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Ausgabe:

1966

Spalte:

924-926

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kasch, Wilhelm F.

Titel/Untertitel:

Die Sozialphilosophie von Ernst Troeltsch 1966

Rezensent:

Benckert, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 12

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Tierney, Brian: Die Kollegialität im Mittelalter (Concilium 1, 1965
S. 542-547).

Weiler, Anton: Neuere Literatur zum Problem der Regierungsgewalt
und der Autorität der Kirche im Frühen Mittelalter (Concilium l, 1965
S. 599—605).

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Protestantisches Christentum im
Zeitalter der Aurklärung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus G.
Mohn [1965]. 244 S. 8° = Evangelische Enzyklopädie, hrsg. v. H.
Thielicke u. H. Thimme, 5/6. Kart. DM 9.80.

Die Aufklärung war „der «Prügelknabe' der Moderne"
(Wolfgang Philipp). An die Stelle der historischen Analyse trat
die Tradierung von Vorurteilen. Erst in neuerer Zeit hat man sich
ihr in der Forschung intensiver zugewandt. Noch divergieren die
Gesamturteile und die Bewertung von Strömungen und Personen
erheblich. Dennoch ist es zu begrüßen, daß F. W. Kantzenbach eine
allgemein verständliche Analyse dieser Epoche vorgelegt hat. Sie
ist dazu geeignet, in die Problematik einzuführen, mit Fragestellungen
bekannt zu machen und die wichtigsten Vertreter der Aufklärung
einem breiteren Kreis vorzustellen. Dem Verf. geht es dabei
nicht um ein historisches Bemühen, das sich damit begnügt, Vergangenes
zu schildern. Sondern es liegt ihm daran, „in einer Zeit,
die in vieler Hinsicht dem kritischen Geist und hartnäckigen Fragen
des Aufklärungszeitalters verwandt ist, die tiefsten Motive in
Denken und Fühlen der Menschen aufzuspüren, auf deren Schultern
wir stehen." Nicht um politische Geschichte oder soziale Verhältnisse
ist es ihm zu tun, sondern um „das religiöse Leben in
seiner tatsächlichen Realität".

Es wird nicht das gesamte „protestantische Christentum im
Zeitalter der Aufklärung" behandelt, sondern der Verf. beschränkt
sich auf die Darstellung der „Verhältnisse im deutschen
Protestantismus lutherischer Prägung" (von mir
gesperrt). Zwar wird auch auf westeuropäische und vor allem auf
englische Denker hingewiesen, die zuerst das Verlangen nach Auf-
Klärung zum Ausdruck brachten und die auf die deutschen Theologen
einwirkten. Doch wird ihre Position normalerweise nur im
Spiegel ihrer positiven oder kritischen Aufnahme im Luthertum
(und teilweise auch im Reformiertentum) Deutschlands aufgezeigt
. Manche, für die Aufklärung wichtige Philosophen wie David
Hume werden nicht erwähnt. Offenbar stand die Bemühung im
Mittelpunkt, den zur Verfügung stehenden Raum soweit wie möglich
der Diskussion im deutschen Protestantismus zu widmen. Hoffentlich
wird es möglich sein, im Rahmen der Evangelischen Enzyklopädie
auch noch auf den historisch bedeutsamen angelsächsischen
Protestantismus des 18. Jahrhunderts und auf die römischkatholische
Kirche während dieser Zeit einzugehen, die im Josephinismus
und anderen Bewegungen eigene Varianten aufklärerischen
Denkens aufweist.

Der Weg der Aufklärung im deutschen Protestantismus wird
mit klaren Strichen skizziert. Nach Leibniz, Wolff und seinen
Schülern werden die Neologen behandelt, wobei deutlich gemacht
wird, wie sich die Problematik von der Betonung der „ewigen Vernunftwahrheiten
" und des „unveränderlich Geordneten" zur Frage
nach Vernunft und Offenbarung verlagerte. Mit Recht werden der
sogenannte „Fragmentenstreit" und die Stellung Lessings relativ
ausführlich behandelt, dessen Verständnis der „Offenbarung als
Geschichte" ja heute nicht nur im protestantischen, sondern auch
im römisch-katholischen Raum einen Widerhall findet. Auch auf
das Zeitschriftenwesen, die Popularphilosophen und Radikale wie
Edelmann und Bahrdt geht der Verf. ein, bevor die Darstellung
mit einer Analyse der Semlerschen Position schließt.

Die einzelnen Abschnitte sind normalerweise thematisch
überschrieben, aber zumeist nach dem Lebenswerk einzelner Personen
geordnet. Dadurch wird mit einer relativ großen Zahl von
Denkern bekannt gemacht. Aber die Grundlinien kommen nicht
immer deutlich heraus. Eine stärkere systematische Gliederung —
der Verf. spricht von Wolffianismus, Neologie und Rationalismus
— und eine Erklärung der gebrauchten Fachausdrücke wären für

den erwünschten breiteren Leserkreis hilfreich gewesen (zur Neologie
vgl. z. B. die Erläuterungen S. 127, aber schon S. 98 wird
Gottsched ein „radikaler Neologe" genannt). Der Rationalismus
des 19. Jahrhunderts — z. B. Wegscheidel Röhr oder Paulus —
wird nicht behandelt. Hier hätte doch wohl nicht die zeitliche
Grenze, sondern die Notwendigkeit des Weiterführens angefangener
und zusammenhängender Linien maßgeblich sein sollen. Da
der Band in sich „ein abgerundetes Bild" zu vermitteln wünscht,
hätte man am Schluß eine Entsprechung zu den Einleitungskapiteln
erwartet, in der die Ergebnisse zusammengefaßt und ein Ausblick
auf die weitere Entwicklung gegeben worden wäre. Doch sollen
diese Einwände das Verdienst des Verf.s nicht schmälern, der ja
vom derzeitigen Forschungsstand abhängig ist und der mit seinen
Ausführungen dazu beiträgt, die theologische Arbeit des deutschen
Protetantismus im 18. Jahrhundert unvoreingenommener
und sachgemäßer als bisher zu betrachten.

Rom Gerhard Müller

Falk, Johannes: Geheimes Tagebuch 1818—1826. Aus dem Nachlaß
hrsg. v. E. Schering unter Mitwirkung von G. Mlynek. Stuttgart:
Calwer Verlag [1964]. 307 S. 8°. Lw. DM 16.—.

Mit der Veröffentlichung des vollständigen Geheimen Tagebuchs
von Johannes Falk aus den Jahren 1818—1826 ist eine sehr
wertvolle kirchengeschichtliche Quelle erschlossen worden. Das
Original ruht im Goethe-Schiller-Archiv Weimar. Schering hat in
den Anmerkungen einen großen Personenkreis kurz vorgestellt
und Ereignisse, auf die Falk anspielt, sachgemäß kommentiert.
Vielleicht hätte es sich empfohlen, für den Anmerkungsapparat
auch die Sekundärliteratur beizuziehen. Falk, der Liebhaber des
johanneischen Typus im Neuen Testament, erinnert seine Zeitgenossen
zwischen Aufklärung. Idealismus und Erweckung unermüdlich
daran, daß der Glaube nicht ohne Liebe sein könne. Darum
verhält er sich gegenüber aller rein kontemplativen oder gar quie-
tistischen Mystik sehr reserviert. „Nur eine fortgesetzte Heiligung
durch tätige Liebe, daß wir für andere, nicht bloß für einen himmlischen
Glaubensegoismus leben, kann uns zu echten Schülern Jesu
Christi machen" (89). Diese Überzeugung führt Falk zu seinem sozialpädagogischen
Wirken an verwahrlosten Kindern. Über die
Kämpfe und Auseinandersetzungen, die Falk (und mit ihm andere
Pioniere auf diesem Gebiet) auf sich zu nehmen hatten, orientert
das Tagebuch in geradezu ergreifender Weise. Dabei gehört es zu
den besonderen Reizen dieses Tagebuchs, daß sein Verfasser der
Bildungswelt seiner Zeit intensiv zugekehrt ist. Von Goethe bis
Jean Paul, von Franz von Baader über Schelling, Fichte und Hegel
reicht sein Gesichtskreis. Der nur das „Wort vom Kreuz" predigenden
Erweckung steht Falk nicht minder kritisch gegenüber als
dem sich erneuernden, philosophisch-mystisch geprägten Katholizismus
. Es ist von großer Bedeutung, daß wir die eigene Prägung
eines christlich-kirchlichen Laienbewußtseins durch dieses Tagebuch
in so vielseitiger Weise kennenlernen. Die sorgfältige Gestaltung
des Buches ist eine Freude.

Strasbourg Friedrich Wilhelm Ka n tz enbaek

PHILOSOPHIE UND UELIGIONSPHILOSOPHIE

Kasch, Wilhelm F.: Die Sozialphilosophie von Ernst Troeltsdi. Tübingen
: Mohr 1963. IX, 283 S. gr. 8° = Beiträge zur hist. Theologie,
hrsg. v. G. Ebeling, 34. DM 32.— ; Lw. DM 36.50.

Troeltsch selbst hat alle seine Arbeiten mehr als Vorarbeiten
betrachtet. Sie entwickelten sich sozusagen auseinander. Zwar
liegen eine Glaubenslehre und die Soziallehren der christlichen
Kirchen vor; aber erstere ist postum nach Kollegnachschriften
veröffentlicht worden und stellt eine späte Form seiner Dogma-
tik dar, die er selbst sicher nicht mehr veröffentlicht hätte, und
letztere sind aus einer Buchbesprechung erwachsen und hätten
nach seinen eigenen Aussagen ergänzt und enttheologisiert, d. h.
universalgeschichtlich erweitert werden müssen. Schon diese Beobachtungen
zeigen, in welch starker Bewegung seine Gedanken