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Ausgabe:

1966

Spalte:

51-53

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Bultot, Robert

Titel/Untertitel:

Christianisme et valeurs humaines. A: La doctrine du mépris du monde en Occident, de saint Ambroise à Innocent III. T. 4: Le XIe siècle. Vol 2: Jean de Fécamp, Hermann Contract, Roger de Caen,

Rezensent:

Zimmermann, Harald

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 1

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ein neuer Gedanke — die Theologie des Seienden zu verstehen,
seine Hinordnung auf die Rückkehr zum subsistierenden Sein,
zu Gott. In diesem Rahmen wird es möglich, auch die Hinfälligkeit
des Seienden, bis hin zum Abfall ins Nichtige, ins Übel und
ins Böse, einzuordnen.

Der Durchblick durch die Metaphysik ist damit beendet: er
führt konsequent eine bestimmte Linie durch, die von gewichtigen
Interpreten als die maßgebliche hervorgehoben, jedoch kaum so
einprägsam-vereinfacht ausgezeichnet wurde.

Einige kritische Bemerkungen sind jedoch unerläßlich:

1. Nie nennt Thomas das „Sein" als Gegenstand der Metaphysik,
sondern stets das „Seiende"; das „ipsum esse" ist als „principium quo"
des „ens" wesentlich nicht das, was erkannt, sondern nur das, woraufhin
gedacht wird (so S. 151 richtig gesagt, im Gegensatz zu S. 137).

2. Es kann somit das „Sein" nicht ohne das Seiende, nicht ohne
Bezug auf sein Koprinzip. die „essentia", erfaßt werden. Dementsprechend
ist Gott — wiewohl als „ipsum esse subsistens" zu denken —
nicht allein vom „Sein" her zu bestimmen, sondern als Einheit von
Sein und Wesen oder als Aufhebung ihrer Unterscheidung.

3. Entsprechend stützt sich der Gottesbeweis auf das „ens", ja
sogar auf das welthaft-erfahrbare, so daß er eine „physikalische" Dimension
hat (bei den „quinque viae" ist das evident); sie sollte nicht
als bloß didaktisch weggedeutet werden (so S. 180), zumal sie in den
späteren Schriften stärker hervortritt.

4. Folgerichtig muß die transzendentale wie die kategoriale
Untersuchung des Seienden dem Gottesbeweis vorausgehen, muß also
vom Wcltverständnis her begründet werden; das schließt nicht aus, daß
sie vom Gottesverständnis erst abzuschließen ist.

5. Wie mir scheint, ist damit die Unterscheidung eines Aufstiegs
- und Abstiegsmomentes bestritten: Thomas faßt die Metaphysik,
so scheint mir, stets als „Aufstieg", und das „Absteigen" wäre lediglich
ein Modus der Darstellung, der beim Leser den falschen Eindruck
hervorruft, es gäbe in natürlicher Gotteserkenntnis einiges, was nicht
vom Geschöpf her in sie hereingebracht ist.

6. Endlich muß die exzessive Deutung des „Aktes" des Seins als
„Aktivität" (S. 281 ff.) erheblich eingeschränkt werden; das Sein ist
„stabil" und beharrend, gerade als Akt, und dieser Aspekt darf nicht
verschwinden.

Da solche Einwände gegen des Vf. Position möglich sind,
darf sein Buch nur als Variante des Thomismus gelten; diese
jedoch vertritt es sehr eindrucksvoll. Und es muß anerkannt
werden, daß diese Variante mehr vom Geist des Thomismus vermittelt
als die in Deutschland noch immer nicht ausgestorbene
Lehrbuchauffassung, die nicht einmal den radikalen Unterschied,
den Thomas zwischen „Sein" und „Seiend" macht, zur Notiz
nimmt.

Hochum Wolfgang Kl u x ea

Bultot, Robert: Christianisme et valeurs humaines. A: La doctrine
du mepris du monde, en Occident, de S. Ambroise ä Innocent 111.
Tome IV: Le Xl<? siecle. Vol. 2: Jean de Fecamp, Hermann Contract,
Roger de Caen, Anselme de Canterbury. Louvain — Paris: Nauwe-
laerts 1964. 148 S. 8°. bfr. 120.—.

Der 1963 erschienene erste Teil der Untersuchungen von
Bultot war ganz Petrus Damiani gewidmet. Mit dem vorliegenden
Heft wird Band 4 des Publikationsprogrammes abgeschlossen, der
das 11. Jahrhundert behandelt. Nach dem römischen Kardinal
kommen nun vier andere Autoren jener Zeit zu Wort, die nördlich
der Alpen lebten und wirkten.

Das 1. Kapitel (S. 11—23) gilt dem aus Norditalien stammenden
Abt Johannes von Fecamp (f 1078) in der Normandie, einem
Kloster, das erst wenige Jahre vor der Regierungszeit des Johannes
am Anfang des 11. Jahrhunderts durch Wilhelm von Dijon reformiert
wurde. Des Johannes Schriften, unter denen vor allem seine
„Confessio fidei" zu nennen ist, sind vielfach unter fremden,
berühmteren Namen überliefert und konnten erst vor kurzem als
sein Werk wiederentdeckt werden. Bultot stellt fest, daß bei
Johannes die Mißachtung der Welt einer mystischen Grundhaltung
entspringt, die an der Gottesliebe als dem einzig ewigen und
wesentlichen Wert orientiert ist und daher zur Negation alles
Irdisch-Vergänglichen gelangen muß.

Kapitel 2 (S. 24—49) ist dem gelehrten Reichenauer Mönch
Hermann dem Lahmen (f 1054) gewidmet, der jedem Mediävisten
als Chronist, weniger aber durch das von Bultot untersuchte

Gedicht „De contemptu mundi" oder „De octo vitiis capitalibus"
bekannt ist. Das für befreundete Nonnen bestimmte und auch im
Hinblick auf seine Komposition interessante Werk steht gerade
im Bezug auf die Weltauffassung in einem gewissen Gegensatz
zur historiographischen Tätigkeit des Mönches, die ein großes
Interesse an politischen Ereignissen und an ihrer Tradierung
verrät. In beiden Schriften tritt aber die an antikem Vorbild geschulte
große Gelehrsamkeit des Autors zu Tage, die wohl als
das eigentliche Refugium des schon durch sein körperliches Gebrechen
von Welt und Weltgebtriebe geschiedenen Mannes angesprochen
werden darf. Vielleicht hätten diese Verhältnisse von
Bultot mehr herausgearbeitet werden müssen, um Entscheidendes
zum Verständnis der Gedankenwelt Hermanns beizutragen. Der
Hauptinhalt von „De contemptu mundi", in der die christlich
gewordene Muse Melpomene den Schreiber inspiriert, ist eine
moraltheologische Abhandlung über die Kapitalsünden, als deren
Ursprung die Hoffart und als deren verderblichste die von Hermann
besonders breit geschilderte Luxuria erscheint. Zur Vergänglichkeit
aller irdischen Macht und alles weltlichen Glanzes
weiß der Historiker Beispiele zu nennen. Der zweite Teil des
Gedichtes, der „De virtutibus" handeln sollte, blieb unausgeführt
. So kann auch nichts Endgültiges darüber ausgesagt werden,
welche positiven Folgerungen Hermann für das Leben des Menschen
in der Welt gezogen hat.

Im 3. Kapitel (S. 50—72) untersucht Bultot das früher meist
Anselm von Canterbury zugeschriebene „Carmen de contemptu
mundi" des Roger von Caen (f 1095), eines Mönches im normannischen
Kloster Bec. Es ist für Mönche bestimmt und will
diese zu einem regelgemäßen asketischen Leben mahnen, indem
es ihnen die vergängliche Nichtigkeit von Macht und Reichtum,
irdischer Weisheit und irdischer Liebe (—Bultot bezeichnet Roger
als antifeministe violent! —) gegenüber den ewigen seelischen
Werten vor Augen stellt. Dabei kontrastiert die Weltverachtung
mit dem Lobgesang des Menschen als Herrn aller Dinge. Man hat
den Eindruck, daß der Mönch offensichtlich zu wenig über das
Leben außerhalb der Klostermauern Bescheid wußte, um darüber
urteilen zu können.

Gewiß nicht zufällig ist das letzte Kapitel (S. 73—141) am
längsten ausgefallen, ist es doch einer so bedeutenden Persönlichkeit
wie Anselm von Canterbury (f 1109), dem Mönch und Erz-
bischof, gewidmet. Obwohl nicht Autor einer zum Thema passenden
Spezialabhandlung, erlauben doch Anselms reiche Korrespondenz
und seine von Eadmer von Canterbury verfaßte Vita
eine Fülle von Schlüssen über die Weltauffassung des berühmten
Theologen und Kirchenpolitikers. Bultot behandelt zuerst und
gleichsam als Grundlage für das Folgende die Anthropologie
Anselms. Den Ausgangspunkt bildet die bekannte These aus
„Cur Deus homo" über die Bestimmung des Menschen, wobei
richtig Anselms Mittlerschaft zwischen Augustin und Thomas
von Aquin hervorgehoben wird. Dann folgt eine Darstellung der
vom Mönchsideal geformten Ansichten Anselms über den fundamentalen
Gegensatz zwischen der auf Autonomie bedachten Welt
und der unter Theonomie gestellten Kirche. Der Zwiespalt von
Anselms Lebensgang und seine persönlichen Lebenserfahrungen,
die Sehnsucht nach Kontemplation und der Zwang zur Vita
activa, kennzeichnen Anselms Gedanken über irdisches Leben und
weltliche Geschäfte. Bultot versteht es sehr gut, gerade von hier
aus die einzelnen Aussagen zu deuten und verständlich zu machen.
Auch das Zentralproblem der Weltverachtung konnte durch eine
Ausschöpfung des vor allem durch scelsorgerliche Motive veran-
laßten Briefwechsels des Erzbischofs konkretisiert und aus dem
bloß Theoretischen ins Praktische gezogen werden. Es entsteht
dadurch ein farbiges Bild auch der Persönlichkeit Anselms und
seines Wirkens. Obgleich Anselm das mönchische Leben als das
einzig dem christlichen Ideal entsprechende Leben beurteilt, kann
doch seine Stellungnahme zum Leben und seinen innerweltlichen
Aufgaben nicht als weltfremd bezeichnet werden.

Vielfach bereichert auch an historischen Kenntnissen und
bestens informiert über die einschlägige Literatur legt man Bultots
neuestes Werk aus der Hand. Man bedauert nur, daß nicht ein
Resume über das 11. Jahrhundert in seiner Gesamtheit gegeben
wurde. Gerade in diesem kirchenpolitisch so aufgewühlten Zeit-