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Ausgabe:

1966

Spalte:

64-65

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Arsenʹev, Nikolaj S.

Titel/Untertitel:

Die russische Frömmigkeit 1966

Rezensent:

Müller, Ludolf

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 1

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darzustellen, üer Protopope Avvakum, der leider in der RGG 3 I
nicht erwähnt wurde, löste durch seinen Widerstand gegen die
Bücher- und Kultusreform des Patriarchen Nikon das inner-
russische Schisma, den Raskol, aus. In einer Einleitung umreißt
Verf. die theologische und persönliche Problematik der Erscheinung
Avvakums, wie er sie im Einzelnen zu analysieren vorhat,
und gibt eine dankenswerte Übersicht über die Schriften des
großen Eiferers, sowie über die bisherige Avvakum-Forschung. In
Kap. I: „Avvakums Werdegang und Eintritt in den ,Kreis der
Eiferer' um Stefan Vonifat'ev" wird nicht nur kurz das Leben
Avvakums geschildert bis zu seinem Eintritt in den Vonifat'ev-
Kreis, sondern die Persönlichkeit des letzteren ausführlich gewürdigt
. Ich teile nicht die Meinung des Verf.s, daß das Verhältnis
Vonifat'evs zum Zaren Aleksej der byzantinischen
..Symphonia" zu vergleichen sei. Ebenso halte ich die Beurteilung
der Patriarchen Iosif und Ioasaf für einseitig (S. 32 f.). Wenn
ich richtig sehe, geht aus der vom Verf. herangezogenen Arbeit
Kapterevs (l. Bd., Moskau 1913) hervor, daß Iosif ein Verfechter
des Vorbildes der griechischen Kirche auch für Rußland gewesen
ist. Er hat sehr wahrscheinlich im Vonifat'ev-Kreis nicht nur eine
gegen sich gerichtete Fronde gesehen, sondern auch die russischkonservative
Gefährlichkeit desselben erkannt, wie sie später bei
Neronov und Avvakum zutage trat. Erst von hier aus läßt sich
eine Kritik an Iosif anschließen, die nicht am Persönlichen haften
bleiben sollte (S. 9. 11.). Kap. II gibt eine Charakteristik Ivan
Neronovs, den Verf. mit gutem Recht als das eigentliche Vorbild
für Avvakum hinstellt. Das III. Kap. beschreibt „Avvakums
Kampf für die Ziele des .Kreises der Eiferer'", während in Kap.
IV geschildert wird, wie der vom „Kreis der Eiferer" dem Zaren
vorgeschlagene Patriarch Nikon jenen Schritt für Schritt vom
Zaren trennte und schließlich gänzlich ausschaltete. M. E. verfolgte
Nikon damit dieselben Ziele, wie Iosif. Verf. zeigt in Kap. V
weiter, wie aus dem Kampf Avvakums für Neronov, der sich bald
Nikon, d. h. in diesem der griechischen Mutterkirche unterwarf,
aber die alten Riten beibehalten konnte, der unerbittliche Kampf
gegen den Patriarchen erwuchs. Dieser Kampf führte Avvakum
schließlich auf den Scheiterhaufen. Verf. macht deutlich, wie ein
Stück der Tragik dieses Mannes in der Fehleinschätzung des Zarenamtes
und der Persönlichkeit des Zaren Aleksej bestand. Avvakum
erkannte nicht, wie sehr sich das Verhältnis zwischen Zar und
Patriarch seit den Zeiten des Stoglav, oder gar Iosifs von Volo-
kolamsk geändert hatte, Zeiten, als es noch keinen Patriarchen
gab. Er erkannte auch nicht die letzten kirchenpolitischen Absichten
Nikons hinsichtlich der Herrschaft der Kirche über den
Zaren. Das VI. Kap. erläutert die eigentlich theologischen und
christologischen Grundgedanken Avvakums zum „Fünffingerkreuz
". (Die Auslegung zu Luk. 1,3 5, die Verf. S. 94 Avvakum
zuschreibt, stammt aus dem Synaxarion zum 25. III.). Kap. VII
behandelt „Avvakums Stellung innerhalb des Altgläubigentums"
und betont S. 115: „Zentrale Führergestalt für das gesamte Alt-
gläubigtum oder zumindest beträchtliche Teile desselben konnte
nach Lage der Dinge letztlich nur werden, wer entweder als
Bischof die Weitergabe priesterlicher Amtsgewalt zu leisten vermochte
oder aber als Lehrer imstande war, dem Altgläubigentum
einen Weg in die Zukunft zu weisen". Verf. sieht in der schon
1654 erfolgten Gefangennahme des Bischofs von Kolomna, Pavel,
die entschiedenste Maßnahme gegen die Raskolniki, weil diese
dadurch von der Hierarchie der Gesamt-Orthodoxie losgetrennt
wurden. Da die Kirche der Altgläubigen, die H. sehr richtig als
eine „Konfessionsgruppe" bezeichnet, sich genau wie die russische
Großkirche auf dem Kirchenrecht und der Liturgie gründete, kann
sie auch nicht mit der Reformation verglichen werden. Avvakum
selbst war nur einer unter sehr vielen anderen Märtyrern für
den alten Glauben; ja, lange bevor er am 14. April 1682 den
Feuertod erlitt, sind ihm bereits zahlreiche Zeugen dieses Glaubens
in den Tod vorangegangen. — In einem Anhang erhalten wir
einen Einblick in das Leben der Altgläubigen heute innerhalb
der UdSSR und im Auslande. Ein Literaturnachweis und ein Register
beschließen die wissenschaftlich gediegene Arbeit, der man
weite Verbreitung unter Lehrenden und Studierenden wünschen
möchte.

Dem in vielem sehr wichtigen Problem der mit Avvakum verbundenen
Entstehung des Raskol (diese Bezeichnung der Altgläubigen

vermeidet Verf. tunlichst) widmet H. vor allem das V. Kap. Hier, wie
auch in Kap. VII zeigt Verf. die Schwierigkeiten auf, denen sich Avvakum
in seiner Gefangenschaft und Verschleppung nach Sibirien hinsichtlich
obektiver Nachriditen gegenüber sah. Er gibt uns Einblicke in den
Charakter dieses Mannes und verweist darauf, daß der Protopope
keineswegs von vornherein das Schisma (Raskol) in der russischen
Kirche wollte. Besonders in Kap. VI werden ausführlich die theologisch-
christologischen Gedankengänge Avvakums analysiert, so daß die
übliche Meinung, der Protest Avvakums sei eher emotional als rational
zu erklären, zumindest stark eingeschränkt werden muß. Wir dürfen
dem Verf. für dieses Kap. deshalb besonders dankbar sein, wenngleich
ich gelegentliche Kurzausflüge zu Melanchthon, Luther und Dosto-
jevskij nicht immer überzeugend finde. Verf. hat sehr richtig als die
eigentliche Wurzel des Altgläubigentums den „Kreis der Eiferer" um
Vonifat'ev bezeichnet (III. Kap.). Außer in Predigt und Seelsorge
(S. 53 f.) war Avvakum vor allem als Beichtvater tätig. Mir scheint,
daß an diesem Punkt weitere Forschungsarbeiten einsetzen sollten.
Schon S. Smirnov hat s. Z. in seinem großen und materialreichen Werk
„Drevne-russkij duchovnik. Izsledovanie po istorii cerkovnago byta",
2. Aufl. Sergiev Posad 1899 Avvakum für den Originaltyp eines altrussischen
„Duchovnik" angesehen, der um sich seine „pokajal'naja
sem'ja" sammelte. In dieser Hinsicht sind die Avraamij von Smolensk
im 12. und Avvakum im 17. Jahrhundert in vielen Zügen ähnlich. Eine
detaillierte Untersuchung der Vita Avvakums und der Epifanijs (s. jetzt
A. N. Robinson, 2izneopisanija Avvakuma i Epifanija. Issledovanie i
teksty, Moskau 1963) sowie der anderen vom Verf. S. 16—22 angeführten
Schriften Avvakums (die Angabe der russischen Titel wäre
wünschenswert gewesen) nicht zuletzt auch hinsichtlich des Verständnisses
patristischer und asketischer Quellen bei den altrussischen mona-
stischen Reformern (Nil Sorskij, Iosif Volokolamskij, Kirill Beloozers-
kij u. a.) auf der einen und bei Avvakum und Epifanij auf der anderen
Seite könnte die Forschung im Anschluß an die Hinweise S. Smirnovs
weiterführen. Mir persönlich will es scheinen, daß der altrussische
asketische Rigorismus auf einer anderen Ebene von Avvakum und
seinen Anhängern weiterentwickelt wurde. War schon die Hierarchie
den Reformwünschen und dem asketischen Idealleben eines Nil Sorskij
oder Pavel Obnorskij nur mit großem Mißtrauen begegnet, so mußte
dieses bei den Pariarchen Ioasaf, Iosif und Nikon noch dadurch gesteigert
werden, daß sich diese alten Ideale bei Avvakum mit dem
starken Selbstbewußtsein seines Protopopenamtes verband (s. a. Verf.,
112f.).Wie bei den Transvolga-Starzen die Metropoliten, so mußten
jetzt angesichts der „pokal'naja sem'ja" Avvakums die Patriarchen
noch mißtrauischer werden, als sich dieser neue Reformismus nicht nur
innerhalb des Mönchtums auszubreiten drohte, sondern auch die Gemeinden
erfaßte, und dieses schon längere Zeit vor dem eigentlichen
Schisma. Der Kampf Iosifs und Nikons gegen den Vonifat'ev-Kreis
hatte also nicht nur sehr unmittelbare Gründe, sondern auch eine weit
in die Vergangenheit reichende Vorgeschichte. Das Altgläubigentum ist
dann tatsächlich eine „Kirche in der Kirche geworden". Parallelen im
Westen zu finden, ist schwierig. Den Altgläubigen entspricht in manchen
Zügen die „ecclesiola" des deutschen Pietismus, in anderen, vor allem
kanonistisch bestimmten Charakteristika das Altluthertum und der
Altkatholizismus. Verf. hat S. 101—103 die Möglichkeiten einer engen
Verbindung zwischen Avvakum und einer Persönlichkeit, wie Nil
Sorskij, angedeutet. Allerdings halte ich Ausgangspunkt und Perspektive
der Problemstellung für anfechtbar. Leider unterließ er es, diesen
Fragen noch mehr nachzugehen. Als einem der besten Kenner des
russischen Raskol im deutschen Sprachgebiet dürfen wir von ihm noch
einige Untersuchungen erwarten, die weiteres Licht in diese wichtige
Epoche der russischen Kirchengeschichte bringen möchten.

Halle/Saale Konrad Onasch

Arseniew, Nikolaus von: Die russische Frömmigkeit. Zürich: EVZ-
Vcrlag [1964]. 124 S. gr. 8° = Bibliothek für orthodoxe Theologie
und Kirche, hrsg. v. B. Bobrinskoy, O. Clement, B. Fize u. J. Meyen-
dorff, 3. Lw. DM 18.80.

Der Vf. schildert zuerst die beiden Faktoren, aus denen die
russische Frömmigkeit erwachsen ist: die sogenannte „russische
Seele" und den orthodoxen Glauben; dann (in den Kapiteln 3
bis 7) diese Frömmigkeit selbst — ihre charakteristischen Züge:
Rührung, Bereitschaft zu öffentlicher Beichte, Barmherzigkeit auch
gegen Feinde, Einfalt, Verlangen nach Schönheit des Kultus; dann
ihre charakteristischen Gestalten: die Mutter, den Pilger, den
heiligen Narren, den sozial Tätigen, den Märtyrer, den Starzen,
aber auch den Sektierer und den Altgläubigen.

Quellen und Zeugnisse des Vf. sind vor allem die bekannten
Werke der russischen Belletristik, dann aber auch kirchlich-hagio-
graphische Erzählungen, einige altrussische Texte, zum Teil auch
mündliche Berichte von Zeitgenossen. Im ganzen sind es (entgegen