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Ausgabe: | 1967 |
Spalte: | 442-444 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Neuzeit |
Autor/Hrsg.: | Krügel, Siegfried |
Titel/Untertitel: | Hundert Jahre Graul-Interpretation 1967 |
Rezensent: | Günther, Wolfgang |
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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 6
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Menschen im Sinne der Insuffizienz der natürlichen Kräfte des Menschen
und der gänzlichen Absenz des Geistes als Tatkraft zum Gesetz
" (169). Er bestreitet also nicht im „revolutionären" Sinn, daß
Gesetzescrfüllung je zur Gerechtigkeit führen kann. Das neue Verständnis
des Gesetzes als verdammendes Urteil Gottes hebt das frühere
Verständnis als „Lehre vom wahren Wesen der Gerechtigkeit"
nicht auf; im Gegenteil: „In dieser Konstruktion (trägt) das Gesetz
als Gottes Urteil prinzipiell episodischen Charakter gegenüber dem
bleibenden Wesen als Lehre" (178). Entsprechendes gilt vom Verständnis
des Evangeliums als doctrina und als promissio: Diese siegt über
jene. So führen die inneren Unklarheiten dazu, »daß die ausgelagerten
Momente der früheren Theologie der Entsprechung immer stärker zum
Zentrum der Konzeption Melanchthons zurückdrängen und -fließen,
der sich selbst und aller Theologie auf seinen Spuren durch seine un-
reflektierte und unbewußte Kombination der heterogenen Kernelemente
des Lehrgesetzes und der Glaubensgerechtigkeit die Sisyphosarbeit
der Apologie der .iustitia fidei' gegen die ,lex qua doctrina' samt ihren
Konsequenzen aufgebürdet hat" (180).
Das Glaubensverständnis, das im zweiten Abschnitt behandelt
wird (215ff.), wird ebenfalls einer kritischen Reflexion unterzogen.
Während Luther das Verhältnis zwischen Verheißung und Glaube konsekutiv
verstanden hat, wird es bei Melanchthon final gefaßt. „Die
Verheißungen und damit das Evangelium als deren Wesen (stehen) im
Begriff, Mittel zum Zweck des Glaubens zu werden" (217). „Es macht
objektiv die unheimliche, weil dunkle Dialektik in Melanchthons Theologie
aus, daß sie auf die Korrelation von Verheißung und Glauben
schwört und zugleich durch deren finalen Modus ihre Auflösung betreibt
, und es kennzeichnet subjektiv die Tragik des Theologen Melanchthon
, daß er sein Leben lang die reine Lehre des Evangeliums gegen
die Konsequenzen verteidigt, die er selbst durch jene verborgene
Dialektik in ihrem Herzstück angestiftet hat" (ebda). Die Wahrheit
des Glaubens wird aus der Relation der Verheißung zum Glauben in
die immanente Natur des Glaubens verlagert (243), und die Internität
des Glaubens wird gesehen als Spezialfall des fundamentalen Gegensatzes
von .internus affectus' und .externa opera' (287). Besonderes
Augenmerk richtet Vf. auf das Verständnis der mortificatio und deren
Ort im Rechtfertigungsgeschehen. Eindeutig lehrt Melanchthon die
Mortifikation als den Anfang der Rechtfertigung. Doch diese These
„wurde nicht bis zu dem Punkt durchreflcktiert, daß der Ort des Satzes
im Sinn des Satzes und dadurch die Bedeutung der .fides iustifi-
cans' für das Verständnis der .mortificatio' als des Anfangs unserer
Rechtfertigung mitbedacht worden wäre. Die unmittelbare Folge ist
jenes Halbdunkel, in dem der Begriff .mortificatio' liegt und welches
sich in der charakteristischen Indifferenz von .mortificatio peccatoris'
und .mortificatio peccati' bekundet" (302). „Diese Nichtunterscheidung
bedingt die Unentschiedcnheit jener Fragen, die das Gesamtwerk Melanchthons
durchzieht" (303).
Der letzte Teil C ,In poenitentia et iustificatione' (316—381)
stellt „eine Art Nachlese" dar (316, Anm. 1), in der anhand eines
Vergleichs der beiden Auslegungen zum Kolosserbrief von 1527 und
1545 Zusammenhang und Differenz zwischen Frühform und Endgestalt
der melanchthonisdien Theologie dargestellt werden. Vf. gelingt
ein überzeugender Nachweis der inneren Notwendigkeit für die viel
kritisierte Wendung zur konsequent forensischen Fassung der Rechtfertigungslehre
. Bitter ernst wird die Anfechtung „dort, wo der letzte
Anfang ins Stocken gerät.... wo ein Neues geworden ist, das vom
Alten ereilt wiid und unendlich zurückbleibt hinter seinem Sinn. Auf
diese gewissermaßen potenzierte Anfechtung muß die Lehre von der
.iustificatio per fidem' passen" (334). Deshalb rückt die imputatio dei
in das Zentrum der Lehre. Das effektive Element fehlt hier nicht aus
Versehen, wie wohlmeinende Kritiker meinen, sondern es ist hier
notwendig ausgeklammert (3 3 5).
Doch der Ertrag dieser Klärung ist wieder in Frage gestellt durch
die Schwächen des Wortverständnisses. Diese zeigen sich besonders
deutlich, sobald im Rahmen der Buße nach der Ereignung der Sündenvergebung
gefragt wird. Wenn die Antwort jetzt klar dahin geht, daß
nur der Heilige Geist „die für alle Ohren vernehmliche Verkündigung
der remissio peccatorum ... zu individueller Wirkung in den Herzen
der Hörer zu bringen vermag" (378), dann wird „ein Parallelismus
konstruiert zwischen einem nur noch signifikativen Wortgeschehen und
dem effektiven Geistgeschehen" (3 81). Damit wird die „Worthaftig-
keit des Glaubens" (243) eingeschränkt und es bleibt die „Wörtlichkeit
der Gnade" nur mehr in einer schwachen Spur erhalten (381).
Der hier dargebotene Überblick stellt angesichts der Fülle
des Materials und des Reichtums an Einsichten nur eine flüchtige
Skizze dar. Vf. hat in souveräner Beherrschung des Problemzusammenhangs
und der Quellenschriften einen wertvollen
Beitrag zur Melanchthonforschung geliefert. Besonders zu erwähnen
ist, daß die meist vernachlässigten, von E. Bizer in
Theologie der Verheißung' dagegen einseitig herausgestellten
frühen exegetischen Vorlesungen nun erstmals mit den übrigen
Schriften gleichrangig ausgewertet werden. Die Untersuchung
bietet auch keineswegs nur eine kritische Auseinandersetzung
mit Melanchthon. Dies muß ausdrücklich betont werden, weil in
dieser Rezension die Anfragen an Melanchthon bzw. das Aufspüren
bestimmter Unklarheiten ausführlicher referiert wurden
als die sonstigen Interpretationen.
Dennoch verdienen die kritischen Ausführungen das meiste
Interesse. In ihnen kommt die Eigenart der vorliegenden Arbeit
am klarsten zum Ausdruck. Auf den beliebten, für Melanchthon
wenig schmeichelhaften Vergleich mit Luther hat Vf. weitgehend
verzichtet. Stattdessen konfrontiert er ihn mit den expliziten
und noch lieber mit den impliziten, im Halbdunkel der ungedachten
Fragen verhüllten Konsequenzen des theologischen Ansatzes
. Bei diesem Verfahren wird aber Melanchthon letztlich
vor das Forum der Systematik des Vf.s zitiert und am Maßstab
der von diesem für nötig gehaltenen Distinktionen gemessen.
Demzufolge bestünde die Tragik Melanchthons letzten Endes
darin, daß er seine eigene Theolgie nicht zu Ende gedacht hat.
Dieses Verfahren ist interessant, und es ermöglicht fruchtbare
Einsichten, aber es bedroht die Sauberkeit der historischen Arbeit
. Sind nicht vielleicht, historisch gesehen, Ausstrahlungskraft
und Lehrerfolg Melanchthons gerade darin begründet, daß
er heterogene Elemente vereinigen und die sein System gefährdenden
Fragen mit instinktiver Selbstverständlichkeit über-se-
hen konnte? Außerdem ist auch zu fragen, ob die vom Vf. geforderten
Distinktionen sich mit letzter Notwendigkeit aufdrängen
.
Haben diese Anmerkungen eher limitierenden als kritischen
Charakter, so stellt der Stil des Buches einen echten Mangel
dar. Man mag verschiedener Ansicht darüber sein, ob die
Vorliebe für kaum gebräuchliche Fremdwörter das Verständnis
fördert oder erschwert. Unzumutbar aber sind die zahlreichen, an
Länge und eigenwilligem Aufbau kaum zu überbietenden Satzungetüme
. Formulierungen, wie sie sich etwa 13/14 und 60—62
finden, führen in krassem Gegensatz zur humanistischen Rhetorik
zu einer „Partikularisation des objektiven Allgemeinen, zu
seiner Auflösung in den Privatbesitz konsumierender Subjekte"
(48). Vf. greift ja wahrlich nicht infolge mangelnder Sprachbeherrschung
zu solchen, die Kommunikation bedrohenden Stilmitteln
, und er beweist etwa in den Ausführungen über die forensische
Rechtfertigungslehre (3 34f.), wie eindrucksvoll er zu formulieren
versteht. Man hätte sich gewünscht, daß das ganze
Buch so geschrieben worden wäre. Doch auch in der vorliegenden
Gestalt ist die Bedeutung der Untersuchung kaum zu überschätzen
.
C orr igen da: S. 23, Z. 6 v. u.: 9i (statt sid). S. 31, Anm.
73, Z. 7: Anm. 72 (statt 75). S. 85, Anm. 282, Z. 3: 1521 (statt
1520). S. 90, Z. 8 v. u.: 305 (statt 306). S. 195, Z. 6: 1521/22 (statt
1520/22). Ebda, Z. 8 v. u.: nit (statt mit). S. 211, Z. 13: jener (statt
jeder). S. 240, Z. 8 v. u.: VI (statt Vi). S. 251, Z. 2 v. u.: absolu-
tioni (statt absolutionis). S. 272, Z. 6 v. u.: mystcriis (statt myste-
rius). S. 308, Z. 8: Et aeeipimus (statt Es aeeipiumus). S. 375 Mitte:
allos ßio; (statt u).).ih ßtsoe).
Neuendcttelsau Adolf Sperl
Jenny, Markus: Zwingiis Stellung zur Musik im Gottesdienst. Zürich
: Zwingli Verlag [1966]. 47 S. gr. 8° = Schriftenreihe des Arbeitskreises
f. evang. Kirchenmusik, 3.
Kl RCH EN GESCHICHTE: NEUZEIT
Krfigel, Siegfried: Hundert Jahre Graul-Interpretation. Berlin'
Hamburg: Lutherisches Verlagshaus 1965. 192 S. gr. 8°. DM 24.—.
Ein Jahr nachdem sich der Geburtstag des bedeutenden ersten
Direktors der Leipziger Mission zum 150. Male und der Todestag
dieses Mannes, der sich als erster Deutscher für Missionswissenschaft
habilitierte, zum 100. Male gejährt haben, erscheint
diese 1962 vorgelegte Hallenser Dissertation im Druck. In ihr
unternimmt es der Rektor des Theologischen Seminars zu Leipzig
, „eine Art Bestandsaufnahme", „eine Überschau über die
bisherigen Graul-Deutungen" zu geben (S. 10). Angefügt ist