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Ausgabe:

1967

Spalte:

462-463

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Polster, Martin

Titel/Untertitel:

Die geschichtliche Entwicklung der württembergischen Rettungshauspädagogik in ihrer Bedeutung für die evangelische Heimerziehung heute 1967

Rezensent:

Polster, Martin

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 6

462

Es wird darauf hingewiesen, daß es für die lutherische Theologie unumgänglich
notwendig ist, sich auch mit den vorreformatorischen
Vätern zu befassen, wenn sich die lutherische Kirche mit Recht zur
ecclesia catholica bekennen will. Diese Beschäftigung ist aber in der
gegenwärtigen Abendmahlsdebatte unterblieben. An einer Stelle soll
nun hier das Gespräch aufgenommen werden.

Humbert hat mit seinen stets situationsbedingten Schriften die
Forderungen der lothringischen Kirchenreform theologisch zu untermauern
versucht, so auch in der Abendmahlslehre. Diese steht inmitten
des Ringens zwischen einer symbolischen und einer realistischen
Auffassung, da die Anschauungen des Ambrosius und Augustins unausgeglichen
in die frühmittelalterliche Theologie eingegangen waren.

Teil B (»Die theologische Begründung der Verwendung der Azy-
ma in der Eucharistie") untersucht H. Stellung im Azymenstreit, der
zum Schisma von 1054 geführt hat. Der Westkirche war vorgeworfen
worden, ihre Aryma seien jüdisch. Azyma seien überhaupt kein
Brot, könnten also für das Abendmahl nicht gebraucht werden. In
der Tat wird die ganze alte Kirche gesäuertes Brot bei der Eucharistie
verwandt haben. Neben kirchenpolitischen Gründen dürfte dieser liturgische
Gegensatz von den Griechen als kirchentrennend empfunden
worden sein. H. hatte nun den westkirchlichen Brauch seiner Zeit zu
begründen. Er tut dies theologisch und versucht, die griechischen Vorwürfe
exegetisch, etymologisch und besonders systematisch zu widerlegen
. Dabei ist ihm nicht der Gebrauch des gesäuerten Brotes seitens
der Griechen schon häretisch, sondern erst ihre fehlende Übereinstimmung
mit Rom. So hat H.'s Stellungnahme die Möglichkeit zu einer
milderen Behandlung der Streitfrage seitens der Westkirche ermöglicht
. So hat auch die lutherische Kirche, die das westkirchliche ungesäuerte
Brot übernahm, die Beschaffenheit des Brotelementes für ein
Adiaphoron gehalten.

Teil C untersucht „Die Abendmahlsaussagen der 'Libri tres ad-
versus simoniacos'". Hier stellt H. die Sakramente der katholischen
Kirche den Pseudosakramenten der simonistischen Häretiker gegenüber
. Nur die Sakramente der katholischen Kirche hätten ihre typoi
im Alten Testament, nur sie seien mit res erfüllt, vom Hl. Geist bewirkt
, Mittel des Handelns an seiner Kirche bis zu seiner Wiederkunft
. Die Sakramente der Häretiker könnten diese Merkmale gar
nicht haben, da sie mit dem Geist des Antichristen erfüllt seien, denn
den Hl. Geist könnten sie nicht haben. Zum Abendmahl speziell äußert
sich Humbert kaum, doch sieht er in der Sündenvergebung die
virtus sacramenti, bezeichnet er das Abendmahl als ein eibut viato-
rum und berührt er die Frage der manducatio und celebratio impio-
rum: unwürdige Priester könnten anderen das Heil vermitteln, aber
niemals häretische Priester.

Teil D („Der krasse Abcndmahlsrealismus Humberts Im Kampf
gegen Berengar (1059)" behandelt H's Stellungnahme im Bercngar-
schen Abendmahlsstreit. Für Berengars Abendmahlslehre darf hier
nicht seine Schrift gegen Lanfranc (da viel später geschrieben) herangezogen
werden, sondern vielmehr sein Brief an Adelmann von Lüttich.
Aber auch hier wird schon deutlich, daß Berengar eine substantiale
Realpräsenz von Leib und Blut Christi leugnet; nur für den inneren
Menschen sei Christi Leib da und könne nur geistlich genossen werden.
Sacramcnta könnten nie eine res in sich tragen. In der ihm von H.
vorgelegten confessio muß Berengar beschwören, daß er in Lehrübereinstimmung
mit Rom stehen müsse, erst dann wird auf die spezielle
Irrlehre Berengars eingegangenen, wobei Anklänge an den genannten
Brief Berengars gefunden werden können. Trotz der krass-realistischen
Äußerungen H's werden kapernaitische und prae-transsubstantialisti-
sche Wendungen vermieden. Für die weitere Entwicklung der mittelalterlichen
Abendmahlslehre bietet H.'s Formel eine Grundlage, die
gewiß der Klärung bedarf. Während Rom bis heute die confessio
kritisiert, hat Luther sie als eine eindeutige Bezeugung der Realprä-
senz gelobt.

Teil E („Systematische Zusammenfassung der Abendmahlslehre
Humberts") will die Aussagen der einzelnen Schriften systematisch
zusammenfassen. Zuerst wird hervorgehoben, daß H. die Siebenzahl
der Sakramente bereits kennt, dabei sogar anscheinend auch eine wertende
Reihenfolge. Wie alle Sakramente, so sieht er auch das Abendmahl
im Alten Testament typologisch vorgebildet. Durch die Konsekration
werden die Elemente (ungesäuertes Brot und Wein) Träger
der res; sie geschieht durch Anrufung der ganzen Trinität. Während
er aber die res nicht einhellig bestimmt (einmal als Leib und Blut
Christi, ein andermal als den Hl. Geist oder auch als totus Christus
), so bestimmt er doch die virtus sacramenti eindeutig christozen-
trisch. Weil er die virtus so stark betont, legt er großen Wert auf
die res. Das Abendmahl ist für ihn ein eibus viatorum, die sotcriologi-
sche Sicht des Sakraments ergibt schon bei ihm die eschatologische. —
Auch zur liturgischen Gestaltung des Abendmahls hat er Stellung genommen
.

In einem Schlußteil F („Auswirkungen der Abendmahlslehre
Humberts — Ein Versuch, die Abendmahlsauffassungen Humberts für
die gegenwärtige Abendmahlsdebatte fruchtbar zu machen") wird
hervorgehoben, daß bei aller Wahrung zeitbedingter Unterschiede es
nötig erscheint, frühere dogmatische Entscheidungen für die gegenwärtige
Debatte fruchtbar zu machen. Im ganzen Verlauf der Dogmengeschichte
können wir ein Ringen zwischen einer symbolischen und
einer realistischen Abcndmahlsdcutung feststellen. In diesem Ringen
steht auch H. wie dann Luther gegen Zwingli und die Schwärmer.
Auch in der modernen Theologie setzt sich dieses Ringen fort, nur
hat sich der Gegensatz verschoben: es geht heute um den Gegensatz
zwischen einer substantial-personalen und einer aktual-personalen
Deutung. Ausdruck für dieses Ringen ist die gegenwärtige Debatte
um die sogenannten Arnoldshainer Abendmahlsthesen. In diesem Ringen
ist von lutherischer Seite immer darauf hinzuweisen, daß das
„vere et substantialiter" die Grundlage für alle soteriologischen Aussagen
des Abendmahls darstellt. Hier muß auch das Gespräch mit der
Tradition geführt werden. Der Betonung der Heilsgabe des Abendmahls
dient es deshalb, wenn an der Konsekration, an der manducatio
impiorum und der manducatio oralis festgehalten wird. Dabei
darf ganz gewiß Sache und Person nicht auseinandergerissen werden:
Mit Leib und Blut schenkt sich Christus uns ganz. H.'s Ringen um die
rechte Deutung des Hl. Abendmahls kann uns dabei in den gegenwärtigen
Gesprächen helfen, denn schon er betont ja die virtus sacramenti
auf Grund der res, und schon bei ihm ergibt sich auf Grund der
soteriologischen Sicht des Abendmahls die eschatologische.

Die Arbeit schließt mit der Feststellung, daß für die lutherische
Kirche die Aussagen der Väter aller Zeiten nicht nur ein dogmengeschichtliches
Interesse (wie ist die Entwicklung verlaufen) beanspruchen
dürften, sondern gerade auch ein dogmatisches (inwieweit haben
ihre Aussagen heute noch Bedeutung).

Polster, Martin: Die geschichtliche Entwicklung der württembergischen
Rettungshauspädagogik in ihrer Bedeutung für die evangelische
Heimerziehung heute. Diss. Tübingen 1966. IV, 158 S.

Die Dissertation gibt in einem ersten Hauptteil einen zusammenfassenden
Überblick über die Anfänge der württ. Rettungshausbewegung
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Nach kurzer Darlegung der Vorbereitung im säkularen Bereich
(Salzmann, Pestalozzi) wird das Erziehungswerk Christian Heinrich
Zellers in seiner grundlegenden Bedeutung für die Rettungshausarbeit
im süddeutschen Raum vorgestellt (Kap. 1). Sein Einfluß zeigt sich
deutlich an Einrichtungen, Aufbau und innerer Lebensgestaltung der
württ. Erziehungsheime. Besonders durch seine Entdeckung des Wertes
der christlichen Erzieherpersönlichkeit hat er der Arbeit wichtige
Impulse gegeben (Kap. 2). Die Überlastung der Hauseltern, die Beeinträchtigung
der Erzieherausbildung durch die Furcht, moderne wissenschaftliche
Erkenntnisse könnten dem christlichen Geist in den
Lehrerseminaren Abbruch tun, schließlich auch das nachlassende Interesse
der Gemeinden, die das Werk in seinen Anfängen getragen
hatten, haben um die Jahrhundertmitte zu einer Krise in der württ.
Rettungshausbewegung geführt. Dieser Entwicklung sind seit 1868 die
Hausvaterkonferenzen mit dem Ziel entgegengetreten, die Arbeit
durch gemeinsamen Einsatz vor allem auf pädagogischem Gebiet neu
zu beleben (Kap. 3).

Mit der Tätigkeit der Hausvaterkonferenzen beginnt ein Wandlungsprozeß
in der Geschichte der württ. Rettungshauspädagogik, der
bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist. Diese Bewegung wird im
zweiten Hauptteil der Untersuchung im Lichte der heutigen Erkenntnisse
betrachtet und damit zugleich in ihrer Bedeutung für unsere
Zeit dargestellt. An drei zentralen Themenkreisen wird die geschichtliche
Entwicklung vergegenwärtigt: das Verhältnis von Erziehungsheim
und Elternhaus (Kap. 1); die Lebensgemeinschaft im Erziehungsheim
(Kap. 2); der evangelische Heimerzieherstand (Kap. 3).

ad 1) Die evangelische Heimerziehung in Württ. versteht ihre
Tätigkeit heute als einen Akt der ergänzenden Hilfeleistung gegenüber
der Erziehung der Kinder in den eigenen Familien. Mit diesem
Selbstverständnis, das erst nach langem Ringen in der Geschichte gewonnen
worden ist, unterstützt sie die Bestimmungen des Gesetzes
für Jugendwohlfahrt von 1961, den Vorrang der Eltern vor anderen
Erziehungsträgern zu sichern. Den Abschluß des Kapitels bilden Hinweise
, wie das Prinzip der Subsidiarität gegenwärtig in der Heimpraxis
zur Geltung gebracht werden kann.

ad 2) An der Umgestaltung der Lebens- und Familiengemeinschaft
im Heim durch die Arbeit der Hausvaterkonferenzen wird der
erneuernde Einfluß von Johann Hinrich Wichcrns „evangelischer" Pädagogik
im süddeutschen Raum sichtbar.