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Ausgabe:

1967

Spalte:

613-622

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

Systematische Theologie, III: Das Leben und der Geist. Die Geschichte und das Reich Gottes 1967

Rezensent:

Schmidt, Erik

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613

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 8

«14

über Bonhoeffer. in dem M. die objektive - nicht subjektiv
bewußt gewordene - Liquidierung des Unternehmens Theologie
vrie den ehrenhaften Abschluß der Theologiegeschichte konstatiert
(S. 149). Dieses Urteil begründen freilich einige fragwürdige
Voraussetzungen, die M. immer wieder an die ganze Problematik
heranträgt und zu denen abschließend - als kritische
Gegenfrage an die an sich nicht nur in der Form brillante
Studie - noch folgendes angemerkt sein soll:

1) Obwohl M. gerade an der dialektischen Theologie mehr als
einmal hervorhebt, daß die heutige Theologie zwischen rationaler
Erklärbarkeit und Wirken Gottes keinen Widerspruch empfindet
, kommt er doch zu dem Schluß, daß es vor allem darum
Singe, die Entstehung des Christentums, behauptete .Wunder',
religiöse Erlebnisse, Krisen, Grenzstationen usw. natürlich bzw.
wissenschaftlich zu erklären. Er scheint auch 2) vorauszusetzen,
daß natürliche Erklärung einer Lebenskrise gleichbedeutend mit
ihrer Beseitigung wäre und das bloße rationale Durchschauen
schon die verlangte bessere Antwort auf Lebensfragen.
Und er sieht 3) an jener besseren Antwort nur das Gedankliche
ihres Inhaltes, aber nicht, daß es darauf ankommen könnte, daß
sie zum Wir-Erlebnis einer Gemeinde wird und in anderer Autorität
ergeht als im Namen einer .Wissenschaft", die gerade der
moderne Mensch - vielleicht undankbar genug - nicht nur an
ihren Erfolgen mißt. 4) Auch bedeutet rationale Einsicht noch
nicht .einheitliche Weltanschauung', die stets mehr eine
Sache der Pragmatik als der Wissenschaftlichkeit ist. Das .Gesetz
der Geschichte' könnte gerade die ewige Dualität sich
gegenseitig begrenzender Standpunkte sein (vgl. S. 98/99 zu
Kant); und warum sollte das weniger human sein als professionelles
Befreien vom Aberglauben und zur Einheitlichkeit des
Meinens? 5) Die Dimension des Ethischen beginnt überhaupt
erst da, wo eine Ambivalenz im Fachwissenschaftlichen eine
Entscheidung erzwingt. Sollten schließlich 6) tatsächlich alle
Zwiespältigkeiten und Krisen beseitigt sein (sollte besonders
der Marxismus die „vor allem praktische Lösung aller Probleme,
die in der menschlichen Gesellschaft, im menschlichen Zusammenleben
und im Inneren eines Menschen ... auftauchen" (S.
161], gebracht haben), warum sollte nicht denkbar sein, daß
christlicher Gemeinde gerade dies zum Anlaß würde, stellvertretend
für die Welt hier Dank und Lob zu sprechen in der
Überzeugung, daß dies nicht einfach menschlichen Anstrengungen
zu verdanken ist (vgl. Barth: KD IV/3, S. 992). Und welchen
humanen Sinn könnte es haben, jener Gemeinde diese
Überzeugung auszureden?

Berlin Hans-Georg Fritzsche

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Tillich, Paul: Systematische Theologie. III: Das Leben und
der Geist. Die Geschichte und das Reich Gottes. Übers, v.
R. Albrecht u. L Henel. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk
[1966], 534 S. 83. DM 25.60; Lw. DM 32.-.

Der so lange erwartete 3. Band der Systematischen Theologie
Paul Tillichs ist nun endlich auch in deutscher Sprache erschienen
. Dieser 3. Band, umfangreicher als die beiden ersten Bände,
bietet eine solche Fülle geistreicher und tiefer Gedanken, daß
es unmöglich erscheint, in einer Rezension diese Fülle auch nur
anzudeuten. Rez. möchte daher statt dessen den Versuch machen
, in aller Kürze eine Gesamtcharakteristik und Wertung
des ganzen dreibändigen Werkes nach einigen grundlegenden
Gesichtspunkten zu geben.

L

P. T.'s Theologie ruht auf biblischer Grundlage, lehnt
aber einen einseitigen B i b 1 i z i s m u s ab. Schlägt man im Register
die von T. zitierten Bibelstellen nach, so ist ihre Zahl
auffallend gering. T. sieht davon ab, bestimmte Behauptungen
durch geeignete Bibelzitate zu belegen und sein System direkt
auf einer biblischen Theologie aufzubauen. Statt dessen bevorzugt
er philosophische, psychologische und soziologische Begriffe
, auf die Gefahr hin, daß die Substanz der christlichen

Botschaft darunter leidet. Dennoch ist jeder Teil seines Systems
durch biblische Gedanken bestimmt (III, 14). Wir würden fehl
gehen, wenn wir diesen Tatbestand verkennen wollten! Die
Bibel, sagt T., ist das Dokument der zentralen Offenbarung,
des Ereignisses der Offenbarung und ihrer Aufnahme
(III, 149). Sie ist die älteste Kunde und Urkunde von den Ereignissen
, auf denen das Christentum beruht, und das ursprüngliche
Zeugnis der Empfänger der Offenbarung. Darauf beruht
die Bedeutung der Bibel, und darum ist sie die grundlegende
Quelle der Theologie (I, 45). Aber die Bibel ist weder die
einzige Quelle der Theologie, wie die Neu-Orthodoxie behauptet
, noch einfach ihre Norm. Sie ist nicht die einzige
Quelle, weil das „Wort Gottes" nicht auf die Bibel beschränkt
ist und der Akt der Offenbarung nicht mit einem inspirierten
Bibel-Buch identisch ist. Das Kerygma umfaßt mehr und weniger
als die Bibel (1,45). Und die Bibel ist nicht einfach die
Norm der Theologie, weil die Norm nur i n ihr ist als das Kriterium
für die Handhabung der Bibel durch die Theologie. Die
Norm ist ein aus der Bibel hergeleitetes Prinzip (1,62 f.).

Aus diesen Gründen lehnt T. jeden B i b 1 i z i s m u s ab. Der
Biblizismus ist erkenntnistheoretisch naiv. Er möchte bei der
Auslegung der Schrift alle ontologischen Begriffe vermeiden
. Das aber ist vergeblich, denn die Bibel selbst benutzt auf
jeder Seite, in jedem religiösen und theologischen Text solch e
Begriffe (I, 29 f.). Nicht als enthielte die Bibel ausgesprochen
ontologische Gedankengänge. Aber kein biblisches Symbol ist
ohne ontologische Basis. Würde man die in der Bibel vorhandene
potentielle Ontologie übersehen, so wäre die Theologie
auf die Wiederholung und Systematisierung von Bibelworten
reduziert (II, 18). Dann würde eine biblizistische Theologie aufhören
, Theologie zu sein, was sie auch manchmal gern möchte
(T, 29 f. II, 35)! Die radikal biblizistische Haltung ist überhauot
eine Selbsttäuschung, sie verkennt ihre eigenen Voraussetzungen
, die sie erst der nachreformatorischen dogmatischen Entwicklung
verdankt (I, 47). Vor allen Dingen fehlt dem Biblizismus
die Einsicht in den Symbol-Charakter der biblischen Aussagen
. Er nimmt sie wörtlich, literalistisch, und verkehrt sie
dadurch ins Abergläubische und Absurde. Damit leistet er dem
Christentum und der Kirche einen schlechten Dienst (n, 35.
III, 25)! So ist T.'s Theologie biblisch begründet und zugleich
frei und offen für alle philosophischen und theologischen Probleme
.

n.

P. T.'s Theologie ist eine apologetische Theologie. Das
bedeutet: Als Funktion der Kirche hat die Theologie zwei Bedingungen
zu erfüllen, die Wahrheit des Kerygmas auszudrük-
ken und der jeweiligen Generation adäquat zu sein (I, 9). Sie
muß eine antwortende Theologie sein, die auf die Fragen
, welche die Situation stellt, eingeht (I, 12). Die Situation
ist heute bestimmt durch den Säkularismus, den Humanismus,
den Nationalismus und den Sozialismus. Würde die Theologie
auf diese Situation nicht eingehen, so wäre sie a-kairos (III, 13).
Auch die fremden Kulturen und Religionen stellen Fragen und
bewegen sich von sich aus auf die christliche Antwort hin (I, 23).
Nur so kann die Theologie die methodische Auslegung
des Inhalts des christlichen Kerygmas sein (I, 22). Denn die
jeweilige Situation und das Kerygma werden zusammengebracht
durch die Methode der Korrelation (I, 15). Es ist
dies die Korrelation zwischen den existentiellen Fragen und den
theologischen Antworten. Beide sind zunächst voneinander unabhängig
. Man kann die Frage nicht von der Antwort und die
Antwort nicht von der Frage ableiten. Die existentielle Frage ist
nicht die Quelle der Antwort der Offenbarung, und diese kann
nicht aus der Analyse der Situation erschlossen werden (II, 19).
Aber man kann auch nicht umgekehrt die existentielle Frage
von der Antwort der Offenbarung ableiten, wie es K. Barth
möchte. Denn die Offenbarung wäre sinnlos, wenn sie nicht die
Antwort auf eine zuvor gestellte Frage wäre (II, 20 f.). Der sog.
theologische Zirkel hat zwei Brennpunkte, die existentielle
Frage und die theologische Antwort (II, 21). Der Theologe aber
steht nicht außerhalb des Zirkels, sondern gehört in ihn hinein.