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Ausgabe:

1967

Spalte:

600-601

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Theologie in Aufbruch und Widerstreit 1967

Rezensent:

Loewenich, Walther

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 8

600

dessen Zerfall überwältigt wird und an diesem mitarbeitet".
Sohms innerer Weg führt »von bewufjt konservativ-positiver
Glaubenshaltung in neuprotestantisches Denken" (S. VIII). Bei
der Lektüre dieser ausgezeichnet und stellenweise spannend geschriebenen
Untersuchung verstärkt sich der Eindruck vom
„unbewältigten Sohm": die Probleme, von denen Sohm unablässig
umgetrieben wurde und die er immer wieder neu anging
und von neuen Seiten beleuchtete, chne sie je abschließend
befriedigend lösen zu können, sind wenig abgewandelt
noch unsere eigenen Probleme. Man denke nur daran, dar] im
Kirchenkampf „von beiden Seiten her Berufungen auf Sohm
möglich geworden (sind): einerseits im Lager der Bekennenden
Kirche (.Kirche muß Kirche bleiben'), andererseits in dem der
Deutschen Christen (,Die sichtbare Kirche fällt in die Kompetenz
des Staates und berührt damit die „eigentliche" Kirche in
keiner Weise')" (S. 276 Am 33).

B.s Arbeit gliedert sich in vier Kapitel: 1. Die Schriften, 2.
Der Staat, 3. Die Kirche, 4. Kirche und Staat.

Das erste Kapitel unterscheidet drei Perioden: die frühen
Schriften, die Reifezeit, das Spätwerk. In den frühen Schriften
begegnet uns eine selbstverständliche Zuordnung von Recht
und Kirche, sowohl als staatliches Kirchenrecht wie auch als
rechtlich eigenständige Macht der Kirche (Sohm ruft die Kirche
auf zur Selbstbehauptung und Selbstverteidigung ihres Rechts
gegenüber der obligatorischen Zivilehe). In der Reifezeit wird
aus dem Gegensatz zwischen staatlichem (weltlichem) und kirchlichem
(geistlichem) Recht ein solcher zwischen Geist (Glaube)
und Recht (Staat), „Sohm verläßt jetzt den Umkreis einer irgendwie
rechtlich verfaßten Kirche und erfaßt die Kirche - mit erstaunlicher
Folgerichtigkeit - zunächst als sichtbare, dann als
unsichtbare Kirche des Glaubens" (S. 13). Im Spätwerk taucht
mit dem altkatholischen Kirchenrecht eine neue Form der Zusammenordnung
von Geist und Recht auf, die sich aber von der

den frühen Schriften grundlegend unterscheidet und einen
aen (sich nicht mehr auswirkenden) Ansatz darstellt.

Das zweite Kapitel hat zwei Hauptteile: I. Die Macht im
te, mit den Abschnitten 1. Macht und Volk, 2. Macht und
t, und II. Die Freiheit im Staate, mit den Abschnitten 1.
.lC>.ntsgesetz, Sittengesetz, Naturrecht, 2. Freiheit, Persönlichkeit,
Gesellschaft, 3. Kultur. Der Angelpunkt von Sohms Denken über
den Staat ist das Recht. Einerseits betont Sohm ganz stark den
Gedanken des souveränen nationalen Machtstaates, der als
selbstherrliche Gemeinschaft Rechtsquelle ist (und zwar, weil es
heute neben ihm keine andere selbstherrliche Gemeinschaft gibt
und geben kann, einzige Rechtsquelle), andererseits ist es
Sohms durchgängige Anschauung, daß eine rein juristische Behandlung
des Rechts stets vordergründig bleibt: „Das Recht
nimmt seinen Inhalt nicht aus sich selbst, es empfängt ihn von
den anderen Mächten, auf dem Gebiet des Kirchenrechts von
den geistlichen Mächten des menschlichen Lebens" zitiert B.
(S. 53) „Sohms Rechtsdenken ist differenzierter, als bloßer Positivismus
es sein könnte" (S. 52). In Sohms Lehre von Recht
und Sittlichkeit zeigen sich drei Beziehungsstufen: einmal das
Recht, das sich gegen alle Einflüsse aus dem Gebiet der Ethik
stark abgrenzt, das seine Rechtfertigung in sich selber trägt
(der Staat als Leviathan), dann das Recht, das in irgendeiner
Weise im Dienst der Sittlichkeit steht, und schließlich die Sittlichkeit
selber als eigenständiges Prinzip. B. spricht von „drei
Formen der Staatlichkeit im Sohmschen Denken" (S. 66), die
er als Machtstaat, Freiheitstaat und Gesellschaft bezeichnet
(S. 258).

Das dritte Kapitel behandelt A. die Gestalt der Kirche, und
zwar I. die Rechtsformen, II. die sichtbare Ekklesia, III. die
unsichtbare Ekklesia, B. Grundlagen (Ekklesiologie und Christo-
logie, Der Glaube, Geist und Form, Evangelium und Gesetz,
Die Sittlichkeit). Die Gliederung von I. folgt Sohms These von
den drei Entwicklungsstufen in der Kirchenrechtsgeschichte:
„geistliches Kirchenrecht (altkatholisches, neukatholisches), weltliches
Kirchenrecht (altprotestantisches1, insbesondere altlutherisches
Kirchenrecht), staatliches Religionsgesellschaftsrecht (dies
das „Kirchenrecht" der Gegenwart, welches sachlich kein Kirchenrecht
mehr ist)'. Es gibt also nach Sohm .dreierlei Kirchenrecht
', wobei er betont, daß hinter jedem davon ein anderer
Kirchenbegriff steht und darum jede dieser Ausprägungen .ganz
anderer Art' ist" (S. 105). In I wird der Rechtsbegriff, in LT und
III der Lehrbegriff der Kirche untersucht. Die Ekklesia ist nach
Sohm „eine - freilich ganz unrechtlich und unpolitisch verstandene
- ,Theokratie'"; sie ist „Christokratie" (wenn Sohm
diesen Ausdruck auch nicht gebraucht), ist „Logokratie", aber
vor allem „Pneumatokratie" (S. 151.193). Bei der Ausformung
dieser Gedanken läßt Sohm sich leiten von der Unterscheidung
zwischen Gesetz und Evangelium. „Gesetz und Evangelium,
Freiheit und Notwendigkeit: das sind die beiden großen Mächte,
die Sohms Denken letztlich bestimmen . . . Sohms Eigenart ist
es, beide Prinzipien möglichst scharf zu trennen und ausein-
anderzureißen. Ihm ist das Evangelium im wörtlichsten Sinne
,des Gesetzes Ende'" (S. 243). Sohm - „ein moderner Agrikola*
(S. 246)!

Das vierte Kapitel gliedert sich in I. Staat und Rechtskirche,
II. Staat und Ekklesia, III. Ekklesia und Welt, IV. Praktische
Fragen. B. versucht zu zeigen, daß Sohm in allen diesen Punkten
„selber dem corpus-christianum-Gedanken irgendwie verhaftet
bleibt", er, der „in der Erforschung der corpus-christia-
num-Lehre bahnbrechend gewesen ist" (S. 262). Die Öffentlichkeitswirkung
des Christentums war für ihn eine oft betonte
Selbstverständlichkeit (S. 288.292.297), wenn auch seine eigenen
Lösungsvorschläge, z. B. der sozialen Frage, nicht überzeugen
(S. 304f).

B. konzentriert sich „auf die immanente Durchleuchtung von
Sohms Gedankenwelt". Die „Beziehungen zu vorgängigen und
zeitgenössischen Denkern", den „Aufweis geistesgeschichtlicher
Zusammenhänge, das Verfolgen der Wirkungen, die von Sohm
ausgegangen sind und noch ausgehen, . . . sowie die allgemeine
dogmatische Auseinandersetzung" stellt er zurück
(S. VIII). Aber auch in dieser verständlichen Beschränkung ist
B.s Arbeit, die eine wesentliche Lücke in der Forschung ausfüllt
, sehr anregend.

Von den wenigen Druckfehlern seien nur folgende genannt:
S. IV. Zeile 1 lies XVI statt 16; S. 138 Z. 16 lies Deposition
stat Desposition; S. 233 Z. 27 lies beschritten statt bestritten;
S. 346 Z. 21 lies unmöglich statt möglich .

Halle/Saale Erdmann Schott

Scheffczyk, Leo: Theologie in Aufbruch und Widerstreit.

Die deutsche katholische Theologie im 19. Jahrhundert, hrsg.

u. eingeleitet. Bremen: Schünemann (1965). IL, 522 S. kl. 8°

= Sammlung Dieterich, 300. Lw. DM 19.80.
Das vorliegende Buch steht nach Absicht und äußerer Aufmachung
in unmittelbarer Nähe zu dem von mir bereits angezeigten
Band von Adolf Kolping, Katholische Theologie gestern
und heute (Carl Schünemann, Bremen 1964). Sein Herausgeber
Leo Scheffczyk ist inzwischen der Nachfolger von Michael
Schmaus in München geworden. Daß die deutsche evangelische
Theologie im 19. Jahrhundert der gleichzeitigen katholischen an
Originalität und Leistung weit überlegen war, kann heute noch
als allgemeine Überzeugung in der protestantischen Literatur
gelten. Dieses Urteil dürfte tatsächlich im großen und ganzen
zu Recht bestehen; es wird auch durch die nähere Beschäftigung
mit der deutschen katholischen Theologie des 19. Jahrhunderts
nicht erschüttert. Aber es ist an der Zeit, daß dieses
Stück Theologiegeschichte auch von unserer Seite stärker als
bisher beachtet wird. Dabei wird sich dann eine allzu summarische
Betrachtungsweise von selbst erledigen. Als eine Einleitung
dazu und als erste Einführung kann das vorliegende Buch
willkommen sein. Es gliedert sich in eine allgemeine Einleitung
(XI-IL) und in eine Auswahl von Texten (1-522), denen jeweils
eine spezielle Einführung vorangestellt ist. Der Herausgeber
ist der Meinung, daß das 19. Jahrhundert „zu den lebendigsten
Epochen in der Geschichte der katholischen Theologie
" gehört (Vorwort IX). In der Tat ist in dieser Theologie
vieles in „Aufbruch und Widerstreit" geblieben; nicht alles hat
eine Ausformung „von bleibender Gültigkeit" (IX) gefunden.
Wie die evangelische Theologie, so sah sich auch die katholische