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Ausgabe:

1967

Spalte:

731-742

Autor/Hrsg.:

Pesch, Otto Hermann

Titel/Untertitel:

Existentielle und sapientiale Theologie 1967

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 10

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Existentielle und sapientiale Theologie

Hermeneutische Erwägungen zur systematisch-theologischen Konfrontation zwischen

Luther und Thomas von Aquin

Von Otto H. Pesch OP, Walberberg

Die letzten Jahre haben auf evangelischer Seite eine Reihe
historischer und systematisch-theologischer Arbeiten über Thomas
von Aquin hervorgebracht, und hüben wie drüben wurde
für verschiedenste Themen die Frage untersucht, ob und wieweit
Luther und Thomas im Grunde, der Sache nach,
einig, herkömmliche Kontroversen also überflüssig sind1. Die
sich mehrenden, bejahenden Urteile beruhen nicht etwa auf ökumenischem
Überschwang, sondern auf sauberer Durcharbeitung
der Texte und ihres gedanklich-begrifflichen Hinterlandes.
Gleichwohl besteht der Konsens nach den Ergebnissen dieser
Arbeiten stets eben nur „im Grunde". Nicht selten ist es geradezu
beklemmend, die eigenartige Hilflosigkeit zu beobachten, mit
der man gestehen mu§, man sei - Luther und Thomas seien -
sich „ganz nahe", aber der letzte Schritt zum vollen Konsens sei
unmöglich, und gerade er sei der entscheidende. Ja, es kann
geschehen, dafj volle sachliche Übereinstimmung unter lediglich
verschiedener Terminologie konstatiert wird, aber eben diese
Verschiedenheit der Worte und Begriffe sei doch wieder, sagt
man, von solchem sachlichen Gewicht, dafj mitten im Konsens
der Graben zwischen Luther und Thomas offen bleibt. Wir
sehen jetzt von der Frage ab, ob der bleibende Gegensatz bei
dieser Lage der Dinge noch mit kirchenspaltender Wirkung aufrechterhalten
werden darf, und fragen vielmehr nach seiner
Natur und Eigenart.

Schon sehr viel ist erreicht, wenn man sich nicht mehr darüber
täuschen läfjt, dafj einerseits oft verschiedene Worte die
gleiche Sache meinen, dafj aber anderseits, was noch wichtiger
ist, hinter gleichen Worten verschiedene Begriffe und gar ganze
Kategoriensysteme stehen, welche Verschiedenheiten im letzten
auf die Grunddifferenz zurückkommen, dafj Luther in der Kategorie
der Beziehung denkt2, Thomas dagegen in naturontologi-
schen Kategorien - das Recht zu b e i d e m bleibe hier au5er-
halb der Debatte. Viel ist weiter gewonnen, wenn man den un-

^ Die wichtigsten Titel von evangelischer Seite sind: H. Lyttkens, The
Analogy between God and the World. An Investigation of its Background and
Interpretation of its Use by Thomas of Aquino, Uppsala 1952; ders., Die Bedeutung
der Gottesprädikate bei Thomas von Aquin (NZSTh 6, 1964, S. 274—289);
P. E. Persson, Sacra Doctrina. En Studie tili förhallandet mellan ratio och
revelatio i Thomas' av Aquino teologie, Lund 1957; ders., Le plan de la
Somme et le rapport Ratio-Revelatio (RPhL 56, 1958, S. 545-572); M. A. Schmidt.
Art. Thomas von Aquin (EKL III, 1959, Sp. 1429-1435); W. Pannenberg, Art.
Thomas von Aquino (RGG3 VI, 1962, Sp. 856-863); G. Ebeling, Der hermeneutische
Ort der Gotteslehre bei Petrus Lombardus und Thomas von Aquin (ZKTh 61,
1964, S. 283-326); ders., Existenz zwischen Gott und Gott. Ein Beitrag zur Frage
nach der Existenz Gottes (ZKTh 62, 1965, S. 86-113); U. Kühn, Via caritatis.
Theologie des Gesetzes bei Thomas von Aquin, Berlin-Göttingen 1964/65;
H. Vorster, Das Freiheitsverständnis bei Thomas von Aquin und Martin Luther,
Göttingen 1965. - Von katholischer Seite sind zu nennen: G. Söhngen, Gesetz
und Evangelium, ihre analoge Einheit, theologisch, philosophisch, staatsbürgerlich
, Freiburg-München 1957; ders., Gesetz und Evangelium (Cath 14, 1960,
S. 81-105); St. Pfürtner, Luther und Thomas im Gespräch. Unser Heil zwischen
Gewißheit und Gefährdung, Heidelberg 1961; R. Gerest, Du serf-arbitre ä la
liberte du chretien. Les cheminements de Martin Luther (Lumiere et vie 12,

1963, Nr. 61, S. 75—120); H.Fries, Die Grundanliegen der Theologie Luthers In
der Sicht der katholischen Theologie der Gegenwart. In: Wandlungen des
Lutherbildes. Studien und Berichte der Katholischen Akademie in Bayern,
Heft 36, hrsg. von K. Forster, Würzburg 1966, S. 157—191. Auch auf meine eigenen
Arbeiten darf ich hier hinweisen: Ein katholisches Anliegen an evangelische
Darstellungen der Theologie Luthers (Cath 16, 1962, S. 69—77); Freiheitsbegriff
und Freiheitslehre bei Thomas von Aquin und Luther (Cath 17, 1963, S. 197—244);
Thomas von Aquin im Lichte evangelischer Fragen. Zu drei neuen Thomas-
Monographien (Cath 20, 1966, S. 54-78); Der hermeneutische Ort der Theologie
bei Thomas von Aquin und Martin Luther und die Frage nach dem Verhältnis
von Philosophie und Theologie (ThQ 146, 1966, S. 159-212); Theologie der
Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch
-theologischen Dialogs, Mainz 1967. Dazu die kleine Gemeinschaftsarbeit:
U. Kühn — O. H. Pesch, Rechtfertigung im Gespräch zwischen Thomas und Luther.
Berlin 1967.

2) Vgl. etwa W. Joest, Gesetz und Freiheit. Das Problem des Tertius usus
legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen 31961, S. 201,
Anm. 56; ferner G. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik (ZKTh 48,
1951, S. 172-230) S. 189-197; ders., Luther, Einführung in sein Denken, Tübingen

1964, S. 92—94; L. Grane, Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit
Gabriel Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam 1517, Gyldendal
(Dän.) 1962, S. 371 f.; 374 f.; L. Haikola, Studien zu Luther und zum Luthertum.
Uppsala-Wiesbaden 1958, S. 7-55; 69-103.

terschiedlichen „Erkenntniswillen"n, d. h. das durchaus aller
theologischen Reflexion vorausliegende, möglicherweise gar nicht
bewußte), unterschiedliche Grundanliegen, das ;Grundinteresse
und das dadurch diktierte je andere Gefälle der Fragen in den
Blick bekommt. Trotz aller heutigen Bemühungen um die Schöpfungstheologie
Luthers'1 ist es, mindestens im Kontrast zu Thomas
, immer noch nicht falsch, diesen Unterschied abkürzend
dahin zu bestimmen, dafj Luthers Theologie sich auf die menschliche
Heilsfrage konzentriert, während der „Erkenntniswille" des
Thomas auf die Betrachtung Gottes als des Schöpfers und der
Welt als Schöpfung zielt5. Wir könnten noch einen Schritt weiter
gehen und nicht nur nach den verschiedenen Inhalten und Themen
des theologischen Denkens hier wie dort, sondern nach
dem verschiedenen Denkstil fragen. Das müfjte zu dem bekannten
Hinweis auf Luthers antithetische Denkweise, auf sein Denken
in Gegensätzen führen, während für Thomas - mindestens
auf den ersten Blick - das ruhige Abfolgen des einen aus dem
anderen charakteristisch scheint0.

Doch stehen wir mit all diesen Feststellungen immer noch
nicht auf dem untersten Boden des Gegensatzes. Denn man
kann sofort weiterfragen, worauf dieser Gegensatz der Kategoriensysteme
, der Anliegen und Denkstile seinerseits zurückgeht
. Diese Frage führt nicht mehr auf einen Gegensatz im
Bereich der Denkinhalte, sondern auf den Unterschied zweier
Weisen, Theologie zu treiben, pointiert ausgedrückt: auf den
Unterschied nicht zweier Den kformen, sondern zweier Denk-
Vollzug sformen. Dieser Unterschied soll mit den Begriffen
„existentielle Theologie" und „sapientiale Theologie" signalisiert
werden. Im Zusammenhang damit stellen wir eine doppelte
These auf: 1) Die beiden - noch zu erklärenden - Vollzugsweisen
,von Theologie bedingen inotwendig verschiedene, ja
gegensätzliche dogmatische Formulierungen hinsichtlich ein und
desselben Sachverhaltes. 2) Alle bisher ermittelten, noch mitten
im sachlichen Konsens bleibenden Gegensätze zwischen Luther
und Thomas beruhen darauf, daß Luther existentielle und
Thomas sapientiale Theologie betreibt, und wecken mindestens
die Frage, ob nicht auch die übrigen, in der Forschung noch
nicht durchgefragten sachlichen Gegensätze zuletzt auf diese
Grunddifferenz zurückgehen.

3) Diesen Begriff übernehmen wir von J. Auer, Die menschliche Willensfreiheit
im Lehrsystem des Thomas von Aquin und des Johannes Duns Scotus,
München 1938, S. 23-25 ; 302.

*) Hier ist vor allem die große Arbeit von D. Löfgren zu nennen: Die Theologie
der Schöpfung bei Luther, Göttingen 1960; ebenso ist der Schöpfungsgedanke
bei Luther in zahlreichen Arbeiten des unvergessenen P. Althaus ein
besonderes Anliegen.

J) Klassisch kommt das zum Ausdruck, wo beide Theologen Aufgabe und
Gegenstand der Theologie bestimmen. Luther: „Theologiae proprium subiecturn
est homo peccati reus ac perditus et Deus iustificans ac salvator hominis pecca-
torris. Quicquid extra hoc subiecturn in Theologia quaeritur aut disputattir,
est error et venenum" (40 II/328, 17; Enorratio Ps 51, 1532). Thomas: „Respondeo
dicendum sacram doctrinam esse scientiam. Sed dicendum est quod duplex
est scientiarum genus. Quaedam enim sunt, quae procedunt ex prineipiies
notis lumine naturali intellectus . . . Quaedam vero sunt, quae procedunt ex
prineipiis notis lumine superioris scientiae ... Et hoc modo Sacra doctrina
est scientia: quia procedit ex prineipiis notis lumine superioris scientiae, quae
scilicet est scientia Dei et beatorum . . ." (Summa Theologiae <= STh) I 1,2
in corp.)......ut sie sacra doctrina sit velut quaedam impressio divinae scientiae
. . ." (STh I, 1,3 ad 2). - Daß Luthers Konzentration auf die Heilsfrage
nichts mit der ihm oft angelasteten anthropozentrisch-subjektivistischen Verengung
zu tun hat, sei am Rande ausdrücklich vermerkt. Sein Ansatz macht nur
Ernst damit, daß all unsere Gotteserkenntnis stets beim Widerfahrnis seines
Heilshandelns an uns beginnt. Daß in diesem Sinne alle Theologie „anthropozentrisch
" ist, wird heute nicht nur allgemein in der katholischen Kirche betont,
sondern gerade auch in der jüngsten Thomasforschung entdeckt. Vgl. J. Metz,
Christliche Anthropozentrik. über die Denkform des Thomas von Aquin, München
1962; U. Kühn, a. a. O., S. 124-128; auch 225-252.

») Man denke an die vielen Gegensatzpaare Luthers: Philosophie-Theologie
, Buchstabe—Geist, Gesetz-Evangelium, Person—Werk, Glaube—Werk, Freiheit
-Knechtschaft, verborgener Gott—offenbarer Gott, usw. Ein charakteristisches
Gegenbeispiel bei Thomas wäre etwa STh I—II 1—5: der vom Glückshunger des
Menschen Schritt für Schritt vorgehende Aufweis, daß Gott aHein das letzte Ziel
des Menschen sein kann.