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Ausgabe:

1966

Spalte:

855-856

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Stelzenberger, Johannes

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der Moraltheologie 1966

Rezensent:

Trillhaas, Wolfgang

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 11

856

ETHIK

Stelzenberge r, Johannes: Lehrbuch der Moraltheologie. Die Sittlichkeitslehre
der Königsherrschaft Gottes. 2., verb. Aufl. Paderborn:
Schöningh 1965. 387 S. gr. 8°. DM 20.80; Lw. DM 24.80.

Dieses Lehrbuch der Moraltheologie, 1933 erstmals und seither
in einer französischen (1960) und niederländischen (1962)
Übersetzung erschienen, ist in der zweiten Auflage auf den neuesten
Stand gebracht. In knapper Diktion, sachlich aufs äußerste gestrafft
, überall mit hinreichenden Angaben über weiterführende
Literatur versehen, unternimmt das Buch in 149 §§ eine Gesamtdarstellung
des weitläufigen Gebietes in einem Band. Genaue Namen
- und Sachregister erhöhen die aktuelle Brauchbarkeit des Buches
.

Der Inhalt ist denkbar übersichtlich geordnet. Er teilt sich in
die allgemeine und spezielle Moraltheologie. Die allgemeine Moraltheologie
behandelt zunächst die wissenschaftstheoretischen
Fragen der Disziplin: ihren Begriff, ihr Verhältnis zur Ethik und
zu den übrigen Fächern der katholischen Theologie, ihre Erkenntnisquellen
, Methoden, ihre Geschichte und Einteilung. Sodann werden
in einem zweiten Abschnitt sowohl die biblischen Grundlagen
als auch die natürlichen Voraussetzungen der Moraltheologie abgehandelt
, wobei der Wille zu einem entschlossenen biblischen Einsatz
nachdrücklich sichtbar wird. Dies kommt, wie schon der Buchtitel
sagt und wie es dann die Einteilung der speziellen Moral bestätigt
, vor allem in den beiden Begriffen der Königsherrschaft
Gottes, der Basileia, und in dem neutestamcntlichen Agape-Be-
griff zum Ausdruck. Freilich könnte man unschwer eben am Einsatz
dieser beiden Begriffe zeigen, wie man neutestjsmentliche Begriffe
spezifisch „katholisch" interpretieren, d. h. eben auf die
überlieferten moraltheologischen Schemata hin auslegen leinn. In
der Beschreibung der Basileia wirkt bei Stelzenberger offenkundig
die geheime Vorstellung von einer kirchlichen (jedenfalls sakramentalen
) Begrenzung derselben (§ 10), und die Reflexion auf die
„vielen Millionen Menschen, die außerhalb der Königsherrschaft
Gottes und ihrer Sittlichkeitslehre stehen" (22), macht es zweifelhaft
, ob hier der Grundbegriff neutestamentlicher Eschatologie
ohne weiteres vom Exegeten wiedererkannt wird. Es ist auch interessant
, daß z. B. der Tugendbegriff in die biblische Grundlegung
gerechnet wird. Bei der Darlegung über die sittliche Anlage des
Menschen werden neben moralpsychologischen Problemkreisen die
Grundbegriffe Zurechnung, Gewissen und Sünde abgehandelt,
letztere in sechs §§ einschließlich einer Beichtlehre.

Die spezielle Moraltheologie teilt sich in drei große Abschnitte
. Der I. Hauptteil behandelt die agape zu Gott, der II. die
Auswirkungen der agape auf die Haltung zu sich selbst, der III.
Hauptteil die agape zum Bruder. Diese drei Teile sind uns aus der
moraltheologischen Tradition wohlbekannt. Dort war freilich immer
die Schwierigkeif zu beobachten, daß man zwar von „Pflichten
" hinsichtlich der eigenen Person, des religiösen und schließlich
des sozialen Lebens gesprochen hat, daß aber tatsächlich nicht nur
die Pflichten-, sondern auch die Güter- und Tugendlehre zur Darstellung
kamen. Nun, St. hat sich an das Doppelgebot der Liebe
gehalten, nur, daß man nicht gut von einer agape zu sich selber
sprechen kann, was St. ja auch vermeidet. Im übrigen ist der spezielle
Teil der Form nach denkbar traditionell, dem Inhalt nach
den modernen Fragen aufgeschlossen. Der I. Hauptteil verhandelt
nach grundlegenden Fragen der Religion erst die drei göttlichen
Tugenden, sodann die Themen der Gottesverehrung: Gebet, Gelübde
und Eid, den gemeinschaftlichen Kultus und die Gegensätze
zur Gottesverehrung. Im II. Hauptteil werden die berechtigte und
pflichtgemäße Sorge für die individuelle Existenz, die „Sorge für
das Geistige", eine Lehre vom Beruf und die Sexualethik abgehandelt
. Der III. Hauptteil enthält, wie gesagt, die Sozialethik;
zunächst die allgemeine soziale Grundhaltung, dann die Pflichten
gegen die geistigen und schließlich gegen die Leibesgüter des Nächsten
. Erst in einem zweiten Teil kommt die konkrete Soziallehre
zur Darstellung. Daß die Fragen der Wirtschaft, also Eigentum,
Wirtschaftsformen, Gerechtigkeit in Einkommen und Verkehr und

eine Restitutionslehre den anderen bekannten Themen, also Familie
, Staat und Kirche, an Umfang und Gewicht gleichkommen,
das ist ein Symptom der Modernität des sich so konventionell gebenden
Lehrbuches.

Es ist im extremen Sinne des Begriffes ein Lehrbuch. Übertriebene
Rhetorik kann man dem Buch wirklich nicht vorwerfen;
denn es gibt sich in einer Kargheit der Aussage, die mitunter ans
Groteske streift. Ich möchte keine Beispiele aus dem Zusammenhang
reißen, was mißverständlich und illoyal wäre. Jedenfalls liest
sich der Text stellenweise wie ein hartes Gesetzbuch, oder doch
wie eine Anweisung, sich durch wörtliches Einprägen der Sätze
fürs Examen vorzubereiten. Daß dabei natürlich für Problemerörterungen
oder gar für ausgreifende Begründungen und Ableitungen
kein Raum mehr bleibt, leuchtet ein. Jedenfalls ist es ein ganz und
gar „thetisches" Buch. Die evangelische Literatur erscheint in einer
gewissen Zufälligkeit, die Abgrenzung zur evangelischen Ethik
wird klar, kompromißlos und nobel vollzogen. Mir ist aufgefallen,
daß einige heiße Punkte nach Möglichkeit vermieden sind: In der
Ehelehre werden die Probleme der Mischehe ans Kirchenrecht abgegeben
. Die Kasuistik wird im Zuge der Methodenlehre sehr
kritisch gewürdigt, A. v. Liquori nur beiläufig erwähnt. — Ich bin
damit schon zu Einzelheiten übergegangen. In der Regel befragt
man eine heutige Ethik bei der ersten Begegnung nach der Stellung
zu bestimmten Testfragen. So lesen wir, daß es „keine katholische
Wirtschaftsform" gibt (317). Die Frage des Eides wird nüchtern
und in Aufgeschlossenheit gegen die neutestamentliche Problematik
abgehandelt (174 f.). „Radikaler Pazifismus mit Verweigerung
jedes Kriegsdienstes widerspricht klar der Offenbarung
und kirchlichen Überlieferung" (363). „Die Anwendung von
Atomwaffen im Angriffskrieg ist wegen ihrer verheerenden Folgen
unsittlich" (360 u. 363). Im übrigen findet sich natürlich auch
hier die Lehre vom gerechten Krieg und von der sittlichen Erlaubtheit
des Krieges (§ 145). Die Todesstrafe wird bejaht, aber
sie darf nur als letztes Mittel angewendet werden. „Der Staat
wird der beste sein, der ohne ihren Vollzug das Gemeinwohl zu
wahren weiß" (356). Das Recht des Widerstandes gegen die Staatsgewalt
kommt in extremer Zurückhaltung zur Sprache (3 57). Das
heute so viel verhandelte Subsidiaritätsprinzip begegnet, soweit
ich sehe, nur einmal in Form von Literaturangaben.

Das Gesamturteil wird nicht ganz eindeutig sein. Das Werk
wird wohl auch für manchen Katholiken die erwartete und
wünschbare Modernität schuldig bleiben. An manchen Stellen ist
mir auch die Systematik nicht ganz klar geworden. Wieso die
aequitas im Zusammenhang mit der biblischen Freiheitslehre
(§ 20) abgehandelt werden muß, und wie das Thema der Sterilisation
(§ 144) in die Staatslehre hineingeraten ist, ist mir ein
Rätsel. Ebenso pauschal wie der Schriftbeweis vollziehen sich bei
St. auch die geistesgeschichtlichen Urteile. Kant, im ganzen viermal
erwähnt, verfällt dreimal pauschaler Ablehnung. Schleiermacher
kann nicht undifferenzierter beurteilt werden, und bei Erwähnung
der reformatorischen Rechtfertigungslehre sollten doch
der Gedanke der renovatio und der „fruetus fidei" (C. A. VI)
nicht so wie hier übersehen und verschwiegen werden (27). —
Andererseits ist diese Moraltheologie gerade in ihrer festen Verwurzelung
in der katholischen Tradition belehrend und wertvoll.
Der evangelische Theologe sucht in solchen Büchern, wenn schon
keine Zwiesprache beabsichtigt ist, nicht so sehr die Neutöner (sie
sind im eigenen Hause zahlreich genug), man sucht nicht die Akkomodation
, mit der sich heute so viele um den Ernst der konfessionellen
Differenzen betrügen. Hier verdient das vorliegende
Werk hohes Lob. Es ist thetisch. Es dient der Belehrung der katholischen
(und hoffentlich auch der evangelischen) Theologiestudenten
, es dient der Information, aber nicht der Diskussion der
Grundsätze und der Sachen; es ist keine Einführung in das wissenschaftliche
Fragen, in die Problematik, es vermittelt kein Gefühl
für die Geschichtlichkeit der Begriffe und Problemstellungen. Hier
ist alles schon entschieden, und die Sicherheit der Entscheidung ist
fast furchterregend. In allem liegt die Stärke des Buches und seine
Grenze. Oder sagen wir es freundlicher: zwar seine Grenze, aber
auch seine Stärke.

Göttingen Wolfgang T r i 11 h aas