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Ausgabe:

1967

Spalte:

772-773

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Geiselmann, Josef Rupert

Titel/Untertitel:

Lebendiger Glaube aus geheiligter Überlieferung 1967

Rezensent:

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm

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Kraft dieser Gottesvorstellung Calvins, die dem Primat einer
rein weltlichen Herrschaft entgegensteht . . . Dabei verwandelte
sich diese Stadt (Genf) von einer liberal bürgerlichen Aristokratie
in ein theokratisches Staatswesen. Theokratie bedeutet,
. . . daß alle staatliche Ordnung eigentlich verbindlich nur auf
dem Willen Gottes beruht. Für die Theokratie ist wesentlich
nicht die äußere Gestaltung eines Staatswesens, sondern es ist
ihr um den inneren Gehalt einer Staatsordnung zu tun" (S. 168/
169). „Die so in dem Gerechtigkeitsbegriff Calvins angesprochenen
christlichen Pflichten gelten ihm nicht nur für den Einzelmenschen
als Privatperson, sondern auch für die Obrigkeit
und deshalb für die gesamte Rechtsordnung" (S. 173). „Indem
er aber das Postulat der Abhängigkeit aller Rechtsordnung von
dem geoffenbarten göttlichen Gesetz aufstellt und selbst das
natürliche Gesetz nennt, ist damit die Abhängigkeit allen innerweltlichen
Rechts vom göttlichen Recht aufgezeigt" (S. 175).

Daß der Kampf der Konfessionalisten heute gegen ein „Naturrecht
bei Calvin" ein Kampf gegen Windmühlen ist, wird
dem Leser der Studie des Verf. schon ziemlich früh verdeutlicht
. Naturrecht ist eben nicht gleich Naturrecht. Das der Aufklärung
ist, als von Gott gelöst, verwerflich, das der Reformatoren
(Luther und Calvin) ist theonom und im Einklang mit
Schrift und Offenbarung selbst: „Abschließend kann festgestellt
werden, daß, wenn auch die Natur, die Naturordnung oder das
Naturgesetz nicht in dem Sinne selbständige Rechtsquellen
sind, daß sie als unabhängig von dem göttlichen Willen gedacht
werden können, aus ihnen aber neben dem Dekalog oder
im natürlichen Gesetz geoffenbarten göttlichen Recht selbständig
Rechtsgrundsätze abgeleitet werden können" (S. 58). „Die
Billigkeit wird verkörpert in dem von Christus als ,Hauptsumme
des Gesetzes' bezeichneten Satz: .Alles was ihr wollt, das euch
die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch." (Hiobpredigten
Calvins I, S. 30). Dieses Gebot christlicher Nächstenliebe nennt
Calvin auch eine ,equite naturelle' (Consilia. S. 248 f.). Es ist
also etwas einem jeden Menschen Erkennbares. Aus einem
ähnlichen Gedanken nennt Calvin dieses Gebot auch ein ,jus
naturale' (S. 61).

Zusammenfassend beim Staatsgedanken werden beachtliche
rechtshistorische Feststellungen vom Verf. getroffen: Calvin vertrete
einen „organischen Staatsgedanken" (S. 239) in Analogie
zum Leib-Gleichnis bei der Kirche. Die „einzelnen Glieder des
Staates" bedürfen der gegenseitigen „Bindungen" (S. 240) im
Gegensatz zu „einer späteren (!) naturrechtlichen Staatslehre,
die . . . von der Priorität des abstrakten Individuums ausgeht,
dieses als staatliches Atom betrachtet und den Staat daher als
eine große, künstliche, von den Individuen frei zusammengesetzte
Gesellschaft ansieht" (cf. Jellink) (S. 240). „Die organische
Auffassung Calvins besitzt diesen Auffassungen gegenüber den
Vorzug, daß sie die Geschöpflichkeit des Menschen beachtet,
dem die Gemeinschaft zur Wesensvollendung seiner Person
dient, und der darum innerhalb der Gesellschaft einen bestimmten
Aufgabenkreis zu erfüllen hat und notwendig den andern
Gliedern der Gesellschaft zugeordnet sein muß" (S. 240). „Der
Fehler einer die Unwissenschaftlichkeit der organischen Auffassung
tadelnden Kritik liegt darin, daß sie die Transzendenz
aus dem Bereich der Wissenschaft ausschalten will. Dem sei
aber entgegengehalten, daß ein derartiges „wissenschaftliches"
Weltbild von dem Unglauben an die höhere Menschennatur
ausgeht, indem es die Erkenntnis bewußt auf ihre untere Stufe
begrenzt." (S. 241).

Ohne methodisch mit Verf. in allem einig gehen zu können,
muß dieser Studie doch vom theologischen wie rechtswissenschaftlichen
Standpunkt aus eine hohe Bedeutung beigemessen
werden. Verf. ist bemüht, Calvin aus seiner Zeit und seinem
eigenen Denken her zu sehen und seine soziologischen Auswirkungen
richtig zu würdigen, was weithin als gelungen zu bezeichnen
ist.

Berlin Günter G I o e d e

Bläser, Peter: Die ökumenische Bedeutung der Reformation
(DtPfrBl 67, 1967 S. 348-351).

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KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Geiselmann, Josef Rupert: Lebendiger Glaube aus geheiligter
Überlieferung. Der Grundgedanke der Theologie Johann
Adam Möhlers und der Katholischen Tübinger Schule.
2. Aufl. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1966. 603 S. gr. 8° =
Die Überlieferung in der neueren Theologie, hrsg. v. J. R.
Geiselmann, I-II.

J. R. Geiselmann ist der beste Kenner der Tübinger Katholischen
Schule, insbesondere ihres bedeutendsten Vertreters, Johann
Adam Möhler. In einer imponierenden Vielzahl von umfangreichen
Werken und eindringenden Aufsätzen hat Geiselmann
seit etwa 40 Jahren die Entwicklung der Tübinger Theologie
minutiös verfolgt und geistesgeschichtlich gedeutet. Das
jetzt in der 2. Auflage vorliegende opus magnum ist 1942 erstmals
gedruckt worden, ging aber bei einem Bombenangriff bis
auf wenige Exemplare verloren. Das erste Buch des Werkes (bis
S. 122) analysiert unter dem Oberthema „Gott und Mensch" Möhlers
Anthropologie, der der Verfasser neuerdings eine besondere
Monographie widmete. Dabei zeigt sich das tiefe Interesse Möhlers
, dessen theologischer Ansatz tatsächlich anthropologisch
strukturiert war, an einer natürlichen Erkenntnis Gottes und an
der Einheit der Theologie, wobei die natürliche Theologie die
übernatürliche grundlegt und die Voraussetzungen für diese
schafft. Im Zweiten Buch verfolgt G. die „Lebendige Überlieferung
als Selbstüberlieferung des Urchristentums zu beständiger
Gegenwart", also den Aspekt, der seit dem Tübinger Johann
Sebastian Drey bis zum Erneuerer der Tübinger Schule in unserem
Jahrhundert, Karl Adam (vgl. dessen „Wesen des Katholizismus
"), wohl der wichtigste Grundgedanke der Tübinger
Schule war. Die „organische" Ansicht von Christentum und Kirche,
die schon Drey vertrat, ja bereits von Alois Gügler vorbereitet
wurde, hat sich in der katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts
fast allgemein durchgesetzt. Deshalb kann die Konstitution
über die göttliche Offenbarung des II. Vatikanischen Konzils nur
verstanden werden, wenn man die von Geiselmann Schritt für
Schritt analysierte Konzeption von Überlieferung in der Tübinger
Schule verfolgt. Man wird dann erkennen, wie schon die
Tübinger im Blick auf die Probleme des Verhältnisses von
Schrift, mündlicher Überlieferung, Tradition und Kirche Lösungen
vorangetrieben haben, die noch heute von prinzipieller Bedeutung
sind. Geiselmanns Interesse ist allerdings ein spezifisch
theologie- und geistesgeschichtliches, so daß er die Fäden
zwischen Gügler, Drey und Möhler sehr eingehend untersucht
und systematisierende Verallgemeinerungen in den Untersuchungsergebnissen
vermeidet. Das dritte Buch ist ausschließlich
Möhler gewidmet (299 bis Schluß). Die bekannten Differenzen
zwischen Möhlers Ekklesiologie in den „Kirchenrechtlichen Vorlesungen
" (1823-1825) einerseits und seinem Schrifttum vor der
„Einheit" von 1825 andererseits machen sich auch im Überliefe-
rungsbegriff bemerkbar. Geiselmann unterscheidet zwischen
einem auktoritativen Überlieferungsbegriff und einem mystischen
Überlieferungsbegriff und „sieht beide im organischen Überlie-
ferungsbegriff der „Einheit" von 1825 vereinigt (S. 341 ff.). Eine
organische Deutung des kirchlichen Lebens verhilft Möhler dazu,
nicht nur Geist und Amt, sondern auch Amt und Volle als Träger
der lebendigen Überlieferung organisch zu einen. Von Bedeutung
ist es dabei, daß die göttliche Institution des bischöflichen
Amtes nicht auf Kosten des christlichen Volkes hervorgehoben
wird. In der Symbolik von 1832 wird der Überlieferungsbegriff
wieder auktoritativ zugespitzt.

Verdienstvoll ist es. daß Geiselmann einen Abschnitt überschreibt
: „Der Glaube aus geheiligter Überlieferung im Gespräch
der Konfessionen". Möhler fordert die Anerkennung des in den
Aposteln in ununterbrochener Reihenfolge nachfolgenden Episkopats
und sieht in einem isolierten Bibelprinzip ein rein
menschliches, subjektives Verständnis des Christentums, letzten
Endes „Deismus". Man wird kaum sagen können, daß damit
der konstitutiven Wahrheit im reformatorischen Grundsatz „sola
scriptura" Rechnung getragen ist. Der 8. und 9. Abschnitt des
dritten Buches befassen sich mit der Weiterführung des Über-

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 10