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Ausgabe:

1967

Spalte:

762-764

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haenchen, Ernst

Titel/Untertitel:

Gott und Mensch 1967

Rezensent:

Kümmel, Werner Georg

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 10

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„jüdischer Katechet und Rabbi", das hätte er seinen Lesern
begründen müssen, daher wird vorhandener jüdischer Einfluß
ein fester Bestandteil der mündlichen Überlieferung vor Mt.
gewesen sein. Da die formgeschichtlichen Erkenntnisse es verbieten
, die Situation des Redaktors individualistisch abzugrenzen
, werden er und seine Gemeinde grundsätzlich einen heidenchristlichen
Standpunkt einnehmen, und das zweifellos im
Evangelium vorhandene judenchristliche Gedankengut deutet
nicht auf eine Polemik zweier Richtungen in der Gemeinde.
Str. sieht hier eine Entwicklung imgange, die mit der Verselbständigung
des heidenchristlichen Elementes den Weg zum Frühkatholizismus
frei macht. Mt. habe als Exponent dieses Prozesses
an seinem Verlauf nicht geringen Anteil (vgl. S. 35). Str.
hält am historischen Verständnis von Mt 22,7 fest. Nach seiner
Auffassung hat der 1. Evangelist zwischen 90 und 95 geschrieben
, er rückt also die Abfassung dieses Evangeliums in die
Nähe der Apg. Was H. Conzelmann für diese, will Str. für Mt.
erweisen: Mt. ist wie Lk. ein Wegbereiter des heute viel berufenen
„Frühkatholizismus". Wegen des empfindlichen Raumman-
9els muß der Rezensent an dieser Stelle leider auf Auseinandersetzungen
im einzelnen verzichten. Über den Weg der Gerechtigkeit
, über das allen drei Synoptikern eigene Verzögerungsbewußtsein
, die Zerdehnung der Zeit und den unvermeidlichen
Historisierungsprozeß wäre manches zu sagen. Auf die interessante
Polemik Str.'s gegen Marxsens Markus- und Conzelmanns
Lukas-Interpretation hinsichtlich der Frage einer konsequenten
Eschatologie kann hier nur verwiesen werden (S. 47 mit Anm.
4 u. S. 48 mit Anm. 2-3). Der Autor ist m. E. mit Recht der
Ansicht, dafj die Zerdehnung der Zeit nicht eine „Endeschatolo-
gisierung", sondern nur eine Umstrukturierung des eschatolo-
gischen Selbstverständnisses hervorgerufen habe. Daher müsse
die Theologie des Redaktors unter historisch-eschatclogischem
Aspekt betrachtet werden. Eine besondere Beachtung verdienen
die einzelnen Ausführungen auf S. 149-158 über die Gerechtigkeit
bei Mt. Aus dem 3. Teil seien noch folgende Gedanken
kurz hervorgehoben: Gegenüber der Markusdarstellung wurde
die Gestalt Jesu idealisiert. Ein gleiches geschah mit seinen
Jüngern (S. 193). Ihre Zeugenschaft erstreckt sich nicht nur
auf die Erscheinung des Auferstandenen, sondern auch auf das,
was Jesu sie bei Lebzeiten gelehrt hat (Mt. 28, 20a). Die Stellung
des Petrus im Rahmen der matthäischen Redaktion ist
nach Str. noch ein offenes Problem, so oft auch die berühmte
Stelle in Kap. 16 behandelt worden ist. Über den Einschub Mt.
16, 17-19 handelt Str. natürlich gründlich. Er möchte ihn zur
vormatthäischen schriftlichen Fixierung rechnen. M. E. bedarf
es keiner weiteren Annahme, daß Mt. 16, 17-19 „den Evangelisten
noch im Rahmen einer Auferstehungslradition zugänglich
war", um sich dann mit der Frage nach dem Motiv einer Zu-
rückprojizierung in das Leben Jesu den Kopf zu zerbrechen.
Geht man dem Leitfaden des Redaktors Mt. bis 28,16 f nach,
dann erkennt man: die Vorzugsstellung des Bekenners Petrus
ist durch das Verdikt von 16,23, welches die Seligpreisung von
16,19 völlig aufhebt, gleichfalls aufgehoben, zumindest aber herabgesetzt
. In 18.18 und in 28,16 ff ist von ihr mit keiner Andeutung
die Rede. In der Anweisung an die Frauen (Mt. 28,7)
ist der Petruszusatz von Mk. 16,7 weggelassen. Von einer Ersterscheinung
vor Petrus, wie sie Lk. 24,34 berichtet wird, und
Paulus sie in 1. Kor. 15,5 bezeugt, ist bei Mt. keine Rede.

Wir dürfen am Ende nicht übersehen, dafj die klare Abgrenzung
von Tradition und Redaktion eine hypothetische Sache ist.
Str.'s kritische Wertung bei der Einzelanalyse schwankt zwischen
„wahrscheinlich, nicht unwahrscheinlich, an Sicherheit grenzende
Wahrscheinlichkeit und ganz unmöglich." Wir müssen uns bei
der Gelegenheit von geistigen Voreltern wie Martin Kahler,
Adolf Jülicher und Joh. Weiß sagen lassen, dafj die Evangelien
in ihrem Endstadium die allein sichere Gegebenheit sind und
wir aus ihnen die Verf. nicht so eindeutig in das Licht der Geschichte
zu heben vermögen wie das bei dem Briefschreiber
Paulus möglich ist. Sind wir von der Formgeschichte zur Redaktionsgeschichte
gelangt, muß der Rezensent wie an jene so
auch an diese die konkrete Frage richten: Wo steckt das geistige
Eigentum Jesu selbst? Wir dürfen nicht in einem Schwebezustand
des Redigierens und d. h. in einem fortwährenden Übergangsstadium
stecken bleiben. Es ist die geheime oder auch
offene Besorgnis vieler Gemeindeglieder in den letzten Jahren
gewesen, dafj sich hinter einer immer komplizierter werdenden
Methodik und Apparatur von Forschung eine Skepsis gegenüber
dem wirklichen Geschehen entwickelt hat, durch welche
die Zeugen des NT trotz aller Sorgfalt der Interpretation unglaubwürdig
gemacht werden. Mir will scheinen, Str.'s Untersuchung
sei einer der guten Ansätze, um solcher Besorgnis zu
wehren.

Berlin Erich Fascher

Haenchen, Ernst: Gott und Mensch. Gesammelte Aufsätze.
Tübingen: Mohr 1965. VII. 488 3. gr. 8°. DM 33.50; Lw. DM
38.-.

E. Haenchen, den meisten Theologen vor allem durch seinen
großen Kommentar zur Apostelgeschichte im Meyerschen Kommentarwerk
bekannt, hat in den letzten 1% Jahrzehnten auch
eine größere Anzahl von Aufsätzen, vor allem in der Zeitschrift
für Theologie und Kirche, veröffentlicht, die nun gesammelt anläßlich
seines 70. Geburtstags einem größeren Leserkreis zugänglich
gemacht werden. Haenchen war ursprünglich Systematiker
, hat sich aber seit seiner aus Krankheitsgründen erfolgten
Emeritierung im Jahre 1946 fast ausschließlich neutestament-
lichen Fragen zugewandt. So sind denn auch von den hier abgedruckten
16 Aufsätzen 10 neutestamentlichen Fragen gewidmet
, der Rest Fragen der Gnosisforschung und der Systematik
(der die Themen des ganzen Bandes zusammenfassende einleitende
Aufsatz „Gott und Mensch" war ebenso unveröffentlicht
wie der abschließende Aufsatz „Albrecht Ritsehl als Systematiker
").

Den Hauptarbeitsgebieten Haenchens entsprechend beschäftigen
sich die meisten neutestamentlichen Aufsätze mit dem Johannesevangelium
und der Apostelgeschichte. Unter der Überschrift
„Johanneische Probleme" werden die sich mit den Synoptikern
berührenden johanneischen Erzählungen analysiert (gelegentlich
allzu scharfsichtig), und es ergibt sich, daß Johannes
nicht die Synoptiker, sondern aus dem gottesdienstlichen Hören
„ein Evangelium von nichtsynoptischem Typ" kennt, dessen Berichte
er auf das eigentliche Heilsgeschehen deutet. Die „Probleme
des johanneischen .Prologs'" werden mit der Annahme
gelöst, daß der Evangelist einen Weisheitshymnus benutzt habe,
den der Verfasser des Anhangskapitels 21 durch Einschub der
Verse 6-8.12f.15 erweitert habe, wobei freilich keineswegs einsichtig
wird, warum diese Interpolation stattgefunden hat. Anhand
des Verhörs Jesu durch Pilatus (Joh 18,28-19,15) wird in
Auseinandersetzung mit der Literarkritik gezeigt, daß bei der
Interpretation eines johanneischen Textes die entscheidende
Frage nicht die nach den Quellen, sondern danach ist, was der
Evangelist seinen Lesern sagen wollte. In der Formel „Der Vater
, der mich gesandt hat" findet Haenchen schließlich die grundlegende
Aussage des 4. Evangeliums, das Jesus ganz vom Vater
abhängig sieht, aber zugleich „zwischen dem predigenden
Jesus und dem durch die Jünger predigenden Christus. .. keinen
wesentlichen Unterschied" anerkennt, was zutreffen dürfte.

Zwei Aufsätze behandeln das Problem des Textes der Apostelgeschichte
und zeigen an den Schriftzitaten und in Auseinandersetzung
mit einigen gegenteiligen Thesen der letzten Jahrzehnte
, daß der Text des Codex D den des Codex Vaticanus
voraussetzt und ihm keinesfalls grundsätzlich überlegen ist. In
der Frage der Quellen der Apostelgeschichte zeigt sich in den
beiden hier abgedruckten Aufsätzen ein Meinungswandel: in der
1955 erschienenen Arbeit „Tradition und Komposition in der
Apostelgeschichte" vertritt Haenchen die Annahme, der Verfa-
ser der Apostelgeschichte habe seiner Darstellung der Reisen
des Paulus einen überlieferten Reisebericht zu Grunde gelegt,
während er 1961 in dem Aufsatz „Das ,Wir' in der Apostelgeschichte
und das Itinerar" die Existenz eines Itinerars bestreitet