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Ausgabe:

1966

Spalte:

547-549

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Geck, Martin

Titel/Untertitel:

Die Vokalmusik Dietrich Buxtehudes und der frühe Pietismus 1966

Rezensent:

Söhngen, Oskar

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 7

548

mit der Bedeutung der Massenmedien im Blick auf Geschlechtserziehung
.

Eine Ausarbeitung der Kommission Jugendschutz im Sozialethischen
Ausschuß der ev. Kirche im Rheinland über „Geschlechtlichkeit
in unserer Gesellschaft" und eine von M. Goldstein zusammengestellte
Literaturübersicht zu den Themen: Erziehung
zu Mann und Frau, Geschlechtserziehung, Vorbereitung auf Ehe
und Familie beschließt den Band.

Dieses Heft verdankt seine Entstehung einer Anregung aus
einem großen Kreis ev. Jugendfürsorger. Es ist zu hoffen, daß es
eine weite Verbreitung findet, weil es nicht nur diagnostisch
sondern auch praktisch in einer auf vielfältige Weise verworrenen
Gesamtsituation Hilfen anbietet.

Velbert/Rhld. Friedridi Ka r ren b e rg

Condrau, Gion: Angst und Schuld im menschlichen Dasein (Wege

zum Menschen 18, 1966 S. 65—73).
Hei eck, Ludwig: Max Weber und das Luthertum (LM 5, 1966 S. 178

—187).

Schrey, Heinz-Horst: Neuere Literatur zur Ethik. II: Zur Geschichte
der sozialen Frage (ThR N. F. 31, 1966 S. 161—179).

Wiegand, Dietmar: Religiöser Sozialismus bei Martin Buber
(ZfRGG 18, 1966 S. 142—162).

LIT VRGIEWI SS ENSCH AFT
UND KIRCHENMUSIK

Geck, Martin: Die Vokalmusik Dietrich Buxtehudes und der frühe
Pietismus. Kassel-Basel-Paris-London-New York: Bärenreiter-Verlag
1965. 241 S. m. Notenbeisp., 2 Taf., 2 Falttaf. gr. 8° = Kieler
Schriften zur Musikwissenschaft, hrsg. v. d. Landeskundl. Abtlg. d.
Musikwissenschaftl. Inst. d. Univ. Kiel, XV. Kart. DM 42.—.

Die Bedeutung dieser Arbeit greift weit über den speziellen
Gegenstand hinaus, den sie in ihrem Titel angibt. Denn sie bettet
die Darstellung der Vokalmusik Buxtehudes in eine breite Untersuchung
ihres musikgeschichtlichen Wirkungsfeldes ein. Was dabei
herauskommt, ist eine Entmythologisierung der gängigen Vorstellungen
über die Kirchenmusikpflege des 17. Jahrhunderts.
Geck weist nach, daß das 17. Jahrhundert keineswegs ein goldenes
Zeitalter streng liturgisch gebundener Kirchenmusik gewesen
ist und daß auch die mitteldeutschen Meister nicht nur „in liturgischen
Formularen und zyklischen Zusammenhängen" (Friedrich
Blume) gedacht und geplant haben. Das gilt sogar für Leipzig.
Die Thomaskantoren Schelle, Knüpfer und Kuhnau haben neben
ausgesprochen liturgischer Musik zahlreiche Werke über Texte
geschaffen, die sich weder dem Ordinarium noch dem Proprium
eindeutig zuordnen lassen, die aber gleichwohl im Gottesdienst
aufgeführt worden sind.

Eine zweite wichtige Entdeckung Gecks: Der musikgeschichtlichen
Forschung war zwar bekannt, daß die Kompetenzen des
Kantors und des Organisten im 17. Jahrhundert keineswegs mehr
so gegeneinander abgegrenzt waren, daß dem einen die Ausführung
, der Vokalmusik, dem anderen die Instrumentalmusik vorbehalten
gewesen wäre. Der Organist begann vielmehr in die Domäne
des Kantors, die Vokalmusik, einzudringen. Das hing mit
dem Siegeszug der neuen konzertierenden Musik zusammen, die
sich auf dem Generalbaß aufbaute. Die Konzertmusik fand deshalb
in der Regel von der Orgel herab statt. Die ganze Breite und
Tiefe dieser geradezu revolutionären musikgeschichtlichen und
soziologischen Schwerpunktverlagerung hat erst Gecks Darstellung
deutlich gemacht. An den vier Hamburger Hauptkirchen
gab es an drei Sonntagen im Monat eine Organistenmusik, während
nur einmal der Chorus musicus unter dem Kantor im Gottesdienst
mitwirkte. In Lübeck war an der Organistenmusik ein
Ensemble von Berufsmusikern beteiligt. Damit und anhand eines
glücklichen Fundes, eines Textbuches mit den in der Weihnachtszeit
1682/8 3 gottesdienstlich aufgeführten Werken, ist auch der
— bisher fehlende — Nachweis gelungen, daß Buxtehude auch seine
eigenen Kantaten regelmäßig im Gottesdienst der Lübecker
Marienkirche aufgeführt hat.

Und noch eine weitere Feststellung Gecks verdient, von
weiteren Kreisen zur Kenntnis genommen zu werden: daß nämlich
der Pietismus für das praktische Gemeindesingen mehr getan

hat als die Reformation (wie auch die Verdienste des Pietismus
um das Bibellesen und die Bibelverbreitung weit größer als die
der Reformation sind): „Das Singen gelernt hat die Sing-
Gemeinde, die fortan (sc. seit der Singbewegung) die Lieder der
Reformation sang, vom Pietismus, gegen den sie sich nunmehr —
gleichermaßen zu Recht wie zu Unrecht — wandte" (S. 112). Der
Pietismus hat das Gesangbuch in die Hand jedes Gemeindegliedes
gebracht und die Hausandacht zur Singestunde gemacht.

Der Kern der Studie ist der Versuch nachzuweisen, daß das
künstlerische Ideal des frühen Pietismus, den Geck mit Johann
Arndts Vier Büchern vom wahren Christentum (1606—1610) beginnen
läßt, das geistliche Lied, die Aria ist. Die Gattung der
geistlichen Aria ist vom Frühpietismus geschaffen worden. Wenn
nach Hegel das Kunstwerk „das sinnliche Scheinen der Idee" ist,
dann ist das Buxtehudesche Vokalschaffen in seinen entwicklungsgeschichtlich
wesentlichen Teilen als künstlerische Verwirklichung
der musikalischen Ideen des frühen Pietismus zu begreifen. Dabei
ist für die zukunftweisenden Kantaten Buxtehudes charakteristisch
, daß sie einen Modulationsplan zugrundelegen, mittels
dessen es möglich ist, autonome musikalische Strukturen zu
schaffen: „Die harmonische Konzeption der Komposition einerseits
und die Durchseelung der Musik vom sentiment pietistischer
Dichtung und Frömmigkeit andererseits" sind für diesen Gattungstyp
gleich konstitutiv (S. 129). Es ist ein Vorzug der Studie
von Geck, daß sie über das Musikfachliche hinaus immer auch
die großen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge in den Blick
faßt: das Verhältnis des Pietismus zur Mystik, die Inklination
der frühpietistischen Arie zur modernen Erlebnisdichtung, die neue
Sinngebung der Kirchenmusik, insbesondere der Kantate, die nun
nicht mehr als Funktion der Liturgie, sondern als Eigenwert, als
„harmonischer Gottesdienst" verstanden wird (S. 147), die früh-
pietistische Ensemble-, insbesondere Triomusik als Gleichnis und
Ausdruck der ecclesiola (S. 133 ff), den Übergang von der mystischen
zur pietistischen Ich-Ergriffenheit: „nicht mehr die Süße
Jesu, sondern die Ergriffenheit des Ichs von dieser Süße macht die
Liedwirklichkeit aus" (S. 105). Mit der Ausbildung des stilus
melismaticus vollzieht Buxtehude zugleich den Übergang vom
Gattungsdenken zum Stildenken und nimmt das neue deutsche
Lied der Romantik in einigen wesentlichen Zügen vorweg.

Man wird Geck bestätigen können, daß ihm der angestrebte
Beweis vollauf gelungen ist und daß seine Arbeit ein Musterbeispiel
nicht nur für die Fruchtbarkeit, sondern auch für die Notwendigkeit
der Verbindung von musikwissenschaftlicher und theologischer
Betrachtungsweise bei der Untersuchung der Kirchenmusik
darstellt. Geck hat auch deutlich gemacht, daß milieugeschichtlich
die Einflüsse des frühpietistischen Stockholmer Hofes
dabei sicherlich eine ebenso große, wenn nicht größere Rolle gespielt
haben als entsprechende Strömungen in Lübeck. Seiner
eigenen richtigen These zum Trotz, daß offen bleiben müsse, in
welchem Maße Buxtehude persönlich engagiert gewesen sei,
macht der Verfasser allerdings hin und wieder den Versuch, auch
den Christen Buxtehude für die Gedanken- und Gefühlswelt des
Pietismus in Anspruch zu nehmen. Er spricht von Buxtehudes
„Beiührungspunkten mit pietistischer Frömmigkeit", im Gegensatz
zu seinen Zeitgenossen, „die auch Aria-Texte vertont haben,
weniger aus persönlichem Engagement als der Zeitströmung folgend
" (S. 36), ja er glaubt sogar, aus einigen der Vertonungen
mit Hans Henny Jahnn folgern zu können, daß Buxtehude ein „besonders
fröhlicher Mann" gewesen sei (S. 15 3). Nun ist sicher, daß
Buxtehude über die traditionelle Frömmigkeit hinaus neue, tiefere
Bereiche des Erlebens zu erschließen suchte, — aber gerade die Tatsache
, daß er doch auch sehr andersartige Texte vertont hat, und
zwar noch in seinen letzten Schaffensjahren, und daß nach Gecks
eigener Feststellung weite Ausschnitte des Buxtehudeschen Vokalwerks
„vom pietistischen Musikideal im wesentlichen unberührt"
geblieben sind (S. 116), scheint mir zu beweisen, daß es nicht so
sehr der homo religiosus als der Künstler in Buxtehude war, der
von den Texten und dem Liedideal des „frühen Pietismus" angesprochen
und stimuliert wurde.

Ebensowenig vermag der Rezensent zu verschweigen, daß er
ernste Bedenken gegen die Kennzeichnung der mystischen Strömungen
des 17. Jahrhunderts als „Frühpietismus" hat. Geck sagt