 1933. Düsseldorf: Presseverband der Ev. Kirche im
Rheinland [1963). 211 S. 8°. Lw. DM 14.80.

Mit diesem Buch legt der Verfasser - Professor an der Pädagogischen
Hochschule in Wuppertal - zu einem speziellen
Thema kirchlicher Zeitgeschichte (siehe Untertitel!) eine Untersuchung
vor, die aus einer Promotionsschrift (Phil. Fak., Köln
1956) hervorgegangen ist. In bewußter Begrenzung, „lediglich
. . . die politische Stellung der Kirche im Jahre 1933 deutlich
zu machen" (10), verzichtet er darauf, eine Kirchengeschichte
des Jahres 1933 zu schreiben, die - wie mit Recht betont
wird - die auch heute noch keineswegs abgeschlossene territoriale
Kirchenkampfgeschichtsschreibung zur Voraussetzung
haben müßte. Verf. könnte überdies geltend machen, dafj selbst
bisherige Gesamtdarstellungen des Kirchenkampfes nur recht
sparsam und regional bedingt landeskirchliche Spezifika zur
Sprache bringen und sich vielmehr (bes. für 1933) mit dem
Aufweis der kirchlichen Auseinandersetzungen auf Reichsebene
begnügen. Dieses Bild des dramatischen Verlaufs des Kirchenstreits
im Jahre 1933 (bis zur Audienz der Kirchenführer bei
Hitler Ende Januar 1934) entwirft der Verf. als konkreten Hintergrund
und Voraussetzung seiner Intention, Überzeugungen
und Motive zu erhellen, die kirchliche Gruppen und Persönlichkeiten
in ihrer Haltung zum Nationalsozialismus bestimmten.

Die knappe Vorgeschichte („Die Stellung der ev. Kirche im
Weimarer Staat") ergibt: einer „distanzierten Loyalität" der ev.
Kirche entsprach ein Hang zum Konservativismus. Die „nationale
", „vaterländische" Gesinnung hat nach 1930 trotz betonter
parteipolitischer Neutralität eine zunehmende Aufgeschlossenheit
für den Nationalsozialismus erzeugen helfen, der sich „als
d i e eigentlich nationale Bewegung hinstellte" (20). Für den
auffälligen religionspolitischen Kurswechsel der NSDAP damals
hätte es vielleicht eines Hinweises bedurft, dafj der Nationalsozialismus
die Regierung Brüning nur durch stärkere Betonung
des „positiven Christentums" in der Propaganda wirksam
bekämpfen und überdies die katholischen Hirtenbriefe (1930/31),
die vor der NSDAP warnten, in ihrer Auswirkung auf den
katholischen Bevölkerungsteil abschwächen konnte. Die Bedenken
und Vorbehalte im evangelischen Raum gegenüber der
NS-Partei zu Anfang der dreißiger Jahre wurden - wie der
Verf. klar hervorhebt - relativiert, weil man - übigens auch
in liberalen Kreisen! - zwischen dem Nationalsozialismus als
„Idee" und als „Partei" zu differenzieren versuchte und zunehmend
auch die NSDAP selbst nicht mehr als „Partei" und ihren
Kampf nicht im Sinne der kirchlich verpönten „Parteipolitik"
verstand. Zudem haben ja angesichts des sukzessiven Rückgangs
der anderen Rechtsparteien (bes. der Dcutschnationalcn)
die Nationalsozialisten sich immer mehr als die dominierende

Theologische Literaturzcilung 92. Jahrgang 1967 Nr. 11