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Ausgabe:

1967

Spalte:

622-625

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Rendtorff, Trutz

Titel/Untertitel:

Kirche und Theologie 1967

Rezensent:

Peters, Albrecht

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 8

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Das ist nun ganz unkantisch! Aber weil die Kategorien nach T.
die Qualität der Selbst-Transzendierung haben, können sie in
der religiösen Sprache als Symbole verwendet werden (I, 303.
Hl, 360). So ist die Kategorie der Kausalität zunächst eine endliche
(I, 247), aber auf Gott bezogen wird sie zum Symbol (I,
248). Dasselbe gilt von der Kategorie der Substanz (I, 234. 281.
III, 359). Dagegen muß doch wohl eingewendet werden: Erstens
ist es ein Widerspruch, daß die Kategorien endlich sein und
zugleich im göttlichen Leben gegenwärtig sein sollen. Zweitens
ist nicht einzusehen, wie die Kategorien Symbole werden
sollen. Wir verstehen, dafj Vorstellungen wie „Vater", „Gnade",
-Reich Gottes" usw. Symbole sind. Aber die Kategorien sind
apriorische Denk- und Seinsbeqriffe oder sie sind gar nichts!
Und drittens: Wenn der Begriff des Sein-selbst kein Symbol
für Gott sein soll, sondern eine adäquate Aussage, warum gilt
das nicht auch für die übrigen Kategorien, die doch, wie Hegel
nachgewiesen hat, alle aus der Kategorie des Seins dialektisch
entwickelt werden können? Der Beqriff des Sein-selbst ist nicht
nur eine Kategorie, sondern unterscheidet sich von den anderen
Kategorien lediglich durch seine Abstraktheit. Und ausgerechnet
diese abstrakte (neuplatonische!) Kategorie soll der einzig adäquate
Begriff für Gott sein?!

C.

T.'s Theologie ist eine dialektische, aber seine Dialektik
ist nicht die von K. Barth und distanziert sich trotz bedeutender
Einflüsse von Seiten Hegels auch von der hegel-
schen. T.'s Theologie wird neben anderen Begriffen bestimmt
v°n dem Geqensatz Essenz-Existenz. Die Essenz geht
über in die Existenz oder die reine Potentialität wird aktuell.
Existieren heifit heraustreten aus dem eigenen Nichtsein (II, 26).
Der Übergang von der Essenz zur Existenz ist irrational (II, 9),
ein Faktum, aber keine absolute Norwencliqkeit (II, 36), kein
Ereignis in Raum und Zeit (II, 48). Die vollständige Erörterunq
der Beziehung der Essenz zur Existenz ist nach T. identisch mit
dem qanzen theologischen System (I, 242)! Diese aus Aristoteles,
Kierkegaard und Heidegger stammenden Beqriffc qlaubt T.
gegen Hegel ins Feld führen zu dürfen. Er wirft Hegel einseitigen
Essentialismus vor. Hegel nehme die Existenz in die Essenz
^'nein und leite sie als logische Folge aus der Essenz ab, ohne
Kluft und ohne Sprung (II, 29 f.). Daher hätte Hegels System
auch keinen Raum für den Sündenfall. Gegen diesen Essentialismus
Hegels habe sich dann mit Recht der moderne Existentialismus
gewandt (II, 30). Aber diese Deutung Hegels ist irrig!
T. verkennt, dafj bei Hegel das Essentielle nur die absolute
Idee, Gott an sich, ist, und dafj Gott nicht, wie T. will, jenseits
von Essenz und Existenz „ist" (das wäre Schellingsche
Theologie!), sondern dafj bei Hegel der absolute Geist über
der Essenz und der Existenz steht und beide umschließt.

Obgleich aber T. den angeblichen Essentialismus Hegels bekämpft
, ist er gerade in seinen tiefsten dialektischen Einsichten
von Hegels „imponierendem System" (I, 72) beeinflußt. So
vor allem in seiner Trinitätslehre. Diese ist nach T. weder irrational
noch paradox, sondern dialektisch, und zwar spiegelt
sie die Dialektik des göttlichen Lebens ab (I, 325 f.). Denn
der Rhythmus des göttlichen Lebens ist der Weg vom Potentiellen
über die aktuelle Trennung zur Wiedervereinigung und
Erfüllung (III, 475). Wer erkennt da nicht Hegels Dreischritt
These, Antithese und Synthese?! T.'s Lehre von der Trinität und
dem göttlichen Leben ist reiner Hegelianismus (I, 476. II, 100)!
Die Dialektik weist auf das ewige Mysterium des Grundes des
Seins hin (II, 101). Es geht in der Trinität nicht um die Zahl
drei, sondern um den lebendigen Gott, um die „Momente"
(nicht Personen!) im göttlichen Lebensprozeß (I, 270. 295f.). Ja,
T. kann sagen, daß die Dialektik Hegels die begriffliche Umformung
des trinitarischen Monotheismus ist (I, 277)! Die Trinität
ist eine Konsequenz des Satzes, daß Gott Geist ist (I, 295).
Das sind seltene Einsichten in unserer Theologie!

Um so erstaunlicher ist es, daß sich T. dann wieder von der
Dialektik Hegels distanzieren zu müssen meint. Aber es ist
leicht zu sehen, daß er hier ein Opfer traditioneller Mißdeutungen
Hegels geworden ist. So wirft T. Hegel „Hybris" vor,
weil er ein System endgültiger Wahrheit aufstellen wollte und
in der Geschichte den Weg der Vorsehung ergründen zu können
meinte (II, 59. III, 424). Auch behauptet T., Hegel habe die Dialektik
wie ein Schema der Wirklichkeit aufgezwungen und daher
z. B. in der Enzyklopädie keinerlei Erkenntnisse erzielt (III,
293. 376). Allein erstens hat Hegel nie behauptet, daß sein
System die endgültige Wahrheit sei, sondern hat deutlich
erklärt, daß jedes philosophische System, also auch das seine,
zeitbedingt und Ausdruck seiner Zeit sei. Zweitens hat
Hegel in der Geschichte nur die Gesetze des Geschichtsprozesses
ergründen wollen, keineswegs Gott hinter die Kulissen
geschaut. Und was den Vorwurf der „Hybris" anbelangt, so
hätte T. beachten sollen, was Hegel über die „wahre Demut"
geschrieben hat. In seinem Verhältnis zu Hegels System und
zur Dialektik überhaupt zeigen sich Tiefe und Grenzen des
T.'schen Denkens.

Man hat gelegentlich T. den Thomas von Aquino des 20.
Jahrhunderts genannt. Das ist woh! eine Übertreibung. An einen
Thomas von Aquino reicht so leicht kein Theologe heran, ebensowenig
wie unsere Theologie bisher an einen Fichte, Schelling
oder Hegel herangereicht hat. Aber an die großen Systematiker
des 19./20. Jahrhunderts, an Schleiermacher, R. Rothe, I. A. Dorner
, A. E. Biedermann, O. Pfleiderer und R. Seeberg schließt
sich T. würdig an und übertrifft diese Theologen in wesentlichen
Einsichten.

Haldensleben Erik Schmidt

Rendtorff, Trutz: Kirche und Theologie. Die systematische
Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie. Gütersloh
: Gütersloher Verlagshaus G. Mohn [1966]. 224 S.
gr. 8°. Lw. DM 28.-.

In seiner überarbeiteten Münsterer Habilitationsschrift geht
Rendtorff aus von der „Wiederentdeckung" der Kirche im 19.
und 20. Jahrhundert (Kap. I, S. 11-25) und zeigt, wie dies ansetzt
bei Schleiermacher. In einem betonten Gegenüber zu den
gegenwärtigen Bestrebungen, eine konkrete Ekklesiologie zu
entwickeln, möchte Rendtorff den systematischen Ort der Kirche
im Gesamthorizont des protestantischen Selbstverständnisses bewußt
machen. Erst mit dem Aufbrechen eines geschichtlichkritischen
Denkens gewinne die Theologie den vollen Blick für
das Phänomen Kirche.

In vier in sich geschlossenen und sorgfältig durchgestalteten
Kapiteln sucht Rendtorff die Hauptstadien dieses neuzeitlichen
Selbstverständnisses der Christenheit zu skizzieren. Zunächst
exemplifiziert er die aufbrechende Spannung zwischen der tradierten
Kirchlichkeit und dem modernen Geschichtsbewußtsein
an Semler; dessen Drängen auf eine „Privatreligion" wie „Privattheologie
" neben und innerhalb der offiziellen Kirchenlehre
und Frömmigkeit schürzt den Knoten. Sodann skizziert Rendtorff
die beiden klassischen Versuche, die „Idee des Christentums"
mit dem geschichtlich-wissenschaftlichen Weltverständnis erneut
zur Harmonie zu bringen, den mehr aus der inneren Selbstbewegung
des Verstehensvollzuges heraus entwickelten Hegels
und den durch eine Theorie sittlicher Vergesellschaftung untermauerten
Schleiermachers. Als negatives Gegenbild dienen die
Anfänge der dialektischen Theologie, welche in der Diastase zur
modernen Kulturentwicklung verharren und unkritisch zurückgreifen
auf die „vorneuzeitlichen Überlieferungen", so vollziehe
sich hier im Gegenzug zur Aufklärung die Emanziptation der
Kirche aus der Welt.

Bereits diese Anordnung drängt hin auf eine Wiederaufnahme
des Programmes der Vermittlungstheologen des vorigen Jahrhunderts
. „Die Aufklärungstheologie, die die Allgemeinheit der
christlichen Religion deren kirchlicher Fassung abzugewinnen
suchte, und die dialektische Theologie, die die Besonderheit des
Offenbarungsglaubens der allgemeinen Geschichte des Christentums
zu entreißen suchte, um sie allein der Kirche zuzuweisen.