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Ausgabe:

1967

Spalte:

633-636

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Titel/Untertitel:

Geschichte der evangelischen Kirchenmusik 1967

Rezensent:

Albrecht, Christoph

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 8

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K. erkennt das geschichtliche Recht und die unbestreitbare
Bedeutung des nachtridentinischen liturgischen Zentralismus an,
der den divergierenden und destruktiven Tendenzen des Zeitalters
zum Trotz die römische Kirche wie eine »Stahlklammer" zusammenhielt
(S. 128). Doch weist er auch auf die gefährlichen
Fehlentwicklungen und Entartungserscheinungen hin, die das
liturgische Leben in diesem Abschnitt kennzeichnen: die unhistorische
, verständnislose Verfahrensweise der römischen Ritenkongregation
bei der Behandlung liturgischer Fragen; die ungeschichtliche
, vorwiegend juridische Betrachtungsweise der
Liturgie überhaupt; die Unterdrückung eines schöpferischen,
bodenständigen gottesdienstlichen Eigenlebens in den Teilkirchen;
die Entwicklung eines ungesunden, übersteigerten eucharistischen
Kults, der als eine Art Paraliturgie in Konkurrenz zur eigentlichen
Liturgie der Messe tritt und die Gläubigen noch stärker dem ursprünglichen
, zentralen gottesdienstlichen Geschehen entfremdet;
die Übernahme des Zeremoniells barocker Fürstenhöfe in den
liturgischen Raum.

Man kann sich dem Wunsche des Verf., das Buch möge „für
die Liturgiegeschichte das werden, was für die Patristik längst
Altaners Patrologie geworden ist", nur voll und ganz anschließen.
Es gibt kaum eine Veröffentlichung, die geeigneter wäre, „das
maßgebende Hilfsmittel für jedermann" zu werden, als diese
flüssig und interessant geschriebene Arbeit, die dem Leser eine
Fülle von Durchblicken und Informationen vermittelt und ihn an
alle wichtigen Probleme der abendländischen Liturgiegeschichte
heranführt.

Ein kurzes, etwas flüchtig geschriebenes Nachwort über die
Liturgiekonstitution und die römische Instruktion vom 26. 9.1964
leitet den umfangreichen, wertvollen Anhang ein, der neben den
-Richtlinien für die Gestaltung des Gotteshauses" aus dem Jahre
1949 eine ausführliche liturgische Bibliographie enthält, die zur
Weiterarbeit über die behandelten Fragen anregt und sich hierbei
als eine wahre Fundgrube erweist. Ein sorgfältiges Bibelstellen-,
Autoren- und Sachregister vervollständigt den positiven Eindruck,
den dieses vorzügliche Buch uneingeschränkt hinterläßt.

Sagard / Rügen Karl-Heinrich B i e r i t z

Blume, Friedrich: Geschichte der evangelischen Kirchenmusik.

2., neubearb. Aufl., hrsg. unter Mitarb. v. L. Finscher,
G.Feder, A. Adrio u. W.Blankenburg. Kassel-Basel-
Paris-London-New York: Bärenreiter-Verlag 1965. XII, 467 S.,
161 Abb. a. Taf., Faksimiles u. Notenbeispiele 4°. Lw. DM 86.-.

34 Jahre nach der ersten Auflage (damals in E. Bückens Handbuch
der Musikwissenschaft) legt Friedrich Blume eine Überarbeitung
und Erweiterung seiner „Geschichte der evangelischen
Kirchenmusik" vor, die der Bärenreiter-Verlag in einer mustergültigen
Aufmachung mit zahlreichen Abbildungen und Faksimiles
herausgebracht hat. Das Werk gliedert sich in sechs Teile: I. Das
Zeitalter der Reformation (Blume / Finscher). - II. Das Zeitalter
des Konfessionalismus (Blume). - III. Verfall und Restauration
(Feder). - IV. Erneuerung und Wiederbelebung (Adrio). - V. Die
Kirchenmusik in den reformierten Gebieten des europäischen
Kontinents (Blankenburg). - VI. Die Musik der Böhmischen
Brüder und der Brüdergemeine (Blankenburg). Die Kirchenmusikgeschichte
zeigt, wie stark sich der Wandel der evangelischen
Kirchenmusik nicht nur in stilistischer Hinsicht, sondern auch
ttaterialiter vollzogen hat: Die Kirchenmusik des Reformationszeitalters
ist zuerst und überwiegend Kirchenliedgeschichte. (So
ist das erste Kapitel ein ausgezeichneter Beitrag zur Hymnologie.)
Das Gemeindelied und das Gesangbuch der Gegenwart werden dagegen
über der Fülle der „großen" vokalen und instrumentalen
Kirchenmusik fast völlig ignoriert. Hier liegt eine etwas unglückliche
perspektivische Verkürzung in der Darstellung vor.

Das landläufige Bild von der idealen Kirchenmusik der Reformationszeit
vor dem Einsetzen des Verfalls (Paul Graff) wird einer
notwendigen Korrektur unterworfen: Die - meist lateinische -
Kunstmusik überwucherte und verdrängte mehr und mehr das
Gemeindelied. Es kommt „zu einer erneuten Spaltung der Kultgemeinschaft
, nur daß das Ergebnis nicht wie in der katholischen

Kirche die hierarchische Scheidung in Priester- und Laientum,
sondern die geistesaristokratische Rangordnung des Humanismus
in Bildung und Unbildung war." (74) - Beglückend klar wird der
weithin überkonfessionelle Charakter der Kirchenmusik herausgearbeitet
. Es ist immerhin beachtlich, wenn selbst für die Zeiten
schärfster kontroverstheologischer Auseinandersetzungen von
einer „fast vollständigen Literaturgemeinschaft beider Konfessionen
" gesprochen werden kann (73).

Für die Epoche der Gegenreformation stellt Blume Leben und
Schaffen aller bedeutenderen Komponisten anschaulich vor Augen,
ohne die übergreifende Gliederung nach Gattungen (Liedschaffen,
Lateinische Motetten, Lied- und Choralmotetten, Spruchmotetten
u. a.) aufzugeben. - Die Osiandersche Reform (grundsätzliche Verlegung
des cantus firmus in den Sopran des Liedsatzes, damit die
Gemeinde ihn besser hören bzw. mitsingen kann), die den Choralbuchsatz
bis in die Gegenwart bestimmt, wird von Blume kritisch
betrachtet: „Es ist der Punkt der Entwicklung erreicht, an dem
kirchliche Zwecksetzung und künstlerischer Wert erstmalig mit
Entschiedenheit auseinandertreten" (85).

Die evangelische Kirchenmusik der Barockzeit wird durch ihre
innere Bezogenheit auf Orthodoxie und Mystik überzeugend
cnarakterisiert. Die Arfekthaftigkeit der Musik entspricht der
neuen religiösen Lyrik. „Das hochbarocke Italien lieferte die
Mittel; aen iüeengenalt brachte das Luthertum bei" (122). Andererseits
„ist nicht zu verkennen, daß ein gewisser Bildungs- und
Repräsentationsanspruch in die Musik des lutherischen Bereiches
hinübergreift" (121). Die bekannten Kontroversen um die „opern-
hafte Kirchenmusik" sind die Folge. - Pietismus und Orthodoxie
haben sich im Kampf gegenseitig befruchtet. Davon hat auch die
evangelische Kirchenmusik, besonders das barocke Kantatenschaffen
, profitiert. Blumes Versuch, den „unkirchlichen Bach"
als neues Bachbild in die Musikwissenschaft einzuführen (sein
Mainzer Vortrag, der vor wenigen Jahren die Gemüter erregte!)
klingt glücklicherweise in dem vorliegenden Buch nur ganz am
Rande an: Es sei „gleichgültig, ob der Mensch Bach, der hinter
diesem Werke steht, sich ursprünglich oder später zum Kirchenmusiker
berufen gefühlt hat oder nicht, ob er sich seiner eminenten
Sendung bewußt gewesen ist oder nicht" (212). Daneben bzw. dagegen
stehen Sätze wie der: „Bachs beste Kantaten sind musikalische
Predigten" (191). - Es versteht sich von selbst, daß Blume
die neue Chronologie der Bachkantaten (von Dadelsen, Dürr) eingearbeitet
hat. Gegen Smend behauptet Blume die Einheit der
h-Moll-Messe mit der überzeugenden Erklärung, daß Bach die ursprüngliche
Missa brevis (Kyrie und Gloria) „gegen Ende seines
Lebens ... im Zuge seines Bemühens um die Sammlung und Ab-
rundung seines Lebenswerkes ... zu einer vollständigen Messe
ergänzt" hat (210). Schütz und Bach werden als die überragenden
Gipfel unter den Meistern evangelischer Kirchenmusik angesehen.
Dabei ist es dann eigentlich unverständlich, warum Schützens
Passionen das Etikett bekommen: „Sie sind nicht Gemeindemusik"
(147), oder warum Blume im Blick auf den Becker-Psalter meint
feststellen zu sollen: „Der gewaltige Heinrich Schütz war kein
Melodieerfinder" (89), ganz zu schweigen von dem summarischen
Urteil: „die jeder Volkstümlichkeit abgeneigte Musik Schützens"
(154).

Übrigens wird man auch Blumes Pauschalurteil über das Liedschaffen
der Brüdergemeinde (das gegenüber der ersten Auflage
schon gemildert ist!) kaum akzeptieren können - bei aller berechtigten
Kritik, die laut werden muß -: „Der Herrnhutische Kreis . . .
trieb die rationalistische Verflachung und Banalität sowie die
mystisierende Ekstatik und Versüßlichung auf die Spitze . . .
Zinzendorf selbst soll etwa 2000 Lieder geschrieben haben, die von
Paul Gerhardtscher Schlichtheit bis zu fast psychopathischer Verstiegenheit
reichen" (174).

Gar zu leicht erweckt es den Anschein, als ob die evangelische
Kirchenmusik nach 1750 einen steilen Abfall erlebt habe. Dieser
Eindruck ist nur bedingt richtig, ist aber leicht zu verstehen, weil
meist einzig Johann Sebastian Bach als Inbegriff der Kirchenmusik
vor 1750 zum Vergleich herangezogen wird. Georg Feder nimmt
mit Recht die Unterscheidung vor „zwischen Erscheinungen wirklichen
Verfalls und bloßem Geschmackswandel", „zwischen Verfall