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Ausgabe:

1967

Spalte:

261-264

Autor/Hrsg.:

Benrath, Gustav Adolf

Titel/Untertitel:

Stand und Aufgaben der Wyclif-Forschung 1967

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261

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 4

262

Stand und Aufgaben der Wyclif-Forschung1

Von Gustav Adolf Benrath, Heidelberg

Nachdem vor hundert Jahren der Leipziger Kirchenhistoriker
G. V. Lechler nahezu allein auf weiter Flur in die Wyclif-
Handschriften eingedrungen war und damit die neuere Wyclif-
Forschung eingeleitet hatte, setzte vor dem 500. Todestag
Wyclifs (f 1384) mit der Begründung der Wyclif Society (1882)
eine späte, fast überstürzte Blütezeit des Wyclifstudiums ein, in
der man Wyclif als großen Philosophen überschätzte und als
"Morning Star of the Reformation" feierte. Die schönste, dauerhafteste
Frucht dieser Blütezeit war die Ausgabe von 36 Bänden
seiner lateinischen Werke, die in englisch-österreichisch-deutschcr
Zusammenarbeit von der Wyclif Society getragen wurde3. Bei
dieser Edition erwarb sich der österreichische Historiker Johann
Lcserth (f 1936) die größten Verdienste. Loserth wies mit Nachdruck
auf die theologische Bedeutung Wyclifs hin, der über der
historisch folgenreicheren Nachwirkung seines Schülers Hus zu
Unrecht in den Hintergrund getreten war'1. Die zusammenfassende
Biographie, die Loserth nicht mehr verfaßte, schrieb
der Oxforder Theologe Herbert Workman (1926)

1.

Nach dem Abschluß der Wyclif-Ausgabe (1922) konnte der
amerikanische evangelische Theologe Samuel Harrison Thomson
noch eine Anzahl von ungedruckten kleineren Schriften veröffentlichen
*'1. Sein Schüler Allan Brede gab neuerdings das
Wyclifsche Frühwerk "De Trinitate" heraus''. Der vorliegende
Bestand der gedruckten Werke wurde dadurch jedoch nur wenig
vermehrt. Zwei größere Schriffenkomplcxe Wyclifs werden ihres
Gegenstand und ihres Umfangs wegen vermutlich auch in Zukunft
unveröffentlicht bleiben: die „Summa de Ente" (2 Bücher
zu 7 + 6 Traktaten)0 und der große Bibclkommentar, von dem
fünf der ursprünglich vorhandenen 8 Teile erhalten sind. Drei
von ihnen wurden Wyclif erst im Jahre 195 3 durch die Oxforder
Historikerin Beryl Smalley endgültig zugesprochen7. Als Ersatz
für den fehlenden gedruckten Text unternahmen es zwei neuere
Arbeiten, den Inhalt dieser beiden Schriftenkomplexe aus den
Handschriften unmittelbar darzustellen: die Arbeit von James
Robson mit dem Titel "Wyclif and the Oxford Schools"8 und
meine eigene mit dem Titel „Wyclifs Bibelkommcntar"". Sowohl
die „Summa de Ente" als auch der Bibelkommentar sind für den
Einblick in das Werden der Theologie Wyclifs sehr wichtig,
und wer in Zukunft eine Darstellung der Theologie Wyclifs
schreiben will, kann an ihnen nicht mehr vorbeigehen, wie das
bisher der Fall war.

2.

Daß sich bei erneuter Durcharbeitung der vorliegenden gedruckten
Schriften Wyclifs und bei gründlicher Klärung des
komplizierten Verhältnisses zwischen seinen großen scholastischen
Werken und den kurzen, mehr aktuell-populären
Schriften einige chronologische Korrekturen ergeben würden,

*) Kurzbericht vor der Kirchengeschichtlichen Sektion des Evang.
Theologentags in Wien am 27. 9. 1966 (im folgenden gekürzt). Ein
eingehendes Referat an anderer Stelle ist in Aussicht genommen.

~) Unveränderter Nachdruck Frankfurt a. M. (Minerva GmbH)
1966 (DM 2240.-).

') Wyclif und Hus, '1884, J1925.

*) John Wyclif, 2 Bde., Oxford 1926.

*") Three Unprinted Opuscula of John Wyclif, Speculum 1928,
248—25 3. — Ders.: Johannis Wyclif Summa de Ente libri primus et
secundus. Oxford 1930.

5) Johannis Wyclyf Tractatus de Trinitate ed. Allen duPont
Brcck, Denver, Col. USA, 1962.

6) Übersicht bei Robson (s. u. Anm. 8) S. 118—122. — Buch L
Traktat 1 und 2 ist ediert (s. o. Anm. 4a).

') John Wyclifs Postilla super totam Bibliam. The Bodleian
Library Record 4 (1953) 186—205.
8) Cambridge 1961.

") Arbeiten zur Kirchengeschichte 36, Berlin 1966 (Lit.).

war eigentlich von vornherein anzunehmen'". Solche Korrekturen
haben aber nicht nur Veränderungen des historischen
Gesamtbildes, sondern auch der theologischen Bewertung
Wyclifs zur Folge. Hierfür drei Beispiele: 1) Die gesamte ältere
Forschung war der Meinung, Wyclif habe in den Jahren 1376
und 1377 eine Art Kanzelkampagne für die politischen Ziele des
Herzogs von Lancaster durchgeführt". Nationale, politische
Motive seien es gewesen, von denen Wyclifs Kirchenkritik
ihren Ausgang nahm. Kürzlich gelang es nun aber dem amerikanischen
Theologen William Mallard, dreißig der sog. „Quadra-
ginta Sermones" Wyclifs zum ersten Mal auf diese betreffenden
Jahre genau zu datieren12. An politischer Argumentation enthalten
sie nichts. Wyclifs Ausgangspunkt waren im wesentlichen
biblische und scholastische Gedanken, kein politisches Tagesprogramm
. Er wollte der Erneuerung der ganzen abendländischen
Kirche dienen, nicht den vordergründigen Zielen des englischen
Hochadels. Er war vor allem Theologe, nicht Parteimann.
2) Weiterhin gehört es zur communis opinio der gesamten
älteren Forschung, Wyclif sei mit den Bettelorden gut Freund
gewesen, bis er seit 1379 (oder 1381) die nominalistische
Abendmahlslehre angriff. Darüber kam es zum Bruch1'. Nun ist
es zwar richtig, daß ihm bei seiner ersten Vorladung im Februar
1377 vier gelehrte Bettelmönche als Verteidiger zur Seite standen
. Den Aussagen von Wyclifs Bibelkommentar läßt sich jetzt
aber entnehmen, daß Wyclif schon viel früher, Anfang der
1370er Jahre, grundsätzliche religiöse Einwände und Vorwürfe
gegen die Bettelmönche erhob14. Auch in diesem Falle erscheinen
letztlich theologische Motive für Wyclifs Stellung maßgebend,
auch wenn die Bettelorden eine Zeitlang gemeinsame Sache mit
ihm machten. 3) Und was schließlich das Datum seines Angriffs
auf die Abendmahlslehrc betrifft, so konnte es nach den älteren
Darstellungen scheinen, als hätte Wyclif im Jahre 1381, mit dem
Papsttum nunmehr zerfallen, mit der Bestreitung einer zentralen
Lehre der Kirche gleichsam auftrumpfen wollen. Die bisher nicht
genügend beachteten Quellen ergeben ein anderes Bild: Schon
ein ganzes Jahrzehnt vorher begann Wyclif im Rahmen akademischer
Disputationen Jahr für Jahr in immer neuen Anläufen
die nominalistische Transsubstantiationslchre mit seinen für ihn
unumstößlichen realistischen Grundsätzen so oder anders in Einklang
zu bringen. Schließlich mußte er die Unmöglichkeit seiner
Versuche einsehen und trat unerschrocken an die Öffentlichkeit.
Auch dieser Befund spricht für die theologische Gewissenhaftigkeit
Wyclifs und für die Priorität der theologischen Motive vor
den kirchenpolitischen.

3.

Aus Robsons Buch gewinnt man nicht nur einen Einblick
in Wyclifs philosophisches Frühwerk, sondern auch in die nomi-
nalistisch bestimmten Oxforder Schultraditionen, in deren Mitte
sich die „extrem"- oder „ultra"-rcalistische Position Wyclifs
geradezu einzelgängerisch und alfmodisch-konservativ ausnimmt
.

Mehr Bearbeiter als dieses nur für Geübte begehbare Gebiet
hat von jeher die Lehre Wyclifs von der göttlichen und von der
irdisch-bürgerlichen Herrschaft gefunden, die theoretische Voraussetzung
seiner Kirchenpolitik insofern, als er die irdisch-bürgerliche
, mit zwingender Strafgewalt ausgestattete Herrschaft der
Kirche als unevangelisch und mit dem wahren geistlichen Wesen
der Kirche unvereinbar ablehnte. Namentlich die Angelsachsen
haben diese Themen der "political theory" Wyclifs mit Vorliebe
behandelt, aber trotz der neueren Arbeit des amerika-

10) Zum kirchlichen Prozeß gegen Wyclif vgl. Joseph H. Dahmus:
The Prosecution of John Wyclif, New Häven, USA 1952 (Lit.).

") So zuletzt z. B. K. B. MacFarlane: John Wyclif and the
Beginnings of English Nonconformity, London 1952, S. 70.

12) Dating the Sermones Quadraginta of John Wyclif. Mediac-
valia et Humanistica 17 (1966) 86—105.

") z. B. Workman (s. o. Anm. 4) Band 1, S. XXXVI.

14) Benrath (s. o. Anm. 9) S. 334 f.