Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1967

Spalte:

754-756

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wildberger, Hans

Titel/Untertitel:

Jesaja 1967

Rezensent:

Schmidt, Werner H.

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

753

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 10

754

Ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß 5f und 9, 9-11, 17
den gleichen „Verfasser" haben, dem „der Dekalog, manche andere
kultische Form- und Aussagetraditionen und schließlich die
erzählende Sinaitradition" vorlag, so kann man ihm den „Bearbeiter
" gegenüberstellen, der 7, 1-24 (25 f.?); 8, 1-20; 9, 1-8.
22-24 und 11, 18-25 beisteuerte. 11, 26 - 32 dient der Verzahnung
mit 12-28, ohne daß sich Lohfink verständlicher Weise
innerhalb dieser Untersuchung auf seine Genese festlegen kann.
Damit hat er das literarkritische Problem von Dtn 5-11 gelöst;
bleibt nur noch der Einwand des Numeruswechsels in der Anrede
des Volkes unberücksichtigt.

Diese Frage löst er im Teil IV (S. 239-251). Die generelle
Überprüfung des Befundes unter Berücksichtigung der vorliegenden
Ergebnisse zeigt, daß „die Verwertbarkeit des Numeruswechsels
für die Quellenscheidung" alles in allem „nicht sehr
groß zu sein" scheint (S. 241). Das Problem muß stilistisch gelöst
werden. Während sich der Numeruswechsel in der Paränese
als eine Zuwendung an die Hörer erklärt, muß die Anrede „in
einer vor der Kultvcrsammlung Israels erzählten Geschichte, in
der Israel selbst handelnd auftritt, notwendig ,Ihr' lauten. . ."
(S. 250).

Der abschließende Teil V gilt der Darstellung des „Paräne-
tischen Vorgangs" (S. 261-285). Die Abhandlung hat ihr Ziel erreicht
. Im Blick auf den „erwarteten Lesertyp", bzw. im Blick
auf die Hörer setzt der Text von Dtn 5-11 einmal voraus, „daß
man sich bei den Hörern noch schlicht auf die Grundtatsachen
des alten kultischen Glaubensbekenntnisses berufen kann", zum
anderen aber eine „Saekularisierung des Herzens", nicht den Abfall
zu fremden Göttern, sondern „ein Heraustreten aus der religiösen
Haltung überhaupt" (vgl. Dtn 8, 17 und S. 265 f.). Die
Tatsache, daß der „Bearbeiter" seiner Komposition einen älteren
kultischen Text zugrunde legen kann, spricht für die Annahme,
daß sein „Publikum" „äußerlich noch im Kult steht und lebt" (S.
266). Die Haltung des Textes wird dahingehend bestimmt, daß
er im Blick auf dieselbe Sache, eben die Beobachtung der verpflichtenden
Gebote, zugleich verpflichten und ermahnen will
(S. 275). Im Text des „Verfassers" gab es „ein einziges gebietendes
Zentrum: 6, 12-16. Alles andere ist Paränese" (S. 277).
Die primär paränetische Grundhaltung des „Bearbeiters" bestimmt
den Gesamttext. Aber die eigentlich gebietende Haltung ist der
tragende Grund der Paränese. Die im Hintergrund der Paränese
stehende Rechtssprache appelliert an die sich bindende Freiheit
. Die Verbindung des Kultischen mit dem Rechtlichen erfolgt
genuin israelitisch mittels der Gleichsetzung der Urzeit mit
einer historischen Zeit. Die Hereinnahme der psychologischen
Dimension läßt fragen, ob Dtn 5-11 noch für einen kultischen
Vortrag geschaffen wurden (S. 280). Zeigte der ganze Text des
„Verfassers" „einen großen, vieldimensionalen Raum der Sinn-
Spannungen und Sinn-Bezüge", in den der Hörer bei der Rezitation
hineingestellt wurde, so war eben „die Erstellung dieses
Sinn-Raums. . . der paränetische Vorgang des Grundtexts" (S.
283). Der „Bearbeiter" führt eine gegenseitige Nivellierung der
alten Sinnbezüge herbei und hebt durch das Verblassen des Einzelwerts
der Aussagen die Grundstruktur „israelitischen Stehens
im Dasein" hervor, auf der „alles Einzelne beruht". „Der mahnende
Ton, der alles durchzieht, am Anfang verstärkt durch
einige Fanfarenstöße herrischen Gebietens, öffnet den Hörer und
hält ihn für die eindringende Sprachrealität geöffnet. So sickert
sie ein und er läßt sich von ihr durchtränken. Er richtet seine
innere Welt jener Weltgrundstruktur gleich, die im Text immer
wieder neu aufscheint" (S. 284). So ist auch der Text letzter Hand
dem Anliegen seiner Vorlage treu geblieben, „das Hauptgebot
im Menschen aufzurichten". - Zwei Anhänge (I „Entstehungsgeschichte
und Disposition des Jetzttextes" [siel] II Tabellen)
und die üblichen Verzeichnisse beschließen das eindrucksvolle
Werk (S. 289-317), das von dem Verlag des Päpstlichen Bibelinstituts
in Rom hervorragend ediert worden ist.

Man darf gespannt sein, wie weit sich die Gesamtkonzeption
Lohfinks bei der weiteren Bearbeitung des DeuterOTomiurns bewährt
. Es ist abzusehen, daß die Stilanalyse unter den exegetischen
Methoden künftig an Bedeutung gewinnen wird. Deshalb
wäre es verdienstvoll, wenn die verschiedenen auf ihrem
Felde gemachten Versuche z. B. von Rost, Hölscher, Schökel,
Lohfink und Richter einmal methodisch verglichen würden, um
auf diese Weise bei Weiterführung des von Schökel 1959 auf
dem Oxforder Alttestamentler-Tage geforderten Dialoges mit der
Literaturwissenschaft einen strengen Kanon für diesen jüngsten
Zweig am Baum der exegetischen Methoden zu gewinnen.

Marburg / Lahn Otto Kaiser

Wildberger, Hans: Jesaja. 1. Lfg. Neukirchen: Neükirchener
Verlag des Erziehungsvereins fl965]. S. 1-80 gr. 8° = Biblischer
Kommentar, Altes Testament, X, 1. DM 7.75.

Ein wissenschaftlicher Jesaja-Kommentar fehlt im deutschen
Sprachraum seit Jahrzehnten, in solcher Ausführlichkeit überhaupt
. So greift man erwartungsvoll zur ersten bisher erschienenen
Lieferung; sie umfaßt die Auslegung des 1. Kapitels und
deutet vom Folgenden noch an, daß der Vf. die Weissagung von
der Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2, 1-5) weiterhin für jesa-
janisch hält.

Der Aufbau folgt der bewährten Aufteilung des Biblischen
Kommentars: Die Textkritik ist ausführlich, wenn man ihr auch
nicht immer folgen wird (so zu Jes 1, 8b ß. Besonders hervorzuheben
ist der Abschnitt „Wort", der meist von der Etvmologic
an ausführliche Begriffsbestimmungen vorträgt. Auf die Wort-
erklärungen legt der Kommentar großen Wert, und hier liegt
auch seine eigentliche Stärke*. Bei so umfangreicher Untersuchung
des Einzelwortes besteht eher die Gefahr, daß die Aussage
des Textganzen zurücktritt. So vermißt man unter „Form"
mehrfach eine strenge Gliederung des Textes (besonders zu 1,
4-9. 10-17), die dessen Aufbau im einzelnen bis hin zum Syntaktischen
verdeutlicht und umgekehrt von der Form aus Intention
und Gesamtsinn erfassen könnte. Die Abgrenzung der sechs
Einheiten von Jes 1 liegt ja fest; gewiß hat W. zu Recht V. 2-3
und 4-9 als Sonderworte unterschieden, die nur durch Stichwortanschluß
und Themenverwandtschaft miteinander verbunden
sind. Das erste Kapitel bildete wohl eine eigene Teilsammlung
, die die prophetische Klage über Israel aus verschiedenen
Epochen - V. 4-9 ist vielleicht Jesajas letztes Wort, während
V. 18 ff. 21 ff. früherer Zeit anzugehören scheinen - zusammenfaßt
und darum dem Buch vorangestellt wurde. Der Abschnitt
„Ziel" vereinigt schließlich die Tendenzen der Auslegung, ohne
eine christologische Deutung zu bieten2.

Gegenüber der um die Jahrhundertwende verbreiteten Sicht
der Propheten als der gottunmittelbaren Einzelnen hat die Forschung
im Gegenzug die vielfältige Traditionsbindung
der prophetischen Botschaft herausgearbeitet. Wurde
aber nicht dieser Überlieferungsbezug zu stark betont, so daß
jetzt die Zeit für einen Rückschlag gekommen ist, der schärfer
die Umwandlung des übernommenen Gutes und damit wieder
die Freiheit gegenüber der Tradition, den Neueinsatz gegenüber
der Vergangenheit erkennt? Doch zieht W. kräftig mögliche
Linien zur kultischen Tradition aus. Zwar wehrt er sich vorweg
gegen eine Auffassung, die auch Jesaja zum „Kultpropheten oder
Beamten der Jahweamphiktyonie" machen könnte; denn der
Prophet rede nicht aus der Unmittelbarkeit kultischer Situation,
in welcher der epiphane Gott selbst gegenwärtig sei (S. 10 f.).
Aber W. sieht die Gemeinsamkeit von Jes 1, 2-20 in der „Aktualisierung
einzelner Elemente der Bundestradition" (S. 73) und
betont: „Es ist aber für das Verständnis Jesajas von grundsätz-

') Der Begriff „Schuld" (1,4) ist mit L. Köhler durch den Gegensatz „bewußt-
unbewußt" kaum recht interpretiert, vgl. R. Knierim, Die Houptbegriffe für Sünde
im Alten Testament, 1965, 239f.

*) Der Kommentar ist reich an Literaturangaben, wenn man auch hier und
da etwas nachtrogen möchte, so zu 1,4-9 H. Donner, Israel unter den Völkern,
1964, 119-121; zur Wundbehandlung mit DI (1,6) E. Kutsch, BZAW 87, 1963 (mit
Lit.) oder zur Opferkritik H. J. Herrn isson, Sprache und Ritus im oltisraelitischen
Kult, 1965.