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Ausgabe:

1966

Spalte:

754-755

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wrede, William

Titel/Untertitel:

Das Messiasgeheimnis in den Evangelien 1966

Rezensent:

Conzelmann, Hans

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 10

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und wichtige Abschnitte, welche Joh. Weiss aus der 1. Auflage
nicht übernahm (vor allem die Einführung von S. 5—7 und die
Zusammenfassung von S. 62 — 67) in einem Anhang (S. 217 —
S. 247 mitzuteilen. So kann der heutige Benutzer alle Veränderungen
verfolgen, auf welche Hahn in seinem Vorwort hingewiesen
hat. Die Einfachheit und damit der Schwung der 1. Auflage haben
•n der 2., durch subtile Einzeluntersuchungcn abgeschwächt, gelitten
, gewisse radikale Durchblicke wurden modifiziert, obwohl die
Grundstruktur einer eschatologischen Betrachtung beibehalten
wurde. Schon in seiner Besprechung der 2. Auflage hat Wilhelm
Bousset (Theologische Literaturzeitung 1901, 26) bemerkt, daß
diese ermäßigte Deutung dem Autor weitere Zustimmung bringen
werde. Ferdinand Hahn hat m. E. mit Recht betont, daß Albert
Schweitzers Urteil über dieses Buch (vgl. Geschichte der Leben-
Jesu-Forschung 6. Aufl. 1951, 232 f) heute noch uneingeschränkte
Gültigkeit besitze. Schweitzer sieht dabei die Entwicklung der
neutestamentlichen Forschung in folgenden drei Etappen: 1. die
durch David Friedr. Strauß eingeleitete erregende Debatte unter
der Alternative: geschichtlich oder übernatürlich. 2. Die Auffassung
der Tübinger Schule und H. J. Holtzmanns mit der zweiten
Alternative: synoptisch oder johanneisch (auf dieser Linie steht
Adolf Jülichers Einleitung) und 3.: Joh. Weiss mit der Alternative:
eschatologisch oder uneschatologisch. Wie wenig diese 3. Etappe
wissenschaftlich bewältigt ist, lehrt ja die neuere Diskussion über
Jesu Naherwartung.

Die Johannes Weiss schon früh beunruhigende, aber deutliche
Empfindung, daß Albrechts Ritschis Gedanke vom Reiche Gottes
Und die gleichnamige Idee in der Verkündigung Jesu zwei sehr
verschiedene Dinge seien, hat sich im Verlauf seiner wissenchaft-
lichen Arbeit zu einer für ihn gültigen Erkenntnis verdichtet. Es
ist nicht ohne Reiz, einen kurzen Vergleich mit Alb. Schweitzer
anzustellen. Dieser hat in einem Vorwort zur 6. Auflage der Geschichte
der Leben-Jesu-Forschung abschließend noch einmal festgestellt
, daß er an seiner Deutung von Mt. 10 und 11 festhalte.
Die konsequent cschatologische Entscheidung sieht er nicht mehr
infrage gestellt, wenn er auch die Schwierigkeit nicht verkennt, daß
Jesus als Künder überzeitlicher Wahrheit in zeitgeschichtlich bedingten
Vorstellungen befangen gewesen sein soll. Für ihn liegt die
Lösung dieser Frage in der Linterscheidung zwischen Wesen und
Gestalt religiöser Wahrheit, wenn er z. B. sagt: „daß die mit Jesus
in die Welt gekommene Wahrheit bei ihm nicht schon gleich ihre
völlige geistige Gestalt besitzt, sondern diese erst im Laufe der
Zeit durch das Wirken des Geistes Jesu empfängt, bereitet unserm
Glauben einen Anstoß, über den wir hinweg kommen müssen",
(vgl. Jes. 5 5, 8—9), „Es gibt kein einfaches Übernehmen des Evangeliums
Jesu, sondern nur ein sich Aneignen desselben in seinem
Geist. Das eigentliche, was die Schrift uns zu bieten hat, ist sein
Geist, wie er sich in ihm und in denen, die unter den ersten von
ihm ergriffen waren, kund tut. Alle Glaubensüberzeugung ist nach
ihm zu bewerten. Wahrheit im höchsten Sinne ist, was im Geiste
Jesu ist." Weil Albert Schweitzer es sich versagte, auf die seit
1913 erschienene Leben-Jcsu-Literatur einzugehen und es einem
anderen überlassen wollte, in das Chaos der neusten Forschung Ordnung
zu bringen, brauchen wir uns im einzelnen nicht mehr mit
seiner Auffassung zu beschäftigen, die einer ausführlichen kritischen
Untersuchung bedürfte. Aber es mag nicht ohne Reiz für den
nachdenklichen Leser sein, auf die Ausführungen von Joh. Weiss
hinzuweisen, welche er auf S. 176 macht. „Wie für den Naturforscher
die Tatsache des Lebens, für den Kunstkenner die künstlerische
Inspiration, für den politischen Historiker die unbezwingliche
Energie großer Staatsmänner und Völker letzte Daten bilden, die
man nicht weiter erklären kann, sondern einfach hinnehmen muß
— so steht der Religionforscher vor diesem eigenartigen religiösen
Bewußtsein Jesu als vor etwas schlechthin Gegebenem, das er
anzuerkennen hat." Man kann es nach Weiss nicht weiter analysieren
oder verstehen, man kann es höchtens in unzureichender
Weise nachempfinden, man dürfe es aber „nicht meistern oder weginterpretieren
wollen. Hier muß sich zeigen, ob der Theologe den
geschichtlichen Sinn hat, der unter Aufopferung von modernen
Stimmungen und Vorurteilen sich dem Wirklichen in seiner besonderen
Gestalt beugt".

Berlin Erich Fascher

Wrede, William: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich
ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums. 3., unveränd.
Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963. XIII, 291 S. 8°.
Kart. DM 12.80; Lw. DM 16.80.

Diesem Buch hat der methodische Umbruch, den die Formgeschichte
in der Synoptikerforschung brachte, wenig anhaben
können. Es hat ihn mit vorbereitet. Seit Wrede bestimmt das
Problem des „Messiasgeheimnisses" die gesamte Auslegung der
Evangelien, vor allem natürlich des Mk-Ev (s. etwa den Forschungsbericht
von H. J. Ebeling, Das Messiasgeheimnis und die
Botschaft des Markusevangelisten, 1939; seither: Marxseil, Burkiii
u. a.). Insofern hatte das Buch eine schwer abzuschätzende
Wirkung als Bahnbrecher. Dagegen ist Wredes Lösung nur
von wenigen angenommen worden, vor allem seine radikale
Bestreitung eines Messiasbewußtseins Jesu. Aber Bultmann folgte
ihm. Durch seine Vermittlung ist Wredes Einfluß in der heutigen
Diskussion über den „historischen Jesus" vielleicht stärker
als je (in Zustimmung und Kritik).

Vorbildlich war und blieb die Methode : Das Buch ist
eines der klassischen Dokumente reiner, literarischer Kritik.
Durch sein methodisches Bewußtsein nimmt es teilweise die heutigen
Fragestellungen und Einsichten der „Redaktionsgeschichte"
vorweg. Auch in der Evangelienforschung ist nicht alles neu,
was glänzt. Konsequent werden die beiden Fragen unterschieden
: nach dem literarischen Charakter des Berichts und nach
seinem Quellenwert für die historische Rekonstruktion, also
nach dem Berichteten. Damit ergeben sich die beiden bis heute
fundamentalen Unterscheidungen: a) literarisch: zwischen den
Schichten der Überlieferung, b) historisch: zwischen Lehre Jesu
und Gemeindedogmatik.

Wredes Erklärung des „Messiasgeheimnisses" kann als bekannt
vorausgesetzt werden. Seine unerbittliche Analyse des
Rahmens der Geschichte Jesu, seine Destruktion des Berichtes
des Markus als eines geschichtsgetreuen Referates führt zum
Fazit: „Als Gesamtdarstellung bietet das Evangelium (sc. Mk)
keine historische Anschauung mehr vom wirklichen Leben
Jesu. Nur blasse Reste einer solchen sind in eine übergeschicht-
liche Glaubensauffassung übergegangen. Das Markusevangelium
gehört in diesem Sinn in die Dogmengeschichte" (131).

Unverändert aktuell bleibt auch die Ausscheidung der damals
herrschenden psychologistischen „Methode": „Die
Wissenschaft vom Leben Jesu krankt an der
psychologischen Vermutung, und diese ist eine
Art des historischen Ratens" (3). Mit faszinierender Konsequenz
wird der Psychologismus in den einzelnen Analysen ausgeschieden
, bis unter der Verschüttung wieder der Bericht erscheint
. Nebenbei: Es wäre hochinteressant, der Rolle der
„Psychologie" in der damaligen Exegese thematisch nachzugehen
. Man vergleiche z. B. das hemmungslose Psychologisieren
des „positiven" Theodor Zahn mit der unerbittlichen Frage der
„radikalen Kritik" nach dem, was dasteht! Weiter wäre nach
der Verflechtung mit den anderen Disziplinen der Theologie zu
fragen, vor allem aber auch nach dem (bewußten oder unbewußten
?) Zusammenhang mit der damaligen antipsychologistischen
Wendung in der Philosophie (Neukantianismus und Phänomenologie
), die der Wendung zur Formen- und Gattungsgeschichte
in der Philologie, Kunstgeschichte (F. Burger, H. Wölfflin) entspricht.

Die Auseinandersetzung mit Wrede bildet den Höhepunkt
in Albert Schweitzers, des unmittelbaren Konkurrenten, („Das
Messianitäts- und Leidensgeheimnis", 1901 ) „Geschichte der
Leben - Jesu - Forschung". Wenn er die Alternative formuliert,
das eine Buch sei „vom literarisch-kritischen, das andere vom
eschatologisch-historischen" Standpunkt geschrieben, so erkennt
man im Rückblick die Abwegigkeit dieser Alternative und die
Zukunftsträchtigkeit von Wredes Leistung.

Aber: Warum erscheint das Buch ohne eine Einführung,
die — vor allem dem Studenten — seine Stellung in der Geschichte
der Forschung (aus der Perspektive der heutigen Forschung
) zeigt? Eine Lektüre der betreffenden Abschnitte in