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Ausgabe:

1967

Spalte:

769-771

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Baur, Jürgen

Titel/Untertitel:

Gott, Recht und weltliches Regiment im Werke Calvins 1967

Rezensent:

Gloede, Günter

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viel zu zufällig, als daß er das hier vorliegende Problem wirklich
zu klären vermöchte. Die hieraus resultierende Unklarheit,
die sich, wie mehrfach betont wird, einer Unscharfe der Begrifflichkeit
auch des Hyperius gegenüber sieht (z. B. S. 13,16,138 f.),
wird nun durch eine Fülle übertrieben scharf oder gar falsch
konstruierter Alternativen der oben referierten Lösung entgegengeführt
. Das führt freilich zu einer ebenso gro5en Zahl
von Fehlurteilen: der Einflu5 des Erasmus auf den langjährigen
Humanisten Hyperius wird als lediglich „formal" angesehen
(S. 85.87), obwohl gerade im Zusammenhang mit dem Gesetzesverständnis
weiterreichende Beziehungen offenkundig sind. Der
in diesem Zusammenhang eigentlich naheliegende Vergleich jener
Ekklesiologie mit der alten Kirche unterbleibt - obwohl
z. B. Hermas (vis 2,4,1, doch auch 2 Kle 14 u. a.) durchaus von
einer Kirche spricht, die von Gort vor aller Welt gewollt ist und
auf die dann die gesamte Schöpfung zielt! Verzerrt muß von daher
auch das Urteil über die Ekklesiologie Bucers genannt werden
: „Für Bucer ist die Heiligung konstitutiv für die ecclesia.
Für Hyperius ist umgekehrt die ecclesia konstitutiv für die Heiligung
" (S. 63). Auch abgesehen von der Fragwürdigkeit solcher
Alternativen ist die Textbasis, auf der sie errichtet werden, mehr
als schmal: der Verfasser kennt nur die Scripta Anglicana -
und stellt aufgrund dieser lateinischen Übersetzung von Bucers
-Wahrer Seelsorge" Überlegungen zu seinem Sprachgebrauch an
(S. 58 f.)! Am eingehendsten ist die Auseinandersetzung noch mit
Melanchthon. Allein auch hier wird die Breite der Aussagen des
Praeceptors zugunsten des Postulats der Einzigartigkeit jener
ekklesiologischen Konzeption des Hyperius immer wieder verkürzt
. Um gleich ein besonders eindrückliches Beispiel zu nenr
nen: in der vom Verfasser ausdrücklich angezogenen Schrift „De
ecclesia et de autoritate vcrbi Dei" spricht Melanchthon ausdrücklich
von der Kirche, „propter quam omnia (i. e. Deus) condidit"
(StA I, 385, 19)! Gewiß ist unbestritten, daß Melanchthon daraus
nicht die Konsequenzen des Hyperius gezogen hat (so S. 79 f.) -
allein damit wird auf eine völlig andere Fragestellung verwiesen
. Es ist deutlich genug, dafj nicht eine neue theologische Erkenntnis
die Eigenart der Ekklesiologie des Hyperius ausmacht,
sondern seine spezifische Akzentuierung der ihm überkommenen
reichen Tradition. Die Verarbeitung des Erbes steht im Vordergrund
. Die Unklarheiten, die sich dann etwa auch angesichts
des Gesetzesverständnisses des Hyperius zeigen mitsamt der
Aufnahme des augustinischen Gegensatzes von Spiritus und li-
tera (S. 104 ff.) und der nur bedingt als gelungen zu bezeichnenden
Verbindung dieses Komplexes mit dem analog zu Gesetz
und Evangelium konstruierten Gegenüber von Kirche und
Gesetz, erhalten eindeutig erst aus dieser Situation ihr Licht.

So greift diese Studie an den Stellen, wo sie die theologische
Bedeutung des unmittelbaren Zusammenhanges der Ekklesiologie
mit der Lehre von der Heiligung bei Hyperius zu interpretieren
sucht, grundsätzlich zu kurz. Nichtsdestoweniger darf die
Darstellung der die Praxis implizierenden Ekklesiologie dieses
Theologen als überzeugend angesehen werden. Darin liegt die
Bedeutung der Arbeit.

Münster / W. Martin Greschat

B a u r, Jürgen: Gott, Recht und weltliches Regiment im Werke
Calvins. Bonn: Bouvier 1965. XVI, 300 S. 8° = Schriften zur
Rechtslehre u. Politik, hrsg. v. E. v. Hippel, 44. Kart. DM
28.50.

Diese Veröffentlichung steht in einer Reihe von Studien,
die eine theonome Rechtsbegründung aus der Geschichte für die
Gegenwart zu erheben sucht (vgl. die Anzeige von Bd. 42 in
ThLZ 91. Jhrg. 1966, Sp. 500- 503). Es ist zunächst anerkennenswert
, wie gründlich sich Verf. mit seinen Quellen bekannt gewacht
hat (er benutzte die Neuausgaben der Predigten von
Rückert und Mühlhaupt, die Daniel-, Hesekiel- und Jeremia-
Vorlesungen. Bei Vergleich mit Calvin-Fachliteratur sind zwar
die bekannten deutschen Arbeiten der 20er und 30er Jahre benutzt
, jedoch die französischen (wie Francois Wendel, Paris

770

1950) oder englischen (wie Parker oder Edward A. Dowey, The
Knowledge of God in Calvins Theology, N. Y. 1952) fehlen.

Unglücklich ist auch der Einsatz der Arbeit mit einer Gotteslehre
, die anhand einiger Kategorien als Attribute Gottes
künstlich zusammengetragen wird. Die Offenbarung als unabdingbare
Voraussetzung der Gotteserkenntnis ist übergangen. So
kommen falsche Schlüse zustande wie etwa, daß Calvin Eigenschaften
Gottes wie „Majestät" oder „Souverän" aus zeitgenössischen
oder historischen Staatslehren entliehen und auf Gott
übertragen habe (S. 163). Immerhin sieht Verf. die „Macht" Gottes
in seinem Wirken durch seine „Gerechtigkeit" gehalten und
vor einem Abgleiten in eine „puissance absolue" geschützt
(S. 21).

Der Darstellung weiterer Rechtsformen bei Calvin folgt in
der zweiten Buchhälfte (S. 151-300) die Auswertung des Befundes
. Hier überrascht eine ungewöhnliche Verbindung, die
Verf. zwischen Duns Skotus und Calvin (entgegen solcher zu
Augustin) aufweisen möchte (S. 177); dies dürfte kaum haltbar
sein, ebenso wie die moderne These, dafj Luther zwar ein Naturrecht
gekannt und praktiziert habe, aber Calvin eben nicht
- eben weil Verf. durchgehend sich auf solche Bestände bei
Calvin bezieht und beruft (S. 155). Der Schulstreit K. Barth und
E. Brunner wird zwar möglichst objektiv berichtet, aber höchst
eigenwillige Konsequenzen aus der verschiedenen Bibelinterpretation
der Reformatoren gezogen: „Gesetze müssen durch
eine Wertordnung aufgefüllt werden, denn andernfalls dienen
sie dem Unwert. Eine solche Wertordnung ist aber das Recht,
das einen für alle Menschen gleichen Inhalt besitzt. Wenn
aber der eine Mensch, der die Gesetze verwirklicht, vor den
Augen Gottes Recht, der andere, der sie in gleicher Weise
handhabt, Unrecht tut, so entsteht die Frage, ob es sich überhaupt
noch verlohnt, nach den Gesetzen zu handeln. Das aber
führt dazu, dafj die einem Gesetz kraft des von ihm verkörperten
Rechts innewohnende Verbindlichkeit in Frage gestellt wird.
Jedenfalls besteht diese Verbindlichkeit nicht für den gefallenen
Menschen ..." (S. 188).

Hier werden deutlich die Konsequenzen aufgewiesen, die
dann auftauchen, wenn man ein Naturrecht bei den Reformatoren
bestreitet (S. 158-S. 160), obwohl dieses nicht nur eine
„objektive" Möglichkeit von der Sicht und Warte Gottes her
ist, sondern unweigerlich im „Gewissen" einem jeden Menschen
„subjektiv" die Verantwortung vor dem Herrn alles Lebens
unausweichlich aufbürdet (vgl. das „inexcusabilis", das auch
W. Niesei aus Calvins Theologie nicht weginterpretieren konnte).
Verf. zitiert Kain, der nicht vor Gott entfliehen kann (vgl. S. 72).
Die Gefahren eines „natürlichen" Gottwissens sind in der Aufklärungsepoche
und bei den sog. Deutschen Christen deutlich
genug geworden; sie bestehen darin, der „Natur" eine von Gott
gelöste Eigenmächtigkeit beizumessen, wie sie solche schlechterdings
in sich nicht hat. Alle Säkularisierung ist Selbstvergötterung
und als solche leicht nachweisbar. Aber Gottes Recht auf
alle seine Geschöpfe einzuschränken (etwa auf den Kreis der
christlich Unterwiesenen) oder sie aus Gottes Rechtsanspruch zu
entlassen oder von ihm freizustellen, ist nicht nur nicht neu-
testamentlich, sondern auch eine völlige Verkennung der Anliegen
der Reformatoren. Calvin wie Luther fußen auf einem für
alle verbindlichen Handeln Gottes mit seiner ganzen Welt. Das
Gefühl für Recht und „Billigkeit" eignet bei ihnen jedem Geschöpf
.

Wir zitieren am besten einige Ergebnisse des Verf.: „Für eine
weitergehende inhaltliche Bedeutung spricht aber der Umstand,
dafj Calvin alle Menschen und so auch die Obrigkeit in der
Abhängigkeit von Gott sieht" (S. 160). Da Verf. den Souveränitätsgedanken
im Gottesbild Calvins (gegen Beyerhaus) eingeschränkt
sieht und für ihn bei Calvin sich ergibt, daß „Gott
ein barmherziger Gott ist" (S. 167), kommt Verf. auch der Wirklichkeit
des Genfs Calvins sehr nahe: „Calvins Gottesbild verlangt
zugleich seine Umsetzung in die praktische Tat. Es verlangt
die Umgestaltung der Wirklichkeit, wo sie nicht seinen
Anforderungen entspricht, wo die absolute Herrschaft Gottes
nicht gesichert erscheint. Darin liegt zugleich die revolutionäre

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 10