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Ausgabe:

1966

Spalte:

619-620

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Strege, Martin

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzers Religion und Philosophie 1966

Rezensent:

Grabs, Rudolf

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619

Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 8

620

Kierkegaard durch den Kunstgriff der Pseudonyme gelöst), daß
die Person des Philosophierenden in ihren Situationen und Entscheidungen
mit in das Blickfeld rückt (sehr im Gegensatz zur
Eigenart deutscher .Existenzphilosophie', besonders Heideggers).
— Noch aus einem anderen Grund empfindet man Marcels Philosophieren
— auf Grund dieses Bandes — als eine wirklich konsequente
Existenzphilosophie, nämlich durch das (an sich typisch
französische) Aufeinanderbezogensein philosophischer Abhandlungen
und dramatischer Darstellung auf der
Bühne. Erst dies macht die Rede des Philosophen und seine
Wahrheiten wirklich konkret (vor allem durch Einfügen in Konfliktsituationen
), während heutzutage manchmal nichts abstrakter
und theoretischer anmutet als die konventionelle Versicherung,
daß Wahrheit konkret werden müsse, und das konstruierende
Analysieren von Strukturen der Konkretion bzw. .Geschichtlichkeit
'.

„Wenn sich in Philosophien klassischen Stils, beispielsweise
bei Piaton oder bei Berkeley, der Dialog zwischen im allgemeinen
sehr wenig individualisierten Personen entwickelte, so ist es
durchaus verständlich, daß dies in der Philosophie der Existenz
ganz anders ist und daß in einem dramatischen Werk, das sozusagen
das andere Gesicht dieser Philosophie ist, die Individualisierung
sich nicht nur auf die Personen, sondern auch auf die
Situationen erstreckt, in die jene verwickelt werden. Ohne dies
würde man in einem Bereich der Abstraktion bleiben, in dem für
das existentielle Denken kein Raum ist" (S. 13 5).

Man muß Marcel dankbar sein, daß er einmal Gelegenheit
nahm, in einem Rückblick selbst die Einheit seines philosophischen
und seines dramatischen Werkes an Beispielen und Textproben
vorzuführen, nicht ohne hierbei auf Entwicklungen und
Wendungen entsprechend dem Fortgang der Geschichte im Politischen
und im Soziologischen aufmerksam werden zu lassen. —

Was den Grundgedanken, der zur Titelformulierung führte,
anbetrifft, so sei dazu noch kurz folgendes gesagt: Nicht Gleichheit
(im Sinne eines Egalitarismus), sondern Brüderlichkeit
begründe die Menschenwürde, die es am anderen zu respektieren
gilt. .Gleichheit' ist ego-zentrisch und als
Forderung nicht ohne Ressentiments, .Brüderlichkeit' ist h e t e -
ro-zentrisch (S. 159) und mehr Indikativ als Imperativ.
Dabei wäre es ein Irrtum oder leichtfertig, „zu behaupten, die
menschliche Würde könne nur von denen in Anspruch genommen
werden, die . . . ausdrücklich Gott als Vater aller Menschen anerkennen
" (ohne daß „eine solche Einstellung . . . ausdrücklich
zu verwerfen" sei). Können nicht „jene Nichtgläubigen, ohne es
zu ahnen, trotz allem in sich einen Glauben in das Vatersein
Gottes bewahren, den ihre freidenkerischen Meinungen nur verbergen
?" (S. 161). Sonst erschiene die Brüderlichkeit, nicht der
Gottesglaube, als Fiktion. „Unter diesen Bedingungen ist die
Brüderlichkeit nicht mehr als ein ,als ob': die Menschen sollen
sich zu einander verhalten, als ob sie Brüder wären" (S. 158).

Was die .Gleichheit' anbetrifft, so sind die Menschen ja
nicht gleich; und „die Tatsache des Dienens als solche" ist auch
gar nicht erniedrigend (S. 190). Entscheidend ist eine Mentalität,
die sich auch fremder Leistungen erfreuen kann (in der Bewunderung
geradezu Anteil am Schöpferischen nimmt, S. 151/152)
oder andererseits jenes Mitleidens fähig ist, welches jedes Überlegenheitsgefühl
ausschaltet. — Überhaupt sei das Problem der
Würde des Menschen im letzten und eigentlichen nicht mehr ein
Problem des Materiellen und Ökonomischen, sondern ein Problem
des inneren Menschseins, genauer gesagt: der „Achtung vor
der Wahrheit" (S. 198). Meinungen und Überzeugungen zu manipulieren
und aus Wahrheit die zu Kommentgeist verpflichtende
pragmatistische Lesart zu machen — gegen diesen allgemeinen
Trend in der modernen .Massengesellschaft' findet Marcel harte
Worte.

Berlin Hans-Georg Fritztehe

Stiege, Martin: Albert Schweitzers Religion und Philosophie. Eine
systematische Quellenstudie. Tübingen: Katzmann Verlag 1965.
148 S. 8°. DM 10.80; Lw. DM 12.80.

Strege ist seit Jahrzehnten gründlich mit der Gedankenwelt
Schweitzers vertraut. Er will mit dieser Schrift denen helfen, die

zwar manches vom „Urwalddoktor" wissen, aber sein Denken
nicht oder doch nur sehr ungenügend kennen. In guter systematischer
Gliederung wird in der knappen Studie Hauptsächliches
zur Gedankenwelt Schw's. gesagt. Streges Hinführung an die
Texte ist zumeist sehr kurz. Dadurch kommt Schw. selbst stark
zu Worte.

Freilich muß ein Fragezeichen gesetzt werden, wenn Ulrich
Neuenschwander, der dem Buch ein Geleitwort gab, meint, daß
diese stark konzentrierte Gedankenfracht vielen Fernstehenden
den erstrebten Hilfsdienst leisten kann. Der schmale Umfang erlaubt
keine anschauliche Darlegung der Kernaussagen Schw's.
Aber gerade die treffliche Bildhaftigkeit des Mannes von Lam-
barene ist für solche, die den Denker Schw. nur sehr mangelhaft
kennen, notwendig. Mir scheint daher, daß das kurzgefaßte
Werk hauptsächlich für die, die bereits Kenner der Theologie und
Philosophie Schw's. sind, nützlich sein kann, um rasch und einwandfrei
mittels des Verzeichnisses der Hauptbegriffe wesentliche
Textaussagen zu gewinnen.

Aber auch hier muß gefragt werden, warum Str., der durchaus
auch um sehr entlegene Quellen im Schrifttum Schw's. weiß,
unerläßliche Aussagen nicht bringt. Um nur ein Beispiel anzuführen
: Es ist erforderlich, wenn Schw's. Philosophie dargelegt
wird, die Polarität seines Welt- und Seinsverständnisses in der
Form mit einzubeziehen, wie dies in der Pariser Rede vom 20. Oktober
1952 geschieht (Fischer Bücherei Nr. 83, S. 236 unten).
Auch das große Bachbuch Schw's. enthält Aussagen, die für die
Eigenart seiner Frömmigkeit und seines Lebensgefühls s o erleuchtend
sind, daß sie auch bei großer Raumbeschränkung nicht
fehlen sollten.

Trotz der Einwände gilt, daß das Buch gute Dienste verrichten
kann.

Dresden Rudolf Crabs

Flügel, Heinz: Konturen des Tragischen. Exemplarische Gestalten der
Weltliteratur. Stuttgart: Evang. Verlagswerk [1965]. 176 S. 8°. Lw.
DM 14.80.

Das Buch erinnert uns an die katholischen Arbeiten über
das Tragische; der Rezensent denkt etwa an die neueren Untersuchungen
Urs von Balthasars und Reinhold Schneiders. Dabei
wird der Unterschied beider Konfessionen sichtbar, soweit er die
Lehre von der Erbsünde betrifft. Für Hügel ist Tragik etwas Unentrinnbares
; der erbsündige Mensch in seinen extremen Existenzmöglichkeiten
, Grenzstationen, in der intensivsten Realisierung
der Person ist wesensnotwendig eine tragische Figur. Schuldlos
Schuldigwerden ist sein Teil; jede Wertverwirklichung ist zugleich
eine Wertzerstörung (um es etwas altmodisch auszudrücken). Daß
das so ist, wird an beispielhaften Gestalten großer epischer und
dramatischer Dichtung gezeigt: am Prophet Jona, an den Hauptpersonen
der Orestie, an Ödipus, Don Quijote, Hamlet, Nathan,
Demetrius, Iwan Karamasow und an Ahab (dem Kapitän in Mel-
villes »Moby Dick", 1851). Das großartigste Stück dieser Samm-
lung ist wohl der Essay „Gericht über Faust", der mit der unkri'
tisch schnellfertigen Bejahung des goethisch Faustischen auf'
räumt und die tiefe Un- und damit Widerchristlichkeit dieser
fälschlich sogenannten Tragödie enthüllt. (Übrigens interessant,
Hügels Interpretation mit der des Jesuitenpaters Friedrich
Muckermann zu vergleichen, der in seinem Goethebuch von 1931
den Dichter als eine Art Kryptothomisten hinstellt.)

In welchem Maße das Buch auch theologisch relevant ist,
möge ein Zitat erweisen: »Wenn man .... wie es von christlich-
orthodoxer Seite geschieht, Lessing .Relativismus' vorwirft, so
muß mit aller Entschiedenheit erwidert werden, daß Relativismus
zur Inkarnation gehört. Angesichts der Verheißung des Endgültigen
, das, mit Lessing gesagt, unzweifelhaft .noch nicht da
ist', wird jede Gestalt des Christentums und jedes christliche
Bekenntnis als relativ zu gelten haben. Bei der von Lessing ge'
machten Unterscheidung der Religion Christi und der christlichen
Religion . . . geht es um die Weiterführung, um die in der Tat
überaus gewagte Radikalisierung von Luthers Erfahrung deS
Glaubens als der fides qua creditur, des Glaubensaktes, gegenüber
der fides quae creditur, dem Glaubenssystem, das, wie Lessing in
der Vorede zum .Nathan' sagt, Christus zu einem Gegenstand der