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Ausgabe:

1967

Spalte:

695-696

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Grafe, Hugald

Titel/Untertitel:

Die volkstümliche Predigt des Ludwig Harms 1967

Rezensent:

Winter, Friedrich

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Seite 1

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€95

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 9

696

R. sammelt alles (auch griechische) Material für den Lebenslauf
dieser bisher weithin unbekannten, aus Kephallenia
tammenden Persönlichkeit und bringt im Anhang eine grofje
/-nzahl von einschlägigen Urkundenbelegen. Das Buch, trefflich
ausgestattet, verdient Beachtung als ein Beleg für die Intensität
orthodox-reformierter Beziehungen in jenem 17. Jh., in dem
die Orthodoxie sich - gerade in Auseinandersetzung mit Lu-
karis - in neuen Glaubensbekenntnissen auf ihre eignenes Erbe
zu besinnen und es gegenüber den beiden abendländischen
Konfessionen abzugrenzen unternahm.

Hamburg Bertold S p u I e r

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Gräfe, Hugald: Die volkstümliche Predigt des Ludwig Harms.

Ein Beitrag zur Predigt- und Frömmigkeitsgeschichte im 19.

Jahrhundert. Göttimgen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965. 256 S.

gr. 8° = Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, hrsg.

v. H. Dörries, 14. DM 24.-.
Auch für das vorige Jahrhundert kennt die Geschichte der
Predigt noch viele umerschlossene oder nur fragmentarisch behandelte
Gebiete. Um so mehr sind Arbeiten zu begrüßen, die
neue Kenntnisse vermitteln. Aus Anlaß des 100. Todestages von
Ludwig Harms ist seiner Predigt eine ausführlkhe Monographie
gewidmet worden, die nicht nur historisch interessant,
sondern auch für das heutige homiletische Gespräch anregend
ausgefallen ist.

„Volkstümlichkeit ist der Grundzug seiner Predigtweise":
Diese These G. Uhlhorns wird vom Vf. zustimmend aufgegriffen
(7) und zum Formprinzip für die Anlage des Buches erhoben
. Dabei läßt er sich von folgenden theologischen Grundsätzen
leiten: „Volkstümliche Predigt ist ,Predigt', d. h. menschliche
Rede, in der Gott spricht, und zwar zum Herzen des Volkes
als einer konkreten, mit bestimmten gemeinsamen Seelenkräften
angefüllten Geschichtsgemeinschaft. Gott aber ist der
Dreieinige: Er redet als der Heilige und Ganz-Andere. Er
redet aber zugleich als der Fleisch gewordene. Und er redet als
der Heiligmachende. Das gilt wie für den Einzelnen so für das
Volksganze, in das dieser hineinverflochten ist. Volkstümlicher
Predigt sind damit drei Aufgaben gestellt: Gott mit dem Volke
so zu konfrontieren, daß es in seiner Ganzheit ihn als den absoluten
Herrn sprechen hört, das Volk dort aufzusuchen, wo es mit
s":nem Volkstum innerhalb der Erhaltungsordnung, d. h. in sei-
r-~ Geschaffenheit wie auch Sündhaftigkeit steht, und es predir
gend seiner göttlichen Bestimmung innerhalb des neuen Gottes-
volkes zuzuführen. Das bedeutet radikale Transzendenz, radikale
Kondeszendenz und radikale Sanctificanz in trinitarischer
Einheit. Volkstümliche Predigt hat senkrecht von oben zu kommen
, vorbehaltlos herniederzusteigen und hoch emporzuheben
'' (12).

Nach einer Grundlegung, die L. Harms als Person würdigt
und eine gründliche Vorstellung der vorhandenen Predigtquellen
mit einer kritischen Analyse ihrer Bedeutung für das Predigtgeschehen
auf der Kanzel in Hermannsburg verbindet, werden
dem Ansatz entsprechend drei Haupttteile entfaltet. Die
„Überweltlichkeit des Wortes" (46-88) zeigt sich darin, dafj L.
Harms von der „Gewißheit des Absoluten" getragen ist, in seinem
Auftreten eine „fremde Macht" wirkt und in seiner Rede
die .^unverkürzte Botschaft" zum Ausdruck kommt. Auch die
„Radikalität in der Diktion der Predigt" und die „Sachgemäßheit
in der Sprache" sind Symptome der Überweltlichkeit des
Wortes.

Im II. Teil wird die „Fleischwerdung des Wortes in der Predigt
von Harms" dargestellt (89-170). Das Wort war „in der
Persönlichkeit von Ludwig Harms" (90) besonders tief verankert
: „Es beginnt sich der Unterschied zwischen Sendendem
und Gesandtem zu verwischen" (100). Sodann ist Harm's Predigt
ein „Wort in den Denk- und Sprachformen des einfachen Volkes",
ein „Wort für den niedersächsischen Bauerncharakter", ein „Wort
für die Zeit" gewesen.

Endlich wird Harms' volkstümliche Verkündigung in einer
dritten „Kategorie des Predigtwortes" sichtbar (171), nämlich in
der „Hedlskraft des Wortes" (Teil HI, 171-227). Der Prediger
ist von der „Wirkungsmacht des Wortes" überzeugt, beachtet
einen „ordo salutis", und der „tertius usus legis" kommt besonders
kräftig zur kerygmatischen Anwendung, weil Harms als
„christlicher Volkserzieher" tätig sein will, „indem rationalistische
Ermunterung zu praktischer Frömmigkeitsübung, pietistischer
Heiligungsernst und orthodoxe Lehrtradition sich in ihm verbinden
" (194). Schließlich wird noch die „tatsächliche Wirkung
der Predigt" in Hermannsburg, Nordwestdeutschland und darüber
hinaus beschrieben. Vor allem der dritte Teil bietet nicht
nur homiletische Beobachtungen, sondern auch wichtige Aspekte
zur Entwicklung der kirchlichen Frömmigkeit in Hermannsburg.

Das kurze Referat vermag nicht die Fülle von treffenden
Beobachtungen und Zitaten wiederzugeben, die in subtiler Einzelarbeit
erschlossen worden sind. Die bisherige Literatur wird
kräftig und auch kritisch verarbeitet. Ein ausführliches Quellenverzeichnis
hat nicht nur gedruckte Titel, sondern auch Archivsachen
zusammengestellt.

Unsere Bedenken richten sich gegen den Grundansatz. So
sehr das volkstümliche Moment als verbindender methodischer
Grundzug immer wieder herausgehoben wird, führt Vf. nicht
alle Eigenarten Harms'scher Predigtweise darauf zurück. Das
geschieht zu Recht, weil das einfach nicht möglich ist. Es ist
weiter die Frage, ob nicht auch viele sogenannte „volkshafte"
Besonderheiten anders gedeutet werden können. Z. B. sollen
Harms' Auffassung von der Verbalinspiration (51), sein biblischer
Realismus (139), seine Satisfaktionslehre (144) auch dadurch
verständlich gemacht werden, daß sie dem Denken des
niedersächsischen Bauern entgegenkämen. Der entscheidende
Einwand gegen des Vf. Art der Interpretation ist jedoch von
Ludwig Harms selbst her zu erheben. Es fällt auf, daß dieser
den Begriff des Volkes wenig gebraucht und ohne einen Ton
darauf zu legen. Es wird also ein Vorverständnis an Harms'
Predigt herangetragen, ohne daß es in seiner eigenen Intention
eine große Rolle spielte. Ebensowenig haben wir feststellen können
, daß sich bei ihm ausdrücklich eine trinitarisch begründete
volkstümliche Predigt fände, deren Hauptmerkmale „im Prinzip
auch bei Luther vorhanden" sein sollen (229).

Es ist dankenswert, daß sich Vf. um die in der heutigen
Homiletik nicht besonders kräftig betonte Kategorie des Hörers
müht und hier vor allem seine volkhafte Einbindung reflektiert
. Daß er dann freilich die Dimension des Volkes so stark akzentuiert
, wird nicht überall auf Gegenliebe stoßen. Immer wenn
Gott spricht, habe er „die geistliche Erneuerung des Volkes und
Volkstums im neuen Gottesvolk zum Ziele" (171). Hier wird
r.icht klar gesagt, daß die christliche Gemeinde und der einzelne
Christ die Kategorie des Volkes aufheben. Gott will die
geistliche Erneuerung des Einzelnen und seine Integration in
die eschatologische Gemeinde. Wenn sich darüber hinaus auch
eine geistliche Einwirkung auf das Volk, in der die Gemeinde
lebt, ereignet, so ist das eine Zugabe, aber nicht Hauptziel des
Wortes Gottes, und damit auch der Predigt. Ob Harms hier
anders gedacht hat, geht aus des Vf. Ausführungen nicht hervor.

Einige Irrtümer sind zu nennen: S. 15: Der bei Saalfeld gefallene Prinz Louis
Ferdinand war ein Neffe Friedrich II. und damit ein preußischer, aber kein
weifischer Prinz. — S. 48, Anm. 17: In der zitierten Passionspredigt wird nicht
L. Harms, sondern Jesus gegen den Vorwurf geschützt, ein „Winkelpredlger"
zu sein. — S. 50: Daß für Claus Harms, den Namensvetter, „ganz anders" als bei
Ludwig Harms, Predigen nicht mit Auslegen gleichbedeutend ist, dürfte so alternativ
nicht gelten. — S. 105: Steinmeyer versteht In seiner Homiletik unter einer
Individualisierung, die er als „Füllstück" bezeichnet, etwas anderes als Vf. —
S. 154, Anm. 200: Es wird nicht gesagt, daß der Schöpfer die „Naturkirche der
Schöpfung" gebaut habe, sondern der Heilige Geist. — S. 161: K. Borth wendet
sich nicht dagegen, daß ein seelsorgerliches Wort zu sagen ist. Es fragt sich
nur, wie es formuliert werden soll. — S. 7 und 227: Ob Luther, vor allem mit
fortschreitendem Alter, „unbestritten" und stets ein „volkstümlicher Prediger"
gewesen ist, wird man wohl nicht sagen können.

Trotz der erhobenen Bedenken sei abschießend betont, daß
das Buch für die homiletische Theorie und Praxis im einzelnen
gute Anregungen bietet. Die „erweckliche Predigt" des Ludwig
Harms zu studieren, dürfte noch heute lehrreich sein.

Rüdersdorf b. Berlin Friedrich Winter