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Ausgabe:

1966

Spalte:

567-574

Autor/Hrsg.:

Wiesner, Werner

Titel/Untertitel:

Ontologie und Hermeneutik bei Karl Barth 1966

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 8

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menten. Solche Themen werden gleichsam in einer gewissen erklärenden
Distanz erschlossen, sie werden neu und eigentümlich
erklärt auch durch den Zusammenhang, in den sie eingebettet sind.
Andere Themen, über die die herkömmliche Dogmatik mit konventionellen
Auskünften hinweggeht, wie das Problem der Vernunft
, die-Kategorien des Lebens und vor allem die Frage des
Verhältnisses von Geist und Heiligem Geist — ich nenne nur Beispiele
—, kommen.ausführlich zur Sprache. Auch wenn man die
damit in Kauf genommenen Verringerungen und Abschwächungen
deutlich sieht, wobei ich vor allem an die geringe biblische Fundierung
denke und an die oft sehr schattenhaften dogmengeschichtlichen
Bezüge, so steht hier doch ein Unternehmen vor uns, das ich
als eine wesentliche Öffnung zu zukünftigen Aufgaben beurteile.

Eigentümlich ist über alle Einzelheiten hinaus In dieser Systematischen
Theologie' aber vor allem das Verhältnis zur Historie.
Hierüber finden sich im 3. Teil (Band II) im Zusammenhang mit
der Christologie entscheidende Sätze, auf die ich nur hinweisen
möchte, ohne in eine Auseinandersetzung eintreten zu können.
Das konkrete Ereignis Jesu als des Christus ist für Tillich die fraglose
Mitte der christlichen Theologie. Und doch bindet der Glaube
sich nicht einfach an die Historie, wie sie in der immer am Rande
der Wahrscheinlichkeit wandelnden Arbeit des Historikers ans
Licht tritt. „Keine dieser Methoden", sagt Tillich in diesem Zusammenhang
, „kann die Frage beantworten, was uns in den Stand
setzt, die Lehre Jesu ~u befolgen oder uns für das Reich Gottes zu
entscheiden. Die Antwort auf diese Frage muß aus einer neuen
Wirklichkeit kommen, die — nach der christlichen Botschaft — das
Neue Sein in Jesus als dem Christus ist. Aber wenn man das bejaht
, dann ist es unmöglich, sich von dem Sein des Christus auf
seine Worte zurückzuziehen. Und damit ist der letzte Weg versperrt
, der versucht, durch historische Forschung ein Fundament für
den christlichen Glauben zu gewinnen" (dt. Ausgabe, II, 117). Es
wird auf die Dauer nicht genügen, nach üblicher Theologenart
auf die Herkunft der Fragestellung von M. Kahler zu verweisen
und die ronmilicrung Tillichs nachzurechnen. Das hier angeschnittene
Problem dürfte sich als härter erweisen denn die Schulmeistere
! der Formulierungen,

Tillich hat uns ein erstaunlich abgeschlossenes Lebenswerk
hinterlassen. Aber was heißt schon abgeschlossen? Er hat in gelassener
Sicherheit Fragestellungen des vorigen Jahrhunderts bewahrt
und zeitgemäß erneuert und war doch ganz dem heute und
morgen Notwendigen zugewandt. Er hat immer das Ganze bedacht
und hat doch mit keinem systematischen Entwurf ein abschließendes
Wort für sich in Anspruch genommen. Er hat merkwürdig
wenig Polemik getrieben, er pflegte einen meditativen Denkstil
und war doch unablässig im Gespräch. Er war ein Wanderer, ein
Denker der Grenze. Er stand dort,, wo die Sprach- und Denkstile
sich treffen, unterscheiden und scheiden, und er war auf Vermittlung
, Übersetzung und Verständigung bedacht. Man möchte die
schöne Formel von M. J. J. Merleau-Ponty in einer'gewissen Variation
auf Tillich anwenden: Der Theologe und sein Schatten. Sie
gibt auch hier den von Merleau-Ponty gemeinten Sinn her: So viel
Tillich auch gesagt und geschrieben hat, das Ungesagte, Ungeschriebene
, eben der Schatten, ist nicht minder groß und vielfältig.
Und das ists, was in die Zukunft weist und neue Aufgaben in sich
birgt.

Ontologie und Hermeneutik bei Karl Barth1

Von Werner W i e s n e r , Mainz

Karl Barth zum 80. Geburtstag- gewidmet

Die Theologie befindet sich heute in einer Grundlagenkrise,
wie sie in dieser Schärfe in der Geschichte einmalig ist. Dabei
handelt es sich keineswegs nur um eine Not der Theologie, sondern
sie nimmt hier nur teil an der Grundlagenkrise unserer
heutigen Welt, wie sie auf allen Lebensgebieten, der Wissenschaft,
speziell der Philosophie, der Ethik, des Rechts, der Kunst, der
Politik usw. hervortritt. Nun könnte man vielleicht meinen, die
Theologie müßte eigentlich für alle die genannten Lebensgebiete
die Grundlage bieten, wie sie es im Mittelalter zweifellos getan
hat, und darum widerspräche es dem Wesen der Theologie, selbst
in eine Grundlagenkrise zu geraten, zum mindesten für den Blick
des glaubenden Christen. Gilt nicht auch für die Theologie der
Satz des Paulus, daß in Christus der Grund gelegt ist und niemand
einen anderen Grund legen kann? Aber die Theologie ist nun
einmal Menschenwerk und nicht Gottes Werk an der Menschheit,
für das in der Tat in Jesus Christus der Grund gelegt ist. Wenn
auch die Theologie als menschliche Aussage vom Werk Gottes in
Christus lebt, so muß sie als Menschenwerk ihre Grundlegung
selbst verantworten, um für ihre Aussage vor sich und der Welt
Rechenschaft ablegen zu können. Nicht, daß sie mit dieser Rechenschaft
ihr eigenes Recht als Theologie vor der Welt beweisen
könnte, wohl aber in dem Sinne, daß sie auf die Frage nach Sinn
und Bedeutung ihrer Aussagen im Rahmen menschlicher Sprache
Antwort gibt, die dann die Grundlage für sie als einer besonderen
Wissenschaft bietet. Doch eben gerade weil dies eine menschliche
Aufgabe ist, bedeutet es nichts Überraschendes, daß sie in
die allgemeine Grundlagenkrise unserer Welt mit hineingerissen
ist. Ob sie mit der Überwindung dieser Krise auch den anderen
Lebensgebieten zur Grundlage verhelfen kann, wird sich dann erst
zeigen. Bedenklich wäre es nur, wenn sie sich ihre Grundlage von

') S c h m i d , Friedrich: Verkündigung und Dogmatik in der
Theologie Karl Barths. Hermeneutik und Ontologie in einer Theologie
des Wortes Gottes. München: Kaiser 1964. 202 S. gr. 8° = Forschungen
z. Geschichte u. Lehre d. Protestantismus, hrsg. v. E. Wolf, 10. Reihe,
Bd. XXIX.

außerhalb borgen wollte, etwa von der Philosophie, weil sie sich
damit als Theologie selbst aufgeben würde. Jedenfalls ist es ihr
auch in der Vergangenheit nie gut bekommen, wenn sie dies allzu
grundsätzlich getan hat.

Bei den Grundlagen der Theologie geht es wie in aller
Wissenschaft um Sinn und Geltung der Kategorien: Sein und
Denken. Auch die Theologie' macht ständig Seinsaussagen, indem
sie Seiendes behauptet und zugleich ihm eine ihm entsprechende
Aktualität zuspricht, mag das nun von Gott oder der Welt oder
dem Menschen gelten. Es geht hier also primär um die Ontologie
als Frage, welche Bedeutung die Vokabel „ist" in der Theologie
hat, wobei zunächst noch offen bleibt, ob es eine Ontologie
Gottes überhaupt geben kann. Der Begriff des Seins oder der
Wirklichkeit transzendiert das Seiende, von dem es ausgesagt wird,
eben indem es ihm Sein, Wirklichkeit in einem jeweils bestimmten
Sinne zuspricht. Die ontologische Frage ist nicht, wie oft in der
Philosophie, aber heute z. B. auch in der Theologie Paul Tillichs
behauptet wird, die Frage nach einer metaphysischen Größe, an der
das Seiende in verschiedenen Graden teilnimmt, sondern ganz
einfach die Frage, in welchem Sinne das Prädikat Sein von einem
Seienden ausgesagt wird.

Aber schon, daß es offensichtlich Inhalt einer Aussage
ist, weist darauf hin, daß Ontologie für sich allein noch nicht
letzte Grundlage einer Wissenschaft, auch nicht der Theologie sein
kann. Bereits der Begriff der Ontologie enthält ja nicht nur den
Inhalt des Seins, sondern er ist Denken, Rede, Aussage, Lehre
vom Sein, die wiederum in einem Erkennen und Verstehen von
Sein begründet ist. Wäre sie das nicht, so würde das Denken das
Sein als seinen Inhalt produzieren und damit in seinem Sinn bereits
verneinen. Es „ist" dann also nicht, sondern wird nur gedacht
. Sein bzw. Wirklichkeit muß also, um seinem Begriff
nicht zu widersprechen, erkannt oder, was einen umfassenderen Begriff
dargestellt, verstanden werden. So tritt neben die Ontologie
als Lehre von der jeweiligen Wortbedeutung von „Sein" die
Erkenntnistheorie oder umfassender die Lehre vom Verstehen,