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Ausgabe:

1967

Spalte:

792-794

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Voigt, Gottfried

Titel/Untertitel:

Die neue Kreatur 1967

Rezensent:

Waetzel, Paul

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der Ethik befaßt; zusammen mit den beiden folgenden Artikeln
„Die Oberwindung des Persönlichkeitsideals" (einer eindrucksvollen
Abrechnung mit Grundbegriffen des spätbürgerlichen
Zeitalters) und der kurzen aber wichtigen skeptischen Verhandlung
der Frage „Ist eine Wissenschaft von den Werten möglich?"
handelt es sich praktisch um alles, was Tillich zur Frage der
Ethik geschrieben hat. Diese Äußerungen sind nun, wie mir
scheint, nicht nur von sachlichem Gewicht, sondern überdies von
aller wünschenswerten Klarheit. Tillich vertritt die These, daß
alles moralische Handeln religiös begründet ist; denn es ist ohne
den „unbedingten" Imperativ nicht denkbar, und das bedeutet
bei Tillich sofort eine religiöse Kategorie. Sittliches Handeln
setzt ein „Sein" voraus - agere sequitur esse - und das Christentum
verkündigt und bedeutet ja das „neue Sein". Das ist
aber wiederum nicht so zu verstehen, als ob erst ausdrücklich
„religiöse" Forderungen, die sich auf „göttliche Gebote" berufen
können, die Ethik zu ihrem religiösen Fundament verhelfen
würden, sondern es gilt für jede denkbare Ethik, die den Namen
verdient. „Der Wille Gottes ist für uns unser essentielles
Sein mit all seinen Potentialitäten". In der Durchführung dieser
Grundgedanken kommt es dann auch zu überraschenden unmißverständlichen
Aussagen anderer Art. Das „Ziel" des sittlichen
Handelns ist die Eudämonia, die in der „ewigen Seligkeit
", in der fruitio Dei, im Bewußtsein der „Erfüllung" ihre
christlichen Namen hat. Tillich bekennt sich auch, gewiß nicht
ungeschützt, aber doch unbekümmert, zur Idee des Naturrechtes,
und er blickt der Spannung zwischen der Relativität und der
Absolutheit der Sittlichkeit nüchtern ins Auge. „Christlich" ist an
diesen Gedanken nicht, daß aus dem Evangelium noch eine entscheidende
Zutat, wenn ich mich so ausdrücken darf, nötig wäre,
um das Religiöse vollständig und einleuchtend zu machen, sondern
das Christliche ist die Wahrheit des Natürlichen. Das
kommt in Sätzen zutage, die man ebenso theologisch wie im
Sinne der praktischen Vernunft interpretieren kann: die Idee
der Gerechtigkeit bedeutet die Bejahung einer jeden Person als
Person; die Liebe, die die Gerechtigkeit in sich einbezieht, ist
das letzte Prinzip der moralischen Gebote; die christliche Lehre
von der Gegenwart des Geistes deutet am besten, was mit dem
„neuen Sein" gemeint ist. Allenthalben - wie ich das in einer
Besprechung nur andeuten kann - kommen die alten klassischen
Fragen der Ethik ans Licht, aber doch ganz und gar in einem
modernen Konzept und in einer möglichst „vernünftigen" Beantwortung
.

Das Moderne scheint mir darin zu liegen, daß sowohl die
Probleme des normenlosen Relativismus als auch eines gnadenlosen
Legalismus, das eine in Konsequenz eines bestimmten
„Wissenschafts'-begriffes, das andere im Fundamentalismus, für
Tillich unmittelbar bedrängend sind. Freud und seine Konsequenzen
sind hier auch ganz anders ernst genommen, als es
zum mindesten in Deutschland bei den Verhandlungen ethischer
Fragen üblich ist.

Auch in diesem Bande ist die nüchterne Selbstverständlichkeit
wohltuend, in der Tillich etwa von der „Religion", von der
„Kultur" spricht, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob das in
die Sprachregelung der heutigen Theologie paßt. Ja, man empfindet
geradezu den Zwang der Nomenklatur, dem man ständig
ausgesetzt ist, wenn man hier endlich einmal erfährt, wie es ist,
wenn einer unbeschwert und ohne Seitenblicke von dem spricht,
was ansteht. Der vorliegende Band ist der erste, der nach Tillichs
Tod erschienen ist. Aber er weist nicht rückwärts, sondern repräsentiert
Tillich als Gegenwärtigen.

Göttingen W. T r i I I h a o s

Sc ho eck, Helmut: Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft.
Freiburg-München: Alber [1966). 432 S. 8°. Lw. DM 32.-.

Vor etwa 250 Jahren wurde in London eine Flugschrift verteilt
, die ein Arzt und Philosoph Bernard de Mandeville verfaßt
hatte. Sie trug den Titel „Der summende Bienenkorb oder
die gebesserten und ehrlich gewordenen Schelme". Der Untertitel
dieser Fabel lautete: Private Laster, öffentliches Wohl. Am
Leben eines Bienenvolkes wurde dargetan, daß das öffentliche

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Wohl eines Gemeinwesens wurzelt in den Untugenden des Einzelnen
, in den Begierden, in Eitelkeit und im Neid. Schafft man
diese Untugenden aus der Welt, so endet damit auch der Wohlstand
der Gesellschaft. An diese Fabel wird man erinnert, wenn
man Schoecks Theorie der Gesellschaft zur Hand nimmt und
hier erfährt, daß die eigentliche Triebfeder gesellschaftlichen Daseins
und Lebens allein und ausschließlich der Neid ist. - Um
diese These zu erhärten, werden nun alle Lebensbereiche ausgewertet
. Überall erscheint der Neid als eigentliches Motiv. Wir
zählen nur einige Bereiche dazu auf. Der Neid steckt hinter dem
Hexenwahn, hinter dem Lsbensgefühl der Entwicklungsländer.
Der Neid erscheint als tiefenpsychologisches Motiv bei Sigmund
Freud, als Futter-Neid im Schimpansenkäfig und auf dem Hühnerhof
. Eine ganze Liste von Morden angefangen mit dem
Kennedy-Mord wird mit dem Neid erhellt. Der Neid tritt als
Götterneid in der Orestie, in der griechischen Mythologie auf.
In Dichtung und Literatur wird das Neid-Motiv nachgewiesen.
Die Rolle des Neides bei Aristoteles, Kant, Schopenhauer, Kierkegaard
, Nietzsche, Max Scheler und Nicolai Hartmann wird dargetan
. Der Zusammenhang zwischen Neid und Einkommensteuer
-Progression wird aufgedeckt. Wenn es nicht immer gelingt
, das Neid-Motiv eindeutig aufzuzeigen, so etwa im Bereich
der Sozialwissenschaften oder der Dichtung, dann begründet
es Schoeck mit einem „blinden Fleck" der hier in Frage
kommenden Autoren. Den Theologen wird der Aufweis des Neid-
Motives in der Ethik des Neuen Testamentes (S. 149/150) interessieren
. Das Neue Testament spricht fast immer zu den neidischen
Menschen. Und es war die geschichtliche Leistung der
christlichen Ethik, diesen Neid gebändigt und dadurch die schöpferischen
Kräfte des Menschen freigesetzt zu haben. So lehrt
das Neue Testament die Überwindung des Neides. Bei aller Würdigung
des großen Materialaufwandes, ja gerade wegen dieses
Aufwandes stellt sich ein Unbehagen ein, daß hier mit einer
eklektizistischen Technik das ganze Leben in die Neid-Optik
eingefangen werden soll. Und gerade der Theologe, der bei diesem
Verfahren mit angesprochen ist, wird seine großen Fragezeichen
aufrichten müssen.

Befinden wir uns mit dem Neid-Motiv wirklich an der Wurzel
der Sache oder nur im Vorfeld der Dinge? - Steckt nicht
hinter dem Neid und dann auch hinter der Eitelkeit und allen
Begierden das, was Luther einmal in seiner Römerbrief-Vorlesung
mit dem „Incurvatum et inflexum in se" bezeichnet hat? -
Hier müßte also tiefer gelotet werden, um aus einer Neid-Verengung
der Optik herauszukommen.

Berlin Otto Dilschneider

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Voigt, Gottfried: Die neue Kreatur. Homiletische Auslegung
der Predigttexte der Reihe VI. I: Advent bis Pfingsten. 203 S.
II: Trinitatis bis Letzter Sonntag des Kirchenjahres. V, S. 204
bis 368. Berlin: Evang. Verlagsanstalt u. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht [1965/66].

Es ist für die evangelische Kirche ein reicher Zuwachs, daß
sie seit einigen Jahren über 6 Reihen von Predigttexten verfügt
(Ordnung der Predigttexte, herausgegeben von der Lutherischen
Liturgischen Konferenz Deutschlands, Berlin 1958, zusätzlich
einer Fülle von Marginaltexten. Noch wird einige Zeit vergehen,
bis sie diese Reihen in ihrer Predigtpraxis genügend erprobt
hat. Es liegen für alle Texte auch schon Predigtmeditationen der
verschiedensten Verfasser vor. Den richtigen Eindruck von der
Brauchbarkeit der hinzugekommenen Textreihen wird man am
ehesten gewinnen, wenn jeweils ein einzelner Verfasser sich eine
der neuen Reihen geschlossen zur Bearbeitung vornimmt. Dann
darf man hoffen, der Konturiertheit der Texte anders inne zu
werden, als wenn bei der Bearbeitung durch verschiedene Verfasser
jeweils die eigene Ausgangsposition zusätzliche Varianten
subjektiver Art in die Beurteilung der Perikopen hineinträgt

Eine einhellige Beurteilung einer geschlossenen Reihe, der
sechsten, liegt in den beiden Meditationsbänden „Die neue Krea-

Thcologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 10