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Ausgabe: | 1967 |
Spalte: | 316 |
Kategorie: | Kirchenrecht |
Autor/Hrsg.: | Ruf, Norbert |
Titel/Untertitel: | Furcht und Zwang im kanonischen Eheprozess 1967 |
Rezensent: | Oyen, Hendrik |
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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 4
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(Poenitentialien) einen kasuistisch ausgebauten Katalog von
Bußwerken, die z. T. an die Stelle der Exkommunikation traten
und, wie es germanischem Rechtsdenken entsprach, das kirchliche
Strafrecht „privatisierten". In der Karolingerzeit wurden die
Bußwerke teilweise mit weltlichen Strafen (Prügelstrafe) vermengt
. Die Todesstrafe ist als kirchliche Strafe nie vorgekommen
. Aber die Kirche hat sie als weltliche Strafe bejaht und in
manchen Fällen, insbesondere bei Ketzern, ihre Handhabung
durch die Staatsgewalt gefordert. Eine starke Beeinflussung durch
das germanische Verfahrensrecht zeigt auch die Sendgerichtsbarkeit
der Bischöfe, die später den Archidiakonen zufiel. Für diese
Entwicklung ist typisch, daß die ursprünglichen Sendzeugen die
Stellung von Sendschöffen bekamen.
Die Kanonistik des hohen Mittelalters suchte dann, die
verschiedenen heterogenen Elemente in einem festgefügten System
zu vereinen. Sie brachte die klare Unterscheidung des großen
und des kleinen Bannes und den Begriff der Tatstrafen
(poenae latae sententiae), die im Gegensatz zu den Spruchstrafen
(poenae ferendae sententiae) ohne Richterspruch ipso jure als
unmittelbare Folge der begangenen Straftat eintraten. Die zen-
tralistische Entwicklung des mittelalterlichen Kirchenverfassungsrechts
führte ferner dazu, daß den Pfarrern jede kichliche Strafgewalt
entzogen wurde. Sie gehört nunmehr allein zur Zuständigkeit
des Papstes und der Bischöfe. Mit großer Offenheit wird
dargelegt, wie der Mißbrauch der kirchlichen Strafgewalt, insbesondere
des Bannes und des Interdiktes, um politische Zugeständnisse
und finanzielle Leistungen zu erzwingen, nicht unwesentlich
zur Entwicklung reformatorischer Ideen beigetragen hat.
Die Neuzeit brachte eine zunehmende Einschränkung der
kirchlichen Strafgerichtsbarkeit. Der moderne Staat ließ ihre völlig
unabhängige Ausübung nicht mehr zu und behielt sich ihre
Beaufsichtigung vor, eine Entwicklung, die von den Anfängen
des Polizeistaates bis zur Kulturkampfgesetzgebung des 19.
Jahrhunderts zu verfolgen ist. Dazu kam im 19. Jahrhundert
das fortschreitende Schwinden der unmittelbaren kirchlichen
Autorität in breiten Bevölkerungskreisen. Die kirchliche
Strafgewalt über Laien wurde dadurch — sozusagen auf soziologischem
Wege — erheblich eingeschränkt, und die kirchliche
Strafgerichtsbarkeit wurde in erster Linie zu einem Disziplinarrecht
für Kleriker.
In der Gegenwart sieht sich die kirchliche Strafgerichtsbarkeit
der modernen strafrechtlichen und rechtsstaatlichen Problematik
gegenübergestellt. Ihre Reformbedürftigkeit wird festgestellt.
Dabei wird hervorgehoben, daß ein dem weltlichen Strafrecht
entsprechendes perfektes Strafrechtssystem mit einzelnen scharf
umrissenen Deliktstatbeständen im kirchlichen Raum nicht möglich
ist. Die Lage ist hier ähnlich wie im weltlichen Beamtendis-
ziplinarrecht. Dagegen entspricht die kanonistische Unterscheidung
zwischen Vergeltungs- und Besserungsstrafen (poenae vin-
dicativae und poenae medicinales) nach Ansicht des Verfassers
durchaus modernem Rechtsdenken. Der Unterschied zwischen
beiden soll nicht verwischt werden. Jedoch wird betont, daß der
Besserungsgedanke dem Wesen der Kirche entspricht, und daß
er auch in der Vergeltungsstrafe als sekundäres Element vorhanden
ist.
In der modernen Rechtswelt bereitet die ipso jure durch
Vollendung des Delikts eintretende Tatstrafe Schwierigkeiten.
Der Verfasser tritt für ihre starke Einschränkung, insbesondere
bei Laien, ein. Ihr fehlt das rechtliche Gehör, das ein wesentliches
Element der modernen Strafrechtspflege darstellt. Es ist
auch im kanonischen Verfahren der Suspension eines Klerikers
durch den Bischof ohne vorherige Anhörung des Beschuldigten
(suspensio ex informata conscientia) nicht gegeben. Ernste Bedenken
bestehen ferner gegen das Interdikt, das eine Kollektivschuld
des davon betroffenen Personenenkreises voraussetzt.
Für Leser dieser Zeitschrift sei darauf hingewiesen, daß die
evangelische Kirche in mancher Hinsicht ähnlichen Problemen
gegenübergestanden hat. Sie besaß lange Zeit als Erbe des Staats-
kirchentums ein aus polizeistaatlicher Wurzel herausgewachsenes
Kirchenzuchtrecht, das zu einem großen Teil nichts anderes als
Polizeistrafrecht war. Aus denselben soziologischen Gründen wie
bei der katholischen Kirche — Autoritätsschwund der Kirche in
breiten Bevölkerungsschichten — konnte es auf die Kirchenglieder
in ihrer Gesamtheit nicht mehr angewendet werden. Hier ist
durch die modernen flexiblen Lebensordnungen, die an seine
Stelle getreten sind, die Reform bereits durchgeführt. Daneben
ist ein neues Disziplinarrecht für Träger des geistlichen Amtes
und Kirchenbeamte geschaffen worden.
Erlangen Hans Licrniann
Ruf, Norbert: Furcht und Zwang im kanonischen Eheprozeß unter
besonderer Berücksichtigung der Ehesimulation. Freiburg-Basel-Wien:
Herder 1963. 148 S. gr. 8° = Freiburger Theol. Studien, hrsg. v. J.
Vincke, 80. H. Kart. DM 16.80.
Die sehr spezielle Thematik dieser Untersuchung befaßt
sich ausschließlich mit den can. 1086 und 1087 des CIC. In einem
I. Teil (S. 25—89) werden die geschichtlichen Grundlagen
des Ehehindernisses „Furcht und Zwang" nacheinander im kanonischen
Recht behandelt. Dabei zeigt sich, daß die Kirche im
Mittelalter lange Zeit das in den germanischen Volksrechten
ausgebildete Institut der väterlichen Einwilligung anerkannte,
dann aber die römische Form der Konsens-Ehe übernahm, die sie
allerdings durch strenge Bestimmungen als sakramentalen und
damit unauflöslichen Vertrag schützen mußte. Das impedimen-
tum vis ac metus stand dabei lange im Hintergrund des rechtlichen
Interesses, bis psychologische Gesichtspunkte zunehmend an
Gewicht gewannen und dann auch im can. 1087 des CIC ihren
Niederschlag darin fanden, daß dort die menschliche Willensfreiheit
bei der Eheschließung als konstitutives Element dieses
Rechtsaktes gefordert wird.
Der II. Teil der Arbeit (S. 91—144) legt in einem ersten
Kapitel die Tatbestandsmerkniale des Ehehindernisses „Furcht
und Zwang" frei und zeigt, unter welchen präzisen Voraussetzungen
eine Ehe-Ungültigkeitserklärung erfolgen kann.
Der eigenständige Beitrag des Verfassers zur Diskussion
beginnt erst im zweiten Kapitel: „Das Ehehindernis der Simulation
", um dann im dritten Kapitel des corpus seine Studie, nämlich
das Verhältnis des can. 1087 § 1 zu Can. 1086 § 2 CIC (metus
ac simulatio) zu entfalten. Hier sieht Ruf eine Lücke in der
Spruchpraxis der S. R. Rota, und zwar insofern, als sie eine Ehenichtigkeits
-Klage nur entweder nach Can. 1087 § 1 (metus)
oder nach Can. 1086 § 2 CIC (simulatio) zuläßt. Für eine zu
erwartende Reform des CIC schlägt der Autor im Blick auf dieses
Problem de lege ferenda eine Modifikation der beiden genannten
Gesetzesbestimmungen vor, die darauf hinausläuft, daß
der bisher in einem metus-Prozeß ausgeschlossene Simulationsbeweis
zugelassen werde.
S. 141, Z. 14f. von unten: lies „ausschließende" (statt ausschießende
).
Basel Hendrik van Oyen
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