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1966

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Kirchengeschichte: Neuzeit

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 11

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im „Reformieren" ihr Ziel sehen, d. h. in Opposition gegen die lutherische
Lehre den spiritualen und spiritualisierten GD als das eigentliche
gd. Ideal anstreben (so die vor-pietistischen Unterströmungen seit Johann
Arndt). Diese auseinanderlaufenden Tendenzen zeigen sich etwa hinsichtlich
des „GD des einzelnen" (127—133), wo die Schlüsselstelle
Joh. 4, 24 einerseits als die Übereinstimmung von Herz und Tat fordernd
, andererseits als einen cultus externus überflüssig machend oder
gar ausschließend verstanden wird. Ähnliches gilt für den „GD der
Gemeinschaft" (133—137), hinsichtlich dessen die Stellung zum kirchlichen
Amt zum Schibboleth zwischen orthodox-lutherischem GD- und
„pietistischem" Konventikel-Denken wird. Wird hier bei aller Differenz
im Kirchenbegriff doch am Gemeinschaftscharakter der Kirche festgehalten
, so gilt das nicht für jene „mystische" Frömmigkeit, die „bewußt
jeden Gemeinschaftsgedanken ablehnt, die sich nur dafür interessiert
, was sich zwischen Gott und der Seele abspielt" (138), durch die
sich also das grundsätzliche Problem „Kultus und Mystik" (138—148)
stellt. Diese „Mystik" kommt zwar nicht vom reformatorisch-lutherischen
„unio mystica"-Denken her (138—144), das selbst un-,.mystisch"
ist und eine gemeinschafts- und damit kultzersetzende Individualisierung
des Glaubens nicht nur nicht fordert, sondern im Ansatz ausschließt
. Sie hängt sich aber z. T daran an und bedient sich seiner, ohne
daß diese „Unterwanderung" von der lutherischen Theologie bemerkt
wird. Es erweist sich aber gleichwohl, daß die ursprüngliche, unverdorbene
„unio mystica"-Lehre, der es um die praesentia cohabitationis wie
inhabitationis des deus trinus geht, dem orthodox-lutherischen GD-
Verständnis nicht im Weg steht, es vielmehr stützt (144—148).

Mit dem allen erweist sich die GD-Lehre der lutherischen Orthodoxie
trotz aller Verkürzungen der Lehre Luthers als im ganzen gut-lutherisch,
was zugleich bedeutet, daß der schon im 17. Jahrhundert einsetzende
Verfall des GD nicht Folge der lutherischen Theologie und ihrer „Erweichung
", sondern Folge spiritualistisch-individualisierender Strömungen
außer- und nicht-lutherischer Provenienz ist. Allerdings kann die
Orthodoxie nicht vom Vorwurf einer gewissen Verhärtung und Stagnation
freigesprochen werden (148 f.).

Diese Inhaltsübersicht der K.sehen Untersuchung mag zeigen,
in welchem ausführlichen Maß die orthodox-lutherische Lehre
vom GD hinsichtlich ihrer Grundaussagen wie ihrer Konsequenzen
bis ins „Praktische" hinein zur Sprache kommt. Damit wird ein
umfassendes und zugleich ins einzelne gehendes Bild geboten, für
das man dankbar sein kann und muß.

Dennoch bleiben einige Fragen. Sie betreffen zum ersten
spezielle Probleme: So vermißt man etwa eine ausführliche Darstellung
und Abwägung der theologisch-dogmatischen und praktischen
gd. Reformbestrebungen, über die die knappen Bemerkungen
K.s (126 ff.) nur unzureichend Auskunft geben. Ebenso ist das
Problem der „Mystisierung" des GD zu kurz und zu kurzschlüssig
behandelt (138 ff.). Hier ist vor allem das Phänomen der barocken
Mystik zu blaß und zu schematisch gesehen und dargestellt — sowohl
hinsichtlich ihrer Herkunft (das Reden von „augustinisch-
bernhardinischer Mystik" und „jesuitischen Quellen" [140 f.] ist
nichtssagend) wie hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes —, als daß
eine überzeugende Konfrontation mit der genuin-lutherischen
„unio mystica"-Vorstellung gelänge (deren — trotz allem — bedenklicher
Charakter zu schnell übergangen wird). Schließlich
dürften auch etwa gegen die Darstellung des „Stile nuovo" wie
überhaupt gegen die Zeichnung der sowohl Schütz wie Bach einschließenden
„orthodoxen Kirchenmusik" (was ist das?) erhebliche
musikgeschichtliche Bedenken geäußert werden.

Die anderen kritischen Fragen betreffen grundsätzliche Probleme
: Hier ist an erster Stelle die von K. vorausgesetzte Einheit
der Orthodoxie in Frage zu stellen. Zwar konstatiert er eine
„innere Weiterentwicklung", die sie durchgemacht habe, doch hebe
diese nicht ihre grundsätzliche Einheit auf, wie auch — man muß
schon sagen: merkwürdigerweise! — die „theologische Begründung
vom cultus Dei" von ihr unberührt bleibe (9). Mit dieser
lediglich postulierten und in Wahrheit unbewiesenen Voraussetzung
erweist sich K. einem Bild der Orthodoxie verhaftet, das
neuerdings überaus zweifelhaft geworden ist und erhebliche Korrekturen
erfahren hat. Kann also von einer Einheit der Orthodoxie
nicht die Rede sein, so trifft das auch nicht für K.s spezielle
Thematik zu, wie seine Arbeit selbst auf Schritt und Tritt deutlich
macht: Mag sich auch die Begründung des GD ziemlich konstant
durchhalten, so besteht doch keine uneingeschränkte Konstanz
hinsichtlich der Einzelmomente der GD-Lehre wie hinsichtlich der
Funktion des „cultus dei "-Motivs innerhalb des theologischen

Systems. Der Eindruck einer solchen Konstanz kommt — damit
wird der zweite Einwand genannt — in der K.sehen Untersuchung
nicht zuletzt dadurch zustande, daß die vor-pietistischen Unterströmungen
offenbar zu gering veranschlagt und in ihrer aufweichenden
und aufsprengenden Tendenz unterschätzt werden. Darum
wird auch das Problem des genetischen Zusammenhanges von dogmatischer
Erweichung und faktischem Zerfall der gd. Formen nicht
in seiner ganzen Dringlichkeit gesichtet. Ein dritter Einwand
schließlich betrifft die behauptete Übereinstimmung der orthodoxen
GD-Anschauung mit der Luthers trotz aller Abweichungen im
einzelnen (bes. 149, auch 137 u. ö.). Hier ist K. mit aller Entschiedenheit
zu widersprechen: Indem die Orthodoxie — wie K. selbst
zeigt — den GD (cultus internus wie cultus externus) ausschließlich
auf das göttliche Gesetz gründet und ihn damit als Ausdruck
menschlichen Gehorsams versteht, entfernt sie sich im Ansatz
und prinzipiell von Luther, für den der GD nicht im Horizont von
mandatum und oboedientia, sondern von promissio (evangclimn)
und fides (fiducia) steht und geschieht. Zwar gibt K. zu, daß sich
die Orthodoxie damit nicht mehr bei Luther befindet (z. B. 3 3.
56. 149), erkennt aber offensichtlich nicht, daß dieser Unterschied
nicht eine letztlich unerhebliche Einzelheit der GD-Lehre
betrifft, sondern den begründenden Ansatz dieser Lehre und
damit den GD selbst. Darum darf der Sachverhalt, daß das orthodoxe
GD-Verständnis materialiter weitgehend mit dem genuinlutherischen
Verständnis übereinstimmt, nicht darüber hinweg
täuschen, daß es formaliter, nämlich intcntional und strukturell,
von ihm geschieden ist.

Auf Grund des Gesagten bleibt auch weiterhin das Desiderat
einer die theologicgeschichtlichen Zusammenhänge sorgfältig einbeziehenden
genauen systematischen Strukturanalyse der altlutherischen
Lehre vom GD bestehen, so sehr auch die K.sche Arbeit
(nicht zuletzt wegen ihrer umfassenden Materialfülle) zu begrüßen
ist.

Münster/Westfalen Klaus Haendlcr

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