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1967

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Kirchengeschichte: Neuzeit

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 6

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eine erstmalig zusammengestellte Bibliographie des Schrifttums
Grauls.

Der Vf. kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis,
daß die Darstellung Grauls in starkem Ausmaß „von der Eigenprägung
seiner Interpreten, vor allem aber ihrer Beeinflussung
durch den jeweiligen Zeitgeist und situationsbedingte Fragestellungen
bestimmt ist" (S. 170). So gelang es mit wenigen
Ausnahmen den Interpreten nicht, Graul gerecht zu werden, zumal
einer der „Hauptmängel der bisherigen Graulinterpretation
in der ungenügenden Auswertung der Quellen besteht" (S. 175).

Diese Mängel werden schon im Urteil der Zeitgenossen
sichtbar. Der Vf. arbeitet zwei grundsätzliche Grundrichtungen
damaliger Graulinterpretation heraus. Die eine wird von
Luthardt und G. Hermann, dem Verfasser der bisher einzigen
Gesamtdarstellung Grauls, im Sinne eines „exklusiv konfessionellen
Luthertums" (S. 47) geprägt; dem steht die „,anripa-
thische' Zeichnung Gunderts" (S. 170) gegenüber, die nach Meinung
des Vf. durch das Wirken Langhans', der „mit diabolischer
Geschicklichkeit die Leipziger Mission gegen die Basler auszuspielen
verstand" (S. 40), ausgelöst worden ist.

Für die utilitaristisch gesonnene Warnecksche Ära
ist Graul der vielseitige Gelehrte. Eine aktuelle Bedeutung spricht
man ihm damit ab. Nach den am methodischen und apologetischen
Bemühen ausgerichteten Maßstäben der eigenen Zeit urteilend
kann man ihm nur den Rang eines .Vorläufers' Warnecks
zuerkennen. Dies gilt auch von den Lutheranern. Eine Ausnahme
bildet nur der kongeniale L. Ihmels.

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen „hatte mehr als
früher die Chance, über ihrem Bemühen Graul — den Theologen
Graul und den ganzen Graul — wiederzuentdecken" (S. 100).
Diese Gelegenheit wird verpaßt, da die Fragestellung nach dem
Verhältnis von Kirche und Volk nicht den ganzen Graul erfaßt,
zudem „nicht kritisch-theologischer Forschung, sondern dem
heimlichen Wunsch entsprang, dem neuromantischen Zeitgeist
und entsprechenden Postuläfen einer pseudolutherisch verbrämten
natürlichen Theologie entgegenzukommen" (S. 13 3). Als
Graulinterpreten ragen in dieser Zeit der kongeniale Eiert, dem
Graul vielleicht wie kein anderer geistesverwandt gewesen ist,
und C. Ihmels, wohl der beste Kenner Grauls dieser Zeit,
hervor.

In der Beschäftigung mit Graul in den letzten 15 Jahren,
die in einer bisher nicht dagewesenen Breite (Niederlande,
Skandinavien) geschieht, wird der „zuvor erfolgte allgemeine
Aufbruch der protestantischen Theologie" spürbar (S. 134). Die
hervorstechendste Arbeit dieser Zeit ist die von J. Hoekendijk,
„die katastrophalste Fehldeutung während einer hundertjährigen
Graulinterpretation überhaupt" (S. 143). Sie hat die Diskussion
in der Folge stark mitbestimmt. Aber es zeigen sich auch Ansätze
einer befriedigenden Graul-Interpretation (W. Maurer,
W. Holsten, A. Lehmann, aber auch O. G. Myklebust), so daß
zu hoffen ist, daß es nun zu einer wirklichen Neubesinnung auf
Graul in ökumenischer Breite kommt.

Wo diese einzusetzen hat, läßt der Vf. durchscheinen, wenn
er von dem „Theologen Graul und dem ganzen Graul" spricht.
„. . . solange nicht Grauls Denken in seinen theologischen
Grundlagen präzis und in extenso erfaßt ist", muß sich
das Graulbild in Einzelaspekte auflösen, „die als solche mit Notwendigkeit
willkürliche Umdeutungen erfahren" (S. 99). Es
wird also darauf ankommen, „dem ganzen Graul, dessen Ganzheit
darin begründet ist, daß er ein allem das Maß gebendes
theologisches Zentrum besitzt, zu begegnen" (S. 144). „Grauls
Position" ist „im Kern und in der Wurzel diejenige der lutherischen
Reformation" und es geht nicht an, „Graul anders als
von hier aus deuten zu wollen" (S. 154).

So gelingt es dem Vf., die sehr verschiedenartigen, oft nur
mühsam zugänglichen Interpretationen Grauls zu erfassen und
einzuordnen. Damit werden gleichzeitig beachtenswerte Einsichten
in das Verständnis der Missionswissenschaft der letzten
100 Jahre gewonnen. Schließlich wird ein neues Graulbild umrißhaft
deutlich.

Wenn man zu dieser mit einer bewundernswerten Konzentration
und Gradlinigkeit geschriebenen Arbeit überhaupt noch
etwas wünschen möchte, dann vom Formalen her. Der Vf. hat,
um sein eigenes Verständnis Grauls sichtbar zu machen, die
deduktive Methode gewählt, d. h. er stellt seine Deutung Graute
durdi Abgrenzung oder Zustimmung zu den jeweiligen Interpreten
dar. Indem sein Verständnis so implizit bleibt und zudem
nicht quellenmäßig belegt wird, laufen seine Urteile Gefahr —
auch wenn man um die tiefe Kenntnis Grauls durch den Vf.
weiß —, auf den Leser apodiktisch und unbelcgt zu wirken.

Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, daß der Vf. bemüht
ist, „die Graul-Interpreten nach Möglichkeit wörtlich zu zitieren
" (S. 10), und zwar gerade um ihre Gedanken unverfälscht
wiederzugeben, d. h. aber: er ist gezwungen, sein gesamtes —
aus einem sicher breiteren Umkreis erarbeitetes — Verständnis
aus einzelnen Zitaten abzuleiten, die zudem in verschiedenen
Fällen nur beiläufig auf Graul zu sprechen kommen. So ist
stellenweise der Eindruck nahe, es würden einzelne Sätze oder
Worte überinterpretiert.

Um es an zwei Beispielen zu verdeutlichen:

S. 44 wird aus der Feststellung Gunderts, daß Graul mit seiner
Reisebeschreibung „auf die gebildeten Kreise zu wirken gesonnen
ist" geschlossen: „Sich vorwiegend an die führenden
Kreise zu halten, war stets ein wichtiges taktisches Prinzip der
Jesuiten. Gundert seinerseits ist klug genug, Graul nicht expressis
verbis dazu in Parallele zu setzen; er verläßt sich darauf, daß die Gebildeten
unter seinen Lesern des besonderen Hinweises nicht bedürfen
" (Sperrung von mir). Eine solche Absicht Gunderts ist m. E.
weder aus dem Zitat noch aus dem Zusammenhang deutlich.

S. 158 wird Myklebusts Satz: "His missionary thinking was
firmly rooted in the teachings of the Book of Concord" dahin interpretiert
, daß Graul als Lehrer gezeichnet werde, „der Missionstheologie
aus dem Konkordienbuch doziert". Hier gilt derselbe Einwand.

Die Schlußthese des Vf. zu der Geschichte einer lOOjäh-
rigen Graulinterpretätion ist die Mahnung: „Der Missionswissenschaft
, jedenfalls der deutschen, ist ein zweiter Graul noch
nicht wieder geschenkt worden. Aber sie kennt nicht einmal den
einen, der ihr beschieden war. Sie kennt die Quellen nicht genügend
, denen sie das Bild seiner Persönlichkeit sowie Gehalt
und Gestalt seines Werkes entnehmen könnte. Das kritische
Resume der Geschichte einer hundertjährigen Graulinterpretation
kann darum kein anderes sein als der Mahnruf: ad fontes!"
(S. 174). Der Vf. hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet,
indem er mit erstaunlichem Fleiß erstmalig eine dem Buch angefügte
Bibliographie der gedruckten Quellen zu Graul zusammengestellt
hat (abgedruckt schon 1964 im Luth. Missionsjb.
S. 36—5 3). Eine Veröffentlichung einer größeren Anzahl von
Briefentwürfen Grauls aus dem Archiv der Leipziger Mission
soll folgen (S. 98 Anm. 224). Die Graulforschung, zu der diese
Arbeit sicher verstärkt anregen wird, ist damit endlich auf ein
erheblich breiteres und festeres Fundament als bisher gestellt
worden.

Bubenreuth WoUjpng Ciinther

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