Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1967

Spalte:

841-843

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Oberman, Heiko Augustinus

Titel/Untertitel:

Der Herbst der mittelalterlichen Theologie 1967

Rezensent:

Hägglund, Bengt

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

841

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 11

842

anscheinend entgangen ist, nicht das entscheidende Anliegen
der bonaventurianischen Gewisscnslehre, der man heute mehr
gerecht wird (vgl. N. K r a u t w i g, Wesen und Aufgabe des
Gewissens, in: Lebendiges Zeugnis 1957, IV, 9-30). Zu begrüßen
ist sehr, da5 sich der Verf. auch mit der Literatur auseinandersetzt
, die nicht immer leichte Argumentation Bonaventuras
sachkundig in schematischen Darstellungen veranschaulicht
und am Ende seines Buches eine Liste der einschlägigen Bonaventuratexte
, auch der nicht abgedruckten, beifügt (115-120);
dafj er jedoch das gesamte aszetisch-mystische Schrifttum Bonaventuras
(Opera omnia VIII) nicht berücksichtigt und dafj er
sich ferner recht häufig auf die „fundamenta" zu Beginn der
Quästionen, die den Stand der Frage, nicht aber Bonaventuras
Meinung enthalten, stützt, sind allerdings schwere methodische
Mängel, gegenüber denen das Fehlen eines dem Benutzer stets
nützlichen Personen- und Sachregisters und das gerüttelte Maß
an Druckfehlern nicht ins Gewicht fallen.

Mönchengladbach Sophronius C I a s e n OFM

O b e r m a n, Heiko Augustinus, Prof. Dr. theol. Spätscholastik
und Reformation. I: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie
. Obers, v. M. Rumscheid u. H. Kampen. Zürich:
EVZ-Vcrlag [1965]. XVI, 423 S., 1 Taf. gr. 8°. Lw. DM 45.-.

Das groß angelegte Werk von Professor Oberman, dessen
erster Band jetzt auch in dieser deutschen Übersetzung vorliegt
, ist als eine umfassende Theologiegeschichte der Zeit vom
Nominalismus bis zur Gegenreformation geplant. Die zwei weiteren
Bände werden „Luther und die Theologie des Spätmittel-
alters" und „Die Gegenreformation und die Theologie des Spät-
mittclalters" behandeln.

Der englische Titel des vorliegenden ersten Bandes lautet
„The Harvest of Medieval Theology". „Harvest" bedeutet eigentlich
„Erntezeit", und das ist für das Gesamtbild des Verfassers
kennzeichnend. „Herbst" ist in diesem Zusammenhang zweideutig
, es konnte auf Verfall, abnehmende Blüte deuten. In „har-
vest" liegt auch etwas von »Höhepunkt", „Kulmination". Das ist
auch, was der Verfasser betonen will gegenüber traditionellen
Vorstellungen vom Nominalismus als einer Verfallserscheinung.

Diese Vcrfallsidec ist sowohl auf katholischer als auf protestantischer
Seite beliebt gewesen: in einem Falle hat man die
Reformation als ein Ergebnis des Verfalls, in anderem Falle als
die berechtigte Reaktion dagegen dargestellt.

Die umfassenden Forschungen Obermans wie auch andere
neuere Beiträge zur Geschichte des Mittelalters zeigen, wie viel
komplizierter das Bild eigentlich ist. Der Nominalismus war
weder in der Philosophie noch in der Theologie eine Verfallsperiode
, hat im Gegenteil Leistungen höchsten Ranges hervorgebracht
. Auch die Vorstellung, dafj der Nominalismus kirchlich
gesehen „unkatholisch" sei, lehnt Oberman ab. Er weist z. B.
darauf hin, dafj Occams Philosophie nie kirchlich verurteilt
wurde (daß einige Sätze beanstandet wurden, ist in diesem
Zusammenhang ohne Bedeutung; dasselbe geschah, wie bekannt,
auch mit Thomas von Aquin). Die „via moderna" war in der
Tat nicht nur geduldet, sondern genoß allgemeines Vertrauen
auf vielen Universitäten.

Vor einigen Jahren erschien die grofje Untersuchung von
Leif Grane über Gabriel Biels Theologie (Contra Gabrielem,
Kopenhagen 1962). Da sie mit der englischen Ausgabe von
Obermans Arbeit ungefähr gleichzeitig war, sind die beiden
Darstellungen von einander unabhängig. Es wäre natürlich vorteilhaft
gewesen, wenn die deutsche Ausgabe auch die Arbeit
Granes berücksichtigt hätte. Da dies nicht geschehen ist, ist
die heutige Lage, dag wir zwei parallele Untersuchungen über
Biels Theologie haben. Das ist an sich für die Forschung wertvoll
. Die Ergebnisse sind aber nicht leicht zu überblicken, und
es wäre eine nützliche Aufgabe, die bisherigen Untersuchungen
zusammenzufassen und u. a. für die Lutherforschung in höherem
Grade zugänglich oder verwendbar zu machen.

Während die Arbeit von Grane sich auf die theologischanthropologischen
Teile des Collectoriums beschränkt, gibt

Oberman ein Gesamtbild der Theologie Biels, das sich nicht
nur auf das Collectorium stützt, sondern auf die gesamte Produktion
Biels, auch auf seine Expositio missae und seine Predigten
. Von den Predigten sagt der Verfasser sogar, daß man
ihnen die gleiche Aufmerksamkeit wie seinen rein akademischen
Werken widmen muß, wenn man den religiösen Gehalt seines
dogmatischen Denkens bewerten will (vgl. S. 35 u. 55). - Wenn
das Collectorium das wichtige und einflußreiche Werk ist, das
man sich gewöhnlich vorstellt, scheint es fraglich, ob man die
Predigten Biels - die eventuell ziemlich traditionell sein kön7
nen - als eine so entscheidende Instanz neben oder gegen das
Collectorium stellen kann.

Die reiche Benutzung der Predigten hängt damit zusammen,
daß der Verfasser ein Gesamtbild der Theologie Biels geben
will, nicht nur eine Analyse einzelner Gedankengänge in seiner
Lehrtätigkeit. Eine kurze Obersicht über den Inhalt kann vielleicht
einen Eindruck davon vermitteln, wie viele und verschiedenartige
Fragen in dieser Arbeit behandelt werden:

Nach einem auf gründlichen Quellenstudien aufgebauten Curri-
culum vitae Gabrielis führt uns der Verfasser im 2. Kapitel in
die Dialektik von potentia absoluta - potentia ordinata ein.
Hier wie in anderen Fragen geht er ausführlich auf die frühere
Forschung ein, oft mit kritischer Beurteilung. Ein anderer Begriff
, der in diesem Abschnitt erörtert wird, ist „ex puris natnra-
libus." Da Biel den natürlichen menschlichen Fähigkeiten auf
dem geistigen Gebiet viel mehr Vertrauen schenkt als es z. P
Gregor von Rimini tut, scheint es nicht unberechtigt, ihm einen
gewissen Naturalismus zuzuschreiben. Der Umstand, daß auch
in den „naturalibus" ein göttlicher coneursus vorliegt, ändert
dieses Urteil nicht, da Biel diese „influentia generalis" von einem
Einfluß der gratia creata unterscheidet.

Das dritte Kapitel ist der wichtigen Frage vom Verhältnis
zwischen Glauben und Verstehen, Philosophie und Theologie
gewidmet. Hier wird auch der Glaubensbegriff, fides acquisita
und fides infusa, behandelt. Nach einer Erörterung der Stellung
des Naturrechtes und des Verhältnisses zwischen Gesetz und
Evangelium kommt der Verfasser (im 4. Kapitel) zu den zentralen
soteriologischen (Fragen, die von Carl IFeckes und Leif
Grane behandelt wurden und auch bei einem Vergleich mit
Luther im Zentrum des Interesses stehen (Kap. 5, 6 und 7).

Die Christologie und Abendmahlslehre (Kap. 8), die früher
nur wenig behandelt sind, werden untersucht, und noch ausführlicher
das früher nicht betretene Feld der Mariologie bei
Gabriel Biel (Kap. 9). Biel verteidigt sowohl „die unbefleckte
Empfängnis" wie auch „die leibliche Himmelfahrt", Ideen die zu
dieser Zeit unter den römischen Theologen noch nicht festgelegt
waren.

Im 10. Kapitel begegnet uns eine nuancierte Darstellung vom
Verhältnis des Nominalismus zur Mystik. Ein Abschnitt über
Johannes Gerson wird hier eingefügt. Der Verfasser zeigt, daß
man nur, wenn man „Mystik" als spekulative Mystik im Gegensatz
zur affektiven versteht, von einer Art Mystik im Nominalismus
reden kann. Hier ist auch wichtig, welche Quellen verwendet
werden. Der Verfasser weist noch einmal auf Biels Predigten
hin: „Nur auf Grund seiner Predigten und seiner Cano-
nis misse expositio kann man verstehen, daß solche Begriffe wie
contritio und ex opere operantis für Biel einen mystischen Nebensinn
haben".

Schrift, Tradition und Kirche ist das Thema des letzten Kapitels
. Damit wird auch der Hintergrund gegeben für den Vergleich
, mit Luther, den der Verfasser für Band II reserviert hat.

Ein ausführliches Referat würde hier zu weit führen. Statt
dessen beschränke ich mich auf einige wenige Punkte, an denen
ich auch eine Frage oder eine kritische Bemerkung zu
machen habe.

Die im Nominalismus wichtige und vom Verf. mit Recht ins
Zentrum gestellte Distinktion „de potentia absoluta" - „de potentia
ordinata" wird im Anschluß an Biel in folgender Weise
definiert (S. 37f.): „Der Unterschied soll aber so aufgefaßt wer-