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Ausgabe:

1967

Spalte:

601-602

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wintzer, Friedrich

Titel/Untertitel:

Claus Harms 1967

Rezensent:

Winkler, Eberhard

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Seite 1

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€01

zu einer Auseinandersetzung mit dem Idealismus und der Historie
genötigt. Auch an Schleiermacher konnte sie nicht vorübergehen
. Hierfür ist vor allem die Tübinger Schule positiv
zu nennen (1-110). Radikale Lösungen, wie die von Hermes
und Günther (11-176), verfielen freilich der Indizierung. Dasselbe
gilt von Ignaz v. Döllinger (261-292). Eine Kursänderung
vollzieht sich in der Neuscholastik (315-408), die nach dem
Urteil des Herausgebers nicht einseitig als Reaktion verstanden
werden darf (XXXIX ff.). Daneben sind besondere Abschnitte
der „Laientheologie" (Baader, Görres, Pilgram, 177-260), der
«personalistischen Theologie" (Deutinger, Schell, 409-471) und
den „Vermittlungstheologen" (Karl Werner, Alois v. Schmid, 471-
522) gewidmet. Die rechte Auswahl der Texte stellt natürlich
in diesem Fall ein besonders schwieriges Problem dar. Ob sie
den katholischen Theologiehistoriker in allem voll befriedigen
wird, wage ich nicht zu entscheiden. Sie erweckt aber den Eindruck
möglichster Ausgewogenheit und dient jedenfalls, verbunden
mit den instruktiven Einleitungen, in vorzüglicher Weise
einer allgemeinen Orientierung über dieses noch zu wenig bekannte
Gebiet, über das es zwar nicht an zahlreichen SpezialStudien
fehlt, das aber noch auf eine umfassende Gesamtdarstellung
von evangelischer Seite wartet.

Erlangen Walther v. Loewenich

Wintzer, Friedrich: Claus Harms. Predigt und Theologie.
Flensburg: Wolff [1965]. 216S. gr. 8° = Schriften d. Vereins f.
Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, I, 21. Kart. DM 14.80;
Geb. DM 16.80.

Diese Göttinger Dissertation gehört zu den Anzeichen, die
darauf hindeuten, dafj die Geschichte der Predigt in der Forschung
wieder stärker beachtet wird. Indem die Arbeit in die Auseinandersetzung
zwischen Rationalismus und Orthodoxie hineinführt,
berührt sie eine Fülle aktueller Probleme.

Nach einigen methodischen Vorbemerkungen skizziert W. das
Wirken und den theologischen Werdegang von Claus Harms (S. 17
bis 31). Während in Harms' ersten Studentenpredigten rationalistischer
Einfluß spürbar ist, zeigt sich gegen Ende des Studiums
die Anregung durch Schleiermacher. Sie bekundet sich in der
Polemik gegen die „moralische Religion", im Bemühen um die
Begründung eines selbständigen Religionsbegriffes und im Streben
nach einem entsprechenden Neuansatz der Ethik (S. 22). Noch in
der Lundener Zeit (1806-1816) ist Harms' Glaubens- und Religionsbegriff
„beherrscht von dem Enthusiasmus einer Geistmetaphysik,
die schwärmerisch-spiritualistische Züge trägt" (24; ob dieses
charismatische Element das negative Attribut „schwärmerisch"
verdient, darf wohl gefragt werden). Die Hinwendung zum
biblisch-reformatorischen Christentum ist das Ergebnis einer Entwicklung
, die sich nicht genau fixieren läfjt (S. 28). Der Thesenstreit
(Ende 1817 bis etwa 1820) führte Harms zu einer gewissen
Klärung seiner theologischen Position, die in den Thesen selbst
noch nicht vorliegt. Mit Recht lehnt W. eine Überbewertung der
Thesen für das Gesamtverständnis von Harms ab.

Der zweite Teil gewährt Einblicke in den Inhalt der Predigten
(S. 32-85) und führt schon hinein in die grundsätzlichen Fragen,
die im dritten und vierten Teil erörtert werden („Zur Grundlegung
der Predigt", S. 86-106, sowie „Bindung und Freiheit der Predigt",
S. 107-119). Dem fünften Teil, in dem kurz auf die Gestalt von
Harms' Predigten eingegangen wird (S. 120-125), folgen „kritische
Erwägungen zu Harms' Predigtverständnis und zur theologiegeschichtlichen
.Einordnung' von Harms" (S. 126-137). Als Anhänge
sind ein Verzeichnis der gedruckten Predigten, ein Textregister
, ein Verzeichnis der unveröffentlichten Predigten, die
besonders herangezogen wurden, und zwei unveröffentlichte Briefe
von Harms beigegeben.

Die Analyse der Entwicklung und des Gesamtwerkes von Harms
ergibt, daß „alle Versuche einer streng typisierenden theologiegeschichtlichen
Einordnung" bei ihm scheitern müssen (S. 137).
Harms hat dem konfessionellen Neuluthertum zwar Impulse verliehen
, darf mit ihm aber nicht identifiziert werden.

Harms' antirationalistische Polemik ist ursprünglich nicht
repristinatorisch bestimmt. Namentlich in seiner Geisttheologie

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(S. 97 ff.) findet sich ein imposanter Ansatz zur Freiheit von orthodoxer
Buchstabenbindung. Die Erwartung eines neuen Pfingsten
und das Rechnen mit der Wirklichkeit des Geistes braucht m. E.
nicht als ontologische Überbewertung einer Kirchenjahresordnung
beurteilt zu werden (S. 41). Zu bedauern ist vielmehr, daß die
charismatischen Elemente seiner Theologie Harms nicht vor jener
juridischen Bindung an die Bekenntnisschriften bewahrten, die
ihn dazu verführte, seit dem Thesenstreit der Tradition sowohl
im Blick auf den Lehrgehalt wie auch die Lehrgestalt normierende
Autorität zuzuschreiben. „Der Primat der Schrift ist faktisch verdrängt
durch die Autorität des Bekenntnisses", urteilt W. (S. 62).
Indem Harms den Glauben zunehmend an veraltete Denkschemata
band - z. B. in der Abendmahlslehre, S. 51 ff., der Christologie,
S. 41 ff. -, verfehlte er auf wichtigen Gebieten sein eigenes Anliegen
, die alte Wahrheit in neuer Gestalt zu predigen. Er übersah
, dafi die Predigt der Aufklärung bzw. des Rationalismus
ernstzunehmende Fragen aufwarf, die weder nur negiert noch
ignoriert werden durften (vgl. R. Krause, Die Predigt der späten
deutschen Aufklärung [1770-1805], Stuttgart 1965).

Unsere Kritik an Harms darf nicht den Blick trüben für die
reichen Anregungen, die der kraftvollen, von tiefer Frömmigkeit
und gesundem Temperament getragenen Predigt dieses Mannes
zu entnehmen sind. Das gilt sowohl für den Inhalt als auch für
die heute weithin vernachlässigte Form. Längst ehe die Homiletik
von dialogischer Predigt sprach, praktizierte Harms sie. Das
heute moderne „Sprachproblem" hat ihn intensiv beschäftigt. Der
ehemalige Müller verstand es, „in der Sprache des Lebens", wie
er selber es nannte, zu predigen (S. 122) und die Probleme seiner
Zeit mutig und klar anzufassen.

In wohltuender Kürze zeigt W., daß sich bei Harms „Originalität
und Substanzreichtum in seltenem Mafje" vereinigen
(S. 137). Das Buch wird deshalb nicht nur Kirchengeschichtler und
Praktische Theologen interessieren.

Halle /Saale Eberhard Winkler

Lemke, Helga: Wicherns Bedeutung für die Bekämpfung der
Jugendverwahrlosung. Hamburg: Wittig 1964. 199 S. 8° = Arbeiten
zur Kirchengeschichte Hamburgs, hrsg. von K. Witte
und K. D. Schmidt, 7. DM 12.-.

An Literatur, auch an Spezialuntersuchungen über Wichern
besteht kein Mangel. Die Vfn., deren nun gedruckte Dissertation
an der Philosophischen Fakultät in Hamburg unter der
Ägide der Professoren Hans Wenke und Kurt Dietrich Schmidt
entstand, hat aber darin recht, dafj in der Geschichtsschreibung
der Pädagogik W.s erzieherische Leistungen zu wenig berücksichtigt
werden (vgl. S. 186). Eine ähnliche Schrift („Johann Hin-
rich Wicherns Bedeutung für die Fürsorgeerziehung") veröffentlichte
jedoch 1941 Paul Büdinger (als Dissertation bei Prof.
Wenke in Erlangen!). Vfn. nennt sie, geht aber nicht näher auf
sie ein. Büdinger sieht manches schärfer, obwohl seine Arbeit
in vielem zu kurz ist und auch nicht die damals z. T. noch
unveröfftenlichten pädagogischen Manuskripte W.s benutzt hat.

Vfn. schildert an Hand der Quellen und der Biographie von
M. Gerhardt zunächst W.s Erfahrungen bis zur Gründung des
Rauhen Hauses (1. Kap., S. 11-32) und dann die dort verwirklichten
Erziehungsmethoden (2. Kap., 33-59); auf einzelnes
kann hier nicht eingegangen werden. Von besonderem Gewicht
ist das 3. Kap („Wicherns volkserzieherische Versuche zur Beseitigung
der Verwahrlosungsursachen", 60-118). In ihm werden
die zeitgeschichtlichen Umstände beleuchtet, unter denen
die Innere Mission sich entwickelte, und das Ziel, das W. mit
seinen Unternehmungen letztlich verfolgte. Während die übrige
geistige Situation nur sehr knapp skizziert wird (60-63), widerfährt
der Auseinandersetzung mit den sozialistischen und atheistischen
Bewegungen eingehende Beachtung (63-71, 97 ff.).
Vfn. zeigt, dafj W. das himmelschreiende Elend des Proletariat <
und seine Ursachen in der damaligen Wirtschaftsstruktur wohl
erkannte, daß er das Versagen von Staat und Kirche anprangerte
und Wege der Abhilfe wies (bis hin zu „christlichen Associationen
der Hilfsbedürftigen selbst"), dafj er aber den revo-

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 8