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Ausgabe:

1967

Spalte:

341-344

Autor/Hrsg.:

Nagel, William

Titel/Untertitel:

Die theologische und praktische Bedeutung der Liturgiegeschichte für die gegenwärtige kirchliche Situation 1967

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 5

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Kirchenhistoriker schlüssig beantwortet werden. Diese historische
Auskunft entbindet aber den Praktischen Theologen nicht von
der Aufgabe, die frühreformatorischen Ansätze zur Umstrukturierung
des seitherigen Parochialsystems wieder aufzunehmen
und behutsam zu konstrukiven kybernetischen Entwürfen
auszuformen, damit die theologisch möglichen Einsichten
in die Struktur des Pfarramtes nicht weniger zur Geltung
kommen als die im Schwange befindlichen Argumente der
Soziologie und der kirchenpolitischen Erfahrung. Zusammengefaßt
:

1. Das Pfarramt kann in keinem Fall nur von der Funktion
des Predigtamtes her verstanden werden. Es verkörpert auf
jeden Fall in seinem Begriff die Institution eines Leitungsamtes
— sei es das abgeleitete Leitungsamt des Diözcsanbischofs bzw.
der Landeskirchenleitung, sei es das in der Struktur der Gemeinde
selbst begründete und ausgebildete Leitungsamt.

2. Im ersten Falle ist der Pfarrer Beamter seiner vorgesetzten
Behörde, dessen (pfarramtlicher!) Status leichter verwal-
tungsrechtlich als theologisch beschrieben werden kann; insbesondere
dann, wenn eine kultpriestcrlichc Begründung entfallen

muß. Im zweiten Falle könnte sein Leitungsamt eher in neu-
testamentliche Kategorien, also theologisch gefaßt werden.

3. Durch die bischöfliche Prädikation des Pfarramtes wird
dessen bloß beamtenrechtliche oder gar nur beruflich-funktio-
nelle Definition unmöglich. Die primäre Zuordnung des Pfarramts
würde vielmehr von der vorgesetzten Behörde zur Gemeinde
hinüberwechseln und deren korporative Mündigkeit
und Durchbildung voraussetzen — bzw. postulieren.

4. Trifft die Voraussetzung korporativer Mündigkeit
im Blick auf unsere Gemeinden nicht zu, so wird sie durch
die rechtverstandenen bischöfliche Prädikation des Pfarramts
doch als Postulat so zwingend, daß die Praktische Theologie
herausgefordert wird, die strukturellen Konsequenzen aus
dieser Lage zu ziehen und zu formulieren.

5. Diese „bischöfliche" Prädikation des Pfarramts nimmt
nicht die monarchisch-diözesanen Traditionselemente der btuatö-
nr auf, sondern rückt eine „funktionalisierte Autoritätsverwaltung
" des vom verantwortlichen Gemeindeaufbau her verstandenen
Leitungsamtes durchaus in den Bereich moderner Lösungsmöglichkeiten
.

Die theologische und praktische Bedeutung der Liturgiegeschichte für die
gegenwärtige kirchliche Situation1

Von William Nagel, Greifswald

Zunächst wurden jene für die gegenwärtige kirchliche Lage
charakteristischen Momente skizziert, die von der Fragestellung
des Themas her unser besonderes Interesse verlangen:

Bei der zentralen Bedeutung rechter Wortverkündigung für
die Kirchen der Reformation hängt deren Existenzberechtigung
unabdingbar an der Frage, was wir aus dem Wort werden lassen,
das uns anvertraut ist. Es kann nur als Ausdruck der Gegenwart
göttlicher Gnade heil- und lebenschaffend ergehen, soweit die
Korrelation von Hören und Antworten, von Beten und Empfangen
, von ehrfürchtiger Hinwendung zu Gott und liebender Zuwendung
zur Welt intakt bleibt. Diese Korrelation erscheint
heute dort in Frage gestellt, wo die Rede von Gott zum Ausdrucksmittel
für die Tiefe menschlichen Sclbstversfändnisscs
wird. Wenn ich mich nicht mehr Gott als einem wirklichen Gegenüber
zuwenden kann, stirbt das Gebet ab. Doch eben nur „in
der Dimension des Gebetes" kommt es zu echtem Hören und
damit zu einer Verkündigung, die nicht mein und der Welt Wort
weitergibt. Man kann deshalb die tiefe Unruhe in unseren Gemeinden
verstehen, die sich zwar unqualifiziert äußern mag, aber
zurecht das Zentrum evangelischen Glaubens bedroht empfindet.

Als ein weiteres charakteristisches Moment im kirchlichen
Geschehen der Gegenwart wurde jener manchmal schon hektische
Betrieb ins Auge gefaßt, wie er sich auf zahllosen Tagungen unter
dem Stichwort „Dienst an der Welt" entfaltet. Sicher sind die
Kirchen heute gerufen, vertiefte Überlegungen über ihren Dienst
an der Welt angesichts neuer Situationen, neuer Probleme und
neuer Möglichkeiten für die Interpretation des christlichen Glaubens
in der modernen Welt anzustellen. Aber können solche Bemühungen
wirklich für die Welt heilbringend werden, wenn
nicht mit gleicher Leidenschaft die Frage wachgehalten wird, wie
denn innerhalb der modernen Gesellschaft ein solcher Dienst vor
seiner Selbstentfremdung durch die Säkularität bewahrt werden
kann? Die Verwechslung der rettenden Gottesliebc mit Surrogaten
in Gestalt aller möglichen sozialen Ideen kann einem doch
heute bereits im homiletischen Seminar begegnen. In diesem Zusammenhang
mußte auch das Stichwort „Kirchenreform" berührt
werden, drängt man doch auf eine solche um neuer Wirkungskraft
der Kirche auf die Welt willen. Hier darf aber die Gefahr
nicht übersehen werden, daß soziologische Erkenntnisse unkritisch
auf Kirche und Gemeinde zur Anwendung kommen, die
doch gesellschaftliche Gebilde eigner Art sind. Alle derartige Ak~

') Kurzfassung des auf dem 2. Wiener Ev. Theologenkongreß Sept.
1966 gehaltenen Sektionsreferats.

tivität scheint längst nicht immer dem Rechnung zu tragen, daß
ein Leben und Wirken in der Kraft des Glaubens wie schon unser
leibliches Leben an der Entsprechung von Einatmen und Ausatmen
hängt.

Auf der gleichen Ebene begegnet man heute jedem Ansatz
zu sakralen Formen im Bau wie in der Innengestaltung gottesdienstlicher
Räume, in der Sprache und der Musik des Gottesdienstes
mit Mißtrauen, ja, Ablehnung. Christscin könne sich
nicht in einer sakralen Sphäre, es müsse sich im profanen Lebensraum
, mitten im höchst unfeierlichen Alltag, verwirklichen. Aber
ist nicht das Pro-fanum, gerade wenn man diesen Begriff ernstnimmt
, darauf angelegt (pro!), auf das Fanum, das Heilige, bezogen
zu werden? Wie kann darum Wort und Werk der Kirche
einer heute ihres letzten Sinnes entkleideten Profanität zum Heil
werden, wenn es uns nicht gelingt, jene Spannung zwischen
sakral und profan wieder fruchtbar zu machen? Man sollte vielmehr
der profanen Alltäglichkeit helfen, zugleich mit ihrer Be-
zogenheit auf den Raum des Heiligen ihren eigenen letzten Sinn,
ihre wahre Würde zu entdecken.

Was die ökumenische Entwicklung anlangt, hat man hier spät
genug erkannt, daß das wechselseitige Verhältnis der getrennten
Kirchen mindestens so sehr durch die Verschiedenheit gottesdienstlicher
Überlieferung und liturgischer Formen bestimmt wird
wie durch formulierte Bekenntnisse und theologisch diskutierbare
Unterscheidungsichren. Wenn das Kirchcnvolk die Linterschiede
liturgischer Ordnungen sehr viel unmittelbarer als solche empfindet
gegenüber eigentlichen Lehruntcrschieden, dann wirkt sich
darin doch die richtige Ahnung aus, daß die innere Lebendigkeit
einer Kirchengemeinschaft, der Vollzug ihrer Frömmigkeit gerade
im Gottesdienst in Erscheinung tritt, und dieser deshalb zu befragen
ist, wieweit er wirklich der Paidagogia Gottes zum Glauben
zu dienen vermag. Ich kann die Antwort auf diese Feststellung
hier gleich vorwegnehmen: wenn uns die Gottesdienstgeschichte
die fremdartige liturgische Formenwelt einer Kirche verstehen
lehrt und uns so befähigt, den geistlichen Sinn derartiger Formen
zu erfassen, kann dadurch der Weg zueinander wesentlich
erleichtert werden.

Schließlich wurde auch jene Not unseres heutigen theologischen
Studiums berührt, daß unsere Studenten trefflich theologisch
diskutieren lernen, aber das alles sooft nur „Übung am
Phantom" bleibt. Es fehlt in hohem Maß jede eigene lebensmäßige
Beziehung zu jener Wirklichkeit, in deren Gegenwärtigwerden
Gebet und Verkündigung überhaupt erst sinnvoll werden
und auch theologisches Denken wirklich substanzhaltig.