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Ausgabe:

1967

Spalte:

304-305

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Oldendorff, Antoine

Titel/Untertitel:

Grundzüge der Sozialpsychologie 1967

Rezensent:

Becker, Karl-Heinz

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 4

304

sehen Erlebniskategorien (251), eine Abhandlung über den kognitiven
Effekt der Gefühle stelle ich sehr hoch, wie ich umgekehrt
bedaure, daß in den Darlegungen über die Stimmungen die wichtige
Phänomenologie der Stimmungen von Bollnow (31956) keine
Beachtung gefunden hat. Reich an Gesichtspunkten ist das
(XI.) Kapitel über die Antriebserlebnisse; hier zwar über die
Träume nichts Neues, aber über die Suggestion eine sehr differenzierte
Abwägung der verschiedenen Formen und ihres Wertes.
Die Willensvorgänge werden im (XII.) Kapitel verhältnismäßig
knapp abgehandelt.

Der dritte Abschnitt „Komplexe Kenntnisnahmeformen"
ist mit seinen vier Kapiteln der längste. Das (XIII.) Kapitel über
die seelischen Übernahmen, also vor allem das Lernen, ist pädagogisch
beachtlich. Die schöne Arbeit von Alois Fischer über
„Nachahmung und Nachfolge" hätte freilich mindestens thematisch
nicht in Vergessen geraten dürfen, wie denn auch über die
Massenmedien und ihre Bedeutung für das Phänomen seelischer
Übernahme eine leicht erreichbare Literatur vorliegt, die m. E.
hätte einbezogen werden sollen. Der Umgang (XIV.) und die Erfahrung
(XV.) sind kurze, aber für den pastoralen Ertrag der religionspsychologischen
Forschung besonders erfreuliche Beispiele.
Das letzte (XVI.) Kapitel über das Offenbarungserlebnis ist
zweifellos im ganzen Buch das problematischste Stück, wenn auch
sicherlich in erster Linie für den nichtkatholischen Leser. Es versteht
„Offenbarung" rein kognitiv, es begreift unter diesem Begriff
alles, was nach einer weitgegriffenen katholischen Terminologie
„übernatürlich" verursacht ist, also auch das Wunder, Erscheinungen
, auch parapsychologische Phänomene werden hier
abgehandelt; es ist offenkundig schwierig, hier überall den psychologischen
Aspekt im Auge zu behalten.

Das Buch hat, aufs Ganze gesehen, einige unbestreitbare
Vorzüge. Gut ist die umfassende und mit Glück gehandhabte
Systematik. Sie steigert nicht nur die Lesbarkeit dieses ohnehin
gut geschriebenen und ausgereiften Werkes, sie ist auch wie ein
Netz über die Sachverhalte gespannt, das uns zu bestimmten
Themen führt, welche oft zum Schaden der Religionspsychologie
vergessen werden. Gut ist die Zurückhaltung gegenüber methodischen
Einseitigkeiten, insbesondere gegen die oft so penetrante
Überschätzung der Fragebogenmethode (Gruen). Die Methodenfrage
erscheint überhaupt als relativ, immer am Stoff selber
orientiert. Gut ist ferner, daß den Verfasser die Vorstellung
gar nicht plagt, eine Religionspsychologie sei erst dann in Ordnung
, wenn sie wert- und stellungsneutral durchgeführt würde.
Der Verfasser ist unverhohlen in seinem katholischen Glauben zuhause
, und das erschließt ihm glückhaft eine Fülle von Material.
Gut ist, was besonderer Hervorhebung wert ist, die immer wiederkehrende
Frage, ob nicht an sich wichtige Phänomene auch
Fehldeutungen zulassen, ob nicht auf richtigen Wegen Fehlleistungen
zu beobachten sind, so bezügl. der Antriebserlebnisse
(276), der selbstischen Antriebe (28 8), der Suggetsion (315ff.)
u. a. Auch in dem Kapitel über die Offenbarung ist der umsichtig
kritische Zug hervorzuheben.

Ich muß diesen Vorzügen freilich drei grundsätzlich kritische
Bedenken entgegen stellen. Das erste betrifft die ungebrochen
katholischen Voraussetzungen des Buches. Ich meine nicht
das katholische Anschauungsmaterial: Altötting 163, Lourdes
461, Kirche und Kirchenbesuch 51, 325, 3 84 u. ö. Es sind vielmehr
die ganz harmlos als selbstverständlich unterstellten dogmatischen
Voraussetzungen, die immer wieder auffallen. Dies
betrifft vor allem die an die Heiligkeit gewendete Terminologie:
„abgeleitete", „erworbene", „relative" Heiligkeit (133 u. ö.),
„objektive" Heiligkeit und „Heiligkeitspersonen" (189), es betrifft
aber auch die theologische Lehre von der Offenbarung,
von der Übernatürlichkeit derselben, von mystischer Offenbarung
usw. (413ff.) in allen dogmatischen Einzelheiten. Im Zusammenhang
damit muß ich auch die unkritische Einbringung
eines biblischen Realismus, d. h. psychologisch interpretierter
Bibelstellen in das religionspsychologische Material notieren:
Apok. 4,2 (60); Acta 17,32 (359); 17,16-29 (378); Mt. 2,13
(428) usw. Das ist angesichts der heutigen Phase der theologischen
Exegese ein schwer zu übersehender Schönheitsfehler des
Buches. Mein zweiter Einwand betrifft den Kontext, in dem heute
nach meiner Überzeugung allein psychologische Arbeit geleistet
werden kann. Man kann nicht leugnen, daß sich heute an
vielen Stellen die Psychologie mit der Soziologie, wenigstens in
Gestalt der Sozialpsychologie, überschneidet. Ebenso sind entscheidende
Erkenntnisse, etwa der Sprachphilosophie, dergestalt,
daß sie in der Sprachpsychologie nicht mehr übersehen werden
dürfen. Ich habe schon oben die Stellen angedeutet, an denen ich
die Befürchtung hege, es möchte das Beharren in einer enggegriffenen
Begrenzung religionspsychologischer Fragestellung die
Religionspsychologie selbst bei einer vergangenen Fragestellung
behaften. — Mein drittes Bedenken gilt aber der Begrenzung der
Religionspsychologie selbst, wie sie hier vorliegt: der Vorstellung
von der Welt des Religiösen, des Heiligen als einer jenseitigen
Welt, als eines „Gegenstandsbereiches". Daraus folgend
ist dann das Hauptproblem der Religion selbst das der Kenntnisnahme
, der Erkenntnis, der Stellungnahme, der Zustimmung. Es
ist eine Fülle von Objektbeziehungen. Aber, so möchte man 160
Jahre nach Schleiermacher fragen, erkennen wir in dieser defini-
torischen Begrenzung auf das Subjekt-Objektschema die Religion
wieder, wie sie uns moderne Menschen im Blick nicht nur auf
die weite Fülle der religiösen Erscheinungen unter den Völkern,
sondern doch auch in der Reflexion auf uns selbst bewegt? Und
das hemmt mich etwas, die Freude an der Rehabilitierung der
Religionsphilosophie Rudolf Ottos als Schlußakkord an das Ende
dieser Rezension zu setzen.

Göttingen Wolfgang T r i 11 h aa s

Oldendorff. Antoine: Grundzüge der Sozialpsychologie. Betrachtungen
über die Problematik der sozialen Wirklichkeit. Mit einem
Geleitwort von F. J. J. Buytendijk. Aus dem Niederländischen übersetzt
von Willy L e s o n. Köln: Bachem [1965]. 232 S. m. 6 Abb. 8°.
Lw. DM 22.-.

Was ist Sozialpsychologie? Auf diese Frage gibt das Buch
des 1912 in Djakarta geborenen holländischen Dozenten eine
umfassende und ungemein interessante Antwort. Der Verfasser
ist Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Technischen
Hochschule Eindhoven und an der Wirtschaftshochschule
Tilburg; er war u. a. auch kurz Leiter der staatlichen Sozialforschung
und -planung in Batavia, dem heutigen Djakarta. Wenn
man weiß, zu welch überraschenden und aufschlußreichen Ergebnissen
die Methoden der sogenannten Verhaltensforschung in der
Tierwelt, z. B. die Erkenntnisse von Professor Lorentz schon geführt
haben, so wird man zugeben müssen, daß die Anwendung
dieser psychologischen Forschungsmethoden auf die Menschenwelt
zu noch viel interessanteren Ergebnissen führen muß. Damit ist
es allerdings noch keineswegs getan. Der unendliche Reichtum
des menschlichen Wesens erfordert zunächst noch eine außerordentliche
Verfeinerung dieser Methoden, zum anderen aber sind
die Ergebnisse der Tierpsychologie auch keineswegs ausreichend
und geeignet, das Rätsel und die ganze Tiefe dieses Wesens wirklich
zu erfassen. Davon gibt das in geistvollem wissenschaftlichem
Plaudcrton geschriebene, aber auch ernsthaftes Studium verlangende
Werk Aufschluß. Es informiert ausgezeichnet und objektiv
über den bereits erreichten überraschend hohen Entwicklungsstand
der wissenschaftlichen Erforschung der Sozialpsychologie in
der heutigen Welt, vor allem auch in Europa und Nordamerika.
Professor Buytendijk hebt in seinem Geleitwort zur deutschen
Ausgabe des Buches u. a. die Fähigkeit des Verfassers hervor,
philosophische Einsichten einfach, ohne „Schwerfälligkeit" darzulegen
, und verweist auch darauf, daß in der deutschen Kultur die
Besinnung auf den Menschen das wissenschaftliche Denken und
Arbeiten ununterbrochen und entscheidend beeinflußt hat. „Dieser
Einfluß ist in unserer Zeit stärker denn je". Im Vorwort bezeichnet
der Verfasser sein Buch als eine Art „Schaufenster der
Sozialpsychologie", ergänzt durch umfangreiche Literaturverzeichnisse
, und begründet es, daß er „die Frage nach der menschlichen
Person selbst" an den Anfang stellt. Er sieht im Menschen kein
„determiniertes Produkt des Kollektivs", sondern ein „fundamental
freies und selbständiges Wesen". Die Einleitung bezeichnet
zunächst die „sozialpsychologische Betrachtungsweise" u. a. als .
„die Wissenschaft vom Verhalten des Individuums in seiner so^
zialen Situation", — auch als „das Problem des Menschen in sei-