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Ausgabe:

1967

Spalte:

773-774

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wichelhaus, Manfred

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichtsschreibung und Soziologie im neunzehnten Jahrhundert und bei Ernst Troeltsch 1967

Rezensent:

Moritz, Hans

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lieferungsbegriffs durch Möhler in den Jahren 1834/35. Der 10.
Abschnitt stellt die Frage nach der Bedeutung von Möhlers
Uberlieferungsbegriff. Gciselmann zeigt hier die Weiterentwicklung
der Möhlerschen Konzeption durch Berlage, Staudenmaier
und Kuhn auf. Er schlägt auch noch andeutungsweise den Bogen
zu Newnwn hinüber (539). In der von ihm herausgegebenen
Untersuchungsreihe führen besonders die Arbeiten von G. Bieber
(zu Newman) und von W. Kasper (zu Perrone, Passaglia und
Schräder) die theologiegeschichtliche Erforschung des Überlieferungsbegriffs
in vorbildlicher Weise weiter. Damit sind Grundlagen
geschaffen für eine kritische Auseinandersetzung mit der
Tübinger Konzeption, die wir hier nicht führen können (vgl.
dazu mein „Zur Deutung der kontroverstheologischen Problematik
*, München 1963).

Strasbourg Friedrich Wilhelm Kantzenbach

Wichelhaus, Manfredi Kirchengeschichtsschreibung und Soziologie
im neunzehnten Jahrhundert und bei Ernst Troeltscb.

Heidelberg: Winter 1965. 202 S. gr. 8° = Heidelberger Forschungen
, hrsg. v. H. Bornkamm, W. Conze, H.-G. Gadamer,
V. Pöschl, F. Sengle u. R. Sühnel, 9.

Die Abhandlung „Kirchengeschichtsschreibung und Soziologie
W> neunzehnten Jahrhundert und bei Ernst Troeltsch" stellt sich
die Aufgabe, „dem soziologischen Denkstil bei den historischen
Theologen stärkere Geltung zu verschaffen" (S. 7). Das soll durch
den Nachweis soziologischer Gesichtspunkte bei profilierten Vertretern
der Kirchengeschichts- und Sozialforschung im 19. Jahrhundert
erreicht werden. Es ist sicher kein Zufall, daß dabei die
Untersuchung bei Ernst Troeltsch mündet, der auch quantitativ
am ausführlichsten - auf etwas über die Hälfte des Raumes -
abgehandelt wird. Hat doch Ernst Troeltsch, wie der Verfasser
betont, „mit methodischer Konsequenz" (S. 177) die soziologische
Fragestellung an die Kirchengeschichtsschreibung herangebracht,
sie also aus einer vereinzelt auftretenden Erkennrnishilfe in ein
methodisches Prinzip verwandelt.

Trotzdem hat auch die Behandlung von Gestalten des 19.
Jahrhunderts nicht nur hinleitend propädeutischen Sinn für das
Ganze der Arbeit. Es wird schon hier sichtbar, worum es dem
Verfasser geht: Um Einsicht in die „Verwandlung des universalen
Gültigkeitsanspruches der christlichen Botschaft in staatlich
organisierte Herrschaft als geschichtliche Schuld" (S. 80).
Diese Folgerung, die zweifelsohne als kritische Sonde verwandt
grundlegende neue Bewertungsmaßstäbe für die Kirchengeschichtsschreibung
heraufführte, scheint auch die theologische
Konzeption des Verfassers selbst stark bestimmt zu haben. Aus
solcher Einsicht heraus möchte der Verfasser aber keineswegs
etwa Abstriche am universalen Gültigkeitsanspruch der christlichen
Botschaft in Kauf nehmen, sondern sieht enge Beziehung
zur Umwelt als eine kirchliche Aufgabe: „Die Kirche, die sich
von ihrer Umwelt schied, schied sich auch von ihrem Auftrag
und somit von der Möglichkeit der Freiheit" (S. 80).

Man wird es der Arbeit bescheinigen müssen, dafj sie eine
Frucht gründlicher, detaillierter Quellenstudien ist und in kluger
Beschränkung auf wesentliche Gestalten der Kirchengeschichtsschreibung
grundlegende soziologische Motive erheben
kennte. Der Spannungsbogen ist dabei sehr weit. Er reicht von
im theologischen Gegenwartsbewußtsein noch verankerten bzw.
bekannten Forschern wie Albrecht Ritsehl, Rudolf Sohm oder
Max Weber hin zu Matthias Schneckenburger, Karl Bernhard
Hundeshagen, Max Goebel und Gerhard Uhlhorn. Etwas aus
diesem Rahmen heraus fällt Bruno Bauer da er die Vergangenheit
nur konservierte, „um sich ihrer zu entledigen" (S. 35).
Trotzdem hat der Verfasser gerade hier eine zentral wichtige
Thematik angesteuert, die sicher nicht nur für die soziologisch
fundierte Religionskritik Bedeutung hat: Die Entstehung
der christlichen Religion aus der „Emanzipation der Geister aus
dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verfall der Freiheit
im römischen Imperium" (S. 33).

Daß Wichelhaus soziologische Gesichtspunkte mit Ernst
Troeltsch schon bei Schleiermacher findet, verdient sicher stärkste

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Beachtung. Ob damit aber eine methodische Abwertung Ferdinand
Christian Baurs verbunden werden kann, um
soziologischen Fragestellungen zum Durchbruch zu verhelfen,
muß doch fraglich bleiben. F. Ch. Baur ist doch auf keinen Fall
nur der Mann, der die Fülle geschichtlichen Lebens in die spanischen
Stiefel seiner geistesgeschichtlichen Methode geprefjt
hat. So hart urteilt Wichelhaus nicht, aber eine gewisse Einseitigkeit
kann in Sätzen wie: „sie (Baurs Methode) zwingt die
Geschichte in die logische Formel der dialektischen Entwicklungsspekulation
, statt den Reichtum und das Eigengewicht ihrer
Epochen aufzudecken" (S. 15), nicht verkannt werden. Der fruchtbare
Einsatz, Baurs und Schleiermachers Methode zu konfrontieren
, wird dadurch um seine volle Frucht gebracht. Gilt es
hier wirklich ein Entweder-Oder, entweder Baurs Geistesgeschichte
oder Schleiermachers „soziologischer" Ansatz?

Solch grundlegende Stellungnahmen müssen für die Bewertung
von „Troeltschs Sozialphilosophie, Soziologie und Historiographie
" (S. 142-170), aber auch für dessen „kirchengeschichtlichen
Aufriß" (S. 81-142) Folgen haben. Wichelhaus stellt zunächst
den kirchengeschichtlichen Aufriß Troeltschs auf der methodischen
Grundlage der christlichen Gemeinschaftstypologie
dar. Es folgt eine komprimierte Darstellung leitender Gesichtspunkte
, die Troeltschs Sozialphilosophie, Soziologie und Historiographie
bestimmen: Person- und Religionsbegriff, Gemeinschaft
und Organisation, Evangelium und soziale Frage etc. Hier
ist Wesentliches zu Troeltschs methodischen Gesichtspunkten
dargestellt worden. Es wird dabei aber letztlich doch dessen
methodische Grundlage abgelehnt, wenn die Vorstellung einer
„monadischen Identität der Individuen mit Gott und untereinander
" (S. 193) bestritten wird. Diese Kritik an Troeltschs prinzipieller
, d. h. metaphysisch-philosophischer Grundlage wild aber
mit freundlicher Würdigung der kritischen Kraft soziologischer
Gesichtspunkte verbunden. Besonders Troeltschs Aufweis, daß
„Anpassung" und „Kompromiß" für die kirchengeschichtliche Entwicklung
bedeutsam waren und sind, scheint dem Verfasser ein
aktuelles Erbe von Troeltsch her zu sein. Auch die Feststellung,
daß „auch von historischen Theologen die Rücksicht auf soziologische
Faktoren selbstverständlich gefordert wird, die ein Verdienst
Troeltschs und der Forschungsarbeit, die er zusammenfaßte
" (S. 192), sei, bedeutet eine klare Würdigung.

Außerordentlich scharf wird Wichelhaus' Urteil über Troeltsch
dagegen in resümierenden Sätzen wie: „Troeltsch aber proklamierte
der bürgerlichen Welt in der Krise nichts beunruhigend
Neues, sondern idealistische Metaphysik" (S. 154), in der er einen
Sprung Troeltschs „nicht nur... auf die Schultern von Hegel
und Leibniz, sondern schließlich auf die von Thomas und Irenaus
" (S. 154) sieht. Damit ist vom Verfasser deutlich Troeltschs
Streben nach metaphysischer Fundierung der Sozialphilosophie
abgelehnt. Der Troeltsch auch für die soziale Zukunftsaufgabe
leitende Gesichtspunkt, daß eine „der Idee entsprechende Gestaltung
" erreicht werden müsse, fällt dann konsequenterweise
ebenfalls aus. Es bleiben daher letztlich nur soziologische Einzelgesichtspunkte
ohne das geistige Band einer metaphysischen
Grundlage für eine Gegenwartsbedeutung Troeltschs übrig.

In einer soziologischen Gegenwartssituation, in der ein Drängen
nach geschichtsphilosophischer Fundierung der empirisch-
soziologischen Einzelforschung unverkennbar ist, ist dieses prinzipielle
Ergebnis etwas mager. Die theologische Grundposition
des Verfassers hat hier offenbar eine positivere Rezeption
Troeltschs im Prinzipiellen nicht erlaubt, was analog auch für
Ferdinand Christian Baur zutreffen dürfte. Dem Verfasser Manfred
Wichelhaus gebührt aber auf alle Fälle das Verdienst, nicht
nur eine höchst wichtige Materie kenntnisreich behandelt, sondern
auch die Bedeutung soziologischer Gesichtspunkte für die
Theologie betont zu haben.

Leipzig Hans Moritz

Dietzfelbinger, Hermann: Hermann Bezzel und seine Wirkung
(DtPfrBl 67, 1967 S. 345-348).

Langford, Jerome J., O. P.: Galileo, Science and the
Church. Foreword by S. Drake. New York: Dcsclee Company
[1966]. XV, 237 S. 8«. Lw. $ 5.95.

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 10