Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1966

Spalte:

549-551

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Tappolet, Walter

Titel/Untertitel:

In neuen Zungen 1966

Rezensent:

Mezger, Manfred

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

549

Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 7

55Ö

von diesem, er habe sich als eine innerkirchliche Bewegung „kon- und Verheißung des „neuen Liedes" der Kirche entstanden. Es
stituiert" (!), welche die in der Orthodoxie formulierte Lehre im nimmt Bezug auf die besondere Lage und Frage des Kirchenliedes
Wandel des einzelnen fruchtbar zu machen wünschte (S. 84). So in der Schweiz, spannt jedoch den Bogen sehr weit, so daß eine
wenig zu bestreiten ist, daß manche Linie dieser weitverbreiteten gute Einführung und informierende Übersicht zum Gesangbuch-
Unterströmung des kirchlichen Lebens in den eigentlichen Pietis- Problem im gesamten deutschsprachigen Gebiet gegeben wird,
mus einmündet, jene „Kirchenpartei", deren Programm durch Der Vf. hat schon in anderen Veröffentlichungen („Vom neuen
Speners „Pia desideria" vom Jahre 1675 bestimmt wird, die aber Kirchenlied", 1941; „Das Wort Gottes und die Antwort der Ge-
inr eigentliches Profil erst über August Hermann Franckes Aus- meinde", 1956) Sachkenntnis und Erfahrung bewiesen. Er sieht,
einandersetzung mit der Leipziger Theologischen Fakultät (1689/ wie es ja sein muß, Gesangbuchfragen immer als Fragen der
90) bekommt, — so sicher ist doch, daß der Pietismus gleichzeitig Kirche, der Theologie, des lebendigen, also dichterisch-schaffenden
und in seinem Kern einen Umschlag gegenüber den mysti- Glaubens.

sehen Strömungen des 17. Jahrhunderts bedeutet. Einige Beispiele: n . c .„ , „ „. . ,. . . , _ , . „ _

fl.j, , . , . .1-1 ~ f . , ., Der Aufnß: 1. Das Kirchenlied seit der Reformation. I . Das ze t-

^eck schildert die Verbindung von geistlicher und galanter Lyrik, genössiscno Kirchenlied. III. Das zeitgenössische Kirchenlied! in der

von Hausandacht und Schaferspiclen (S. 72), die keineswegs auf Schweiz. IV. Texte und Melodien des Kirchenliedes. Teil II und III geben

den Stockholmer Königshof beschränkt war, - eine Todsünde für zur Hauptsache Namen, mit knappen biographischen Daten, alsdann -

den wirklichen Pietismus. Die Frömmigkeit des „Frühpietismus" was zu loben ist — viele Proben und Beispiele des Kirchenliedes bzw.

•st weitgehend Abendmahls-und Kommunionsfrömmigkeit in der der geistlichen Dichtung heute: so gewinnt der Leser guten Überblick,

"Gleichsetzung von mystischer unio und lutherischer communio" aber aucn Einblick in viele Dichtungen, die sonst nur schwer zugänglich

(S. 99) - mehr als die Hälfte aller von Buxtehude vertonten sind und die Voraussetzung begründeten Urteils bilden. Man kann

Texte rind Kommunionstexte (S. 59): dem stelle man die herbe <7aKe"' ° Tei' IV ™id" besser Y«8«?g«» worden wäre (in die Nähe

Kritik Speners, August Hermann Franckes, Gottfried Arnolds und der Grundsatzfragen) denn an der Erörterung des Wort-Ton-Verhält-

r l i t i i . i r r n .. ii. i nisses entscheidet sich schon sehr viel. Da aber in diesem Kapitel zu-

^erhard Tersteegens an der leichtfertigen Selbstverständlich- glcich Spezjalfragen besprochen werden (das Für und Wider des .offenen,

Keit des üblichen Abcndmahlsempfanges gegenüber und den nichtkanonisierten' Anhanges zum Gesangbuch), auch die große Be-

dadurch vielerorts bedingten Rückgang des Abendmahlsbcsuches; Standsaufnahme vorgelegt wird, so mag ihm die Stellung am Ende be-

auch Schades radikale Kampfansage an die Privatbeichte, die her- lassen sein.

kömmlich zur Abendmahlsvorbereitung gehörte, muß in diesem Normative Aussagen gibt der Vf. im Abschnitt „Vom Wesen

Zusammenhang genannt werden Die neulatc.n.schen Dichtungen deg Kirchen,iedes"( das er durchaus als Lied der Gemeinde, nicht

spielen in der mystisch-erbaulichen Frömmigkeit des 17. Jahr- des frommen Ichs> vcrstandcn wisse„ will, als „Ausdruck und

Kunderts eine große Rolle, - schon Spcner lehnt die lateinische Vo„zug des Dankes.. (.Vollzug' ist hier ein befremdendes Wort;

Sprache im Gottesdienst entschieden ab. Die geistliche Dichtung unser Singen a„en juridjschen Kategorien fern!), „des

Z° ] -rStj Wi61.Ge<i K94 " l2l T u T 'r, " Lobes- der Buße- d« Bekenntnisses, des Gebets, der Anbetung der

m, "w JoiM*$n™At. bestimmt, - die Einstellung des Pietis- 2Um Gottesdienst versammelten Gemeinde Jesu Christi". Alles

mu; zu Welt und Tod ist eine grundandere; er ist zwar tief davon ^ Icxikonreif; dennoch ein bißchen viel. Unser Lied

durchdrungen daß die Welt ta Argen liegt, aber er sieht es doch ^ ctwas vjd Bcscheidcneres (und eben darin Lebenswichtiges):

seine Aufgabe an, die Christen zur Er u ung ihrer Aufgaben nämlich gesungene S ache des Glaubens.
Jur hrden wclttuchtig zu machen; nicht zufällig hangt die damals

einsetzende Ablösung der humanistischen Ausbildung durch die Der Vf. sieht und sagt ganz richtig, daß in der Gesangbuch-
Realschulausbildung eng mit der neuen Wclteinstellung des diskussion (nicht nur in der Schweiz) die Forderung des „Wir-
P'etismus zusammen. Und von Todessehnsucht kann bei den Pieti- Liedes bis zur Bewußtlosigkeit wiederholt" worden sei. Warum
sfen keine Rede sein, weil sie niemals aus den Augen verloren eigentlich? Verbürgt das plurale Pronomen personale den Gehaben
, daß der Tod der Sünde Sold ist. meinschafts-Charakter? Oder verbirgt es nur den Mangel an
„ Aber auch auf musikalischem Gebiet ist der Graben zum Personalität? «j*auch immer tiefer drein, es war kein Guts
^tismus unüberbrückbar. Geck bezeichnet den „Selbstgenuß" a"1 Leben mein die Sund hatt mich besessen : Wer wagt - per
al° angemessene Weise der Apperzeption Buxtehudescher Vokal- analogiam natürlich - heute noch solche Worte? Es liegt (auch
m"sik: „Die autonom musikalisch« Konzeption des Aria-Satzes ^icr) gar nicht an der Vokabe , sondern am Geist der Sache, und
«rmöglicht das völlige Aufgehen der Musik in reiner Klanglich- der ormailef Gemeinschaftscharakter eines Liedes ist noch
«it. Das entspricht der Sehnsucht des Pietisten, sich in seinem ,ange k,elne Aufwertu"g fur dcn Individualitäts-Schwund. Ein
Frömmigkcitscrlebnis und seiner Jesus-Liebe wohlig geborgen Tjxt ohn,e einen Beiklang von subjektiver Erfahrung wird es
ünd sinnlich entzückt zu fühlen, ohne selbst verantwortlich zu s*wer haben in den Gemeinden Eingang zu finden (S. 12). Ge-
(S. 131). Wie vertrüge sich das mit der prinzipiellen kriti- wl6' s°l™Se de! G}auhe bl°ß kopfnickende Konstatierung
sdlen Selbstrcflcxion und dem Bußernst des pietistisdien Heili- vAon, •Heilstatsachen ist, sondern höchstpersönliches Engagement,
^ngsstrebens? Der Welt-Entwurf und die dahinterstehende Audi sieht der Vf. richtig, daß die Begegnung, ja die Einheit von
jheologie des wirklichen Pietismus heben sich strukturell und Christ und Künstler bedroht war und nur langsam sich wieder
den' Lebensgefühl nach scharf von den mystischen Strömungen verwirklichen will. Frömmigkeit, zumal etwas verbiederte ist
2 17. Jahrhunderts ab. Wäre das nicht der Fall, so bliebe es ke,ln Ersatz für poetisches Niveau und man darf es den viel be-
S*'echterdings unerklärlich, daß der für die Tiefen christlicher bildeten „Fachleuten nicht übelnehmen wenn sie - zumal im
MVstik wahrlich aufgeschlossene Johann Sebastian Bach in statu Berel* vertonter Texte - sich gerne in der Nähe „alter Kirchen-
C°n,fessionis für die Orthodoxie gegen den Pietismus m"s,lk und „alter Dichtung aufhalten. Das ist nicht Bequem-
Teilung bezoeen hat henkelt oder Traditionalismus, sondern Quahtatsbewußtsem. Ist
' denn das .neue Lied' der Kirche schlecht? Das kann man nicht
Verf 6 Einwändc stclIcn Fra8en nidlt so senr an den sagen. Der Vf. bringt zahlreiche Beispiele, gute und weniger gute,
stes 3,S a" die Pictismus-Forschung dar. Musik- und Gei- fur den Schaffensdrang der Zeitgenossen. R. A. Schröder, Jochen
dürfenSenSdlaften wcrdon V0" Martin Geck nodl viel erwartcn Klepper, Arno Pötzsch, Heinrich Vogel, auch Otto Bruder und
Ber|. Wilhelm Vischer —sie sind formal talentierte wie inhaltlich profi-
er ln Oskar Söhn gen ]icrte Liedschaffende! und wenn auch nur wenige ihrer Werke
■j. Aufnahme fanden in neueren Gesangbüchern, so ist dies wenige

'PPoIet, Walter: In neuen Zungen. Zur Frage des zeitgenössischen doch schon etwas. Das Gejammer, uns fehlten einfach die zeit-

^f*enUedes. Zürich - Stuttgart: Zwingli Verlag [1

2

. 963]. 176 S. gr. 8° genössischen Kirchenlieddichter, hat angesichts des Vorhandenen
Sdiriftenreihc d. Schweizerischen Arbeitskreises f. Kirchenmusik, keine Berechtigung. Die Kritiker vergessen auch (oder wußten

nie), daß z. B. die erste Generation der Reformation mit ganzen
f Das Buch ist im Zusammenhang mit aktuellen Gesangbuch- drei Dutzend Liedern ausgekommen ist (diese allerdings hat sie
hu*"' 2Umal Dcim s0#- .Probeband' des Schweizerischen Gesang- gesungen und gekonnt!). Das berühmte Gesangbuch von Valentin
s' zugleich aber aus grundsätzlicher Besinnung über die Not Babst hatte auch nur 124. Kämen also, als künftiger fester Be-