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Ausgabe:

1966

Spalte:

376-377

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Einwände gegen das Christentum 1966

Rezensent:

Hummel, Gert

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 5

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ist, bewahrte" — als ob das dasselbe wäre wie „gegenwärtig erhalten
" — und S. 48 spricht er von „mehreren Gegenwarten".
Das Problem der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses, nicht der
„Eltern, Lehrer und Pfarrer" (44) sondern der apostolischen und
exegetischen Überlieferung bleibt daher außer Betracht. Kap. 9
„Der Glaube der Gegenwart" spricht eher vom Inhalt als der Art
des Glaubens. Der Glaube an Christi Wandeln über den See ist
nicht auf das „Glauben an Christus" (73) sondern auf das den
Evangelisten Glauben zu beziehen; damit hat es Bultmann zu
tun.

Vor allem fehlt Vs. Unternehmen die Unterscheidung zwischen
substantiellem und funktionellem Begriff von „Wahrheit"
und „Wirklichkeit". Wenn es heißt: „Bultmann erklärt ,Ich gebrauche
den Begriff Mythos in dem Sinne, wie er in der Geschichtsund
Religionswissenschaft üblich ist', und in eben dem Sinne setzt
er also, ohne weitere Prüfung, den Gegenstand dieses Begriffs als
unwahr voraus" (59), so ist zu fragen, ob „unwahr" hier heißen
soll: „nicht einer Tatsache entsprechend" oder „der existentiellen
Tiefe entbehrend". Und wenn es heißt: „Fortschritt geht immer
fort vom Mythos zur Realität, aber so stolz er sich über die .Unglaublichkeit
des Mythos' erhebt, so ahnungslos versinkt er wieder
in einem neuem, in seinem eigenen Schein, einer Unwirklichkeit"
(55), so wird unter „Realität" doch offenbar das Äußere, unter
„(Un)wirklichkeit" das Innere verstanden. Mangels letzterer
Unterscheidung sind Vs. Bemerkungen zum Begriff der Wissenschaft
unzureichend (47), was ein Vergleich seiner Kritik mit der
von Jaspers an Bultmann geübten besonders deutlich macht. Indem
V. dementsprechend nicht erkennt, daß der substantielle Wahrheistbegriff
horizontal („Richtigkeit"), der funktionelle vertikal
(„Tiefe") ist, kann er die Bedeutung von Bultmanns „Stockwerksmetapher
" (Kap. 12) nicht verstehen.

Diese Einschränkungen sind zu machen, weil im übrigen diese
Schrift durch ungewöhnliche Gewissenhaftigkeit im Terminologischen
ausgezeichnet ist. Ausgehend von Bultmanns Bezug auf
Heidegger (Kap. 1) wird der Unterschied von „existentiell" und
„existential" diskutiert (Kap. 2). Wer sich aus der Jugend der
Existenzphilosophie das enthusiastische Leiden an dem Unterschied
zwischen Objektivem und Existentiellem bewahrt hat, der muß
sich heute oft wundern, wie Kategorien des existentiellen Bewußtseins
gebraucht werden ohne Rücksicht auf jene Ausgangsunterscheidung
. Mit Recht weist V. auf „die fixierte und fixierende und
darum magische Rolle, die das Wörtchen .existential' in der
Debatte der Theologie spielt" hin, aber ist diese „Debatte" heute
nicht voll von solchen „Wörtchen"; ich nenne nur „gegenwärtig",
„wirklich" und „lebendig" (175)? Bei der Bestimmung des Ver-
hältnises zwischen „existentialer Interpretation" und „Hermeneutik
" kann sich V. auf seine Philokenntnis beziehen. Der Begriff
„Entmythologisierung" wird einer sprachlichen Analyse unterzogen
, an deren Ende sich V. gegen den Vorwurf verwahren muß,
er „wolle Bultmann lächerlich machen" (23). Es werden „mythische
Zeitbegriffe" erörtert (Kap. 7), wie „Ganzheit der Weltgeschichte"
(ausgehend von „Erbsünde"), „Erfüllung" (hier wäre auch das „magische
Wort" „Heilsgeschichte" — S. 71 — anzusetzen gewesen) und
„Fortschritt" (50, mit Bezug auf Teilhard de Chardin).

Was V. selbst unter „Mythos" versteht, ist am ehesten den
beiden letzten Kapiteln zu entnehmen. Er wirft Bultmann vor,
sein Begriff sei „ein naiver Ausdruck aus der Metaphorik unserer
Sprache", nicht einmal der der wissenschaftlichen Mythologie
(75 f), geschweige denn „ein Produkt des Bewußtseins, sondern
dessen Gestalt" (71), und entwickelt den „phänomenologischen
Begriff", bei dem es sich nicht um „Vorstellungen, Meinungen,
Wertungen" handelt, die man „interpretieren kann", sondern um
„Anschauungen", bei denen sich „jeder, wohl oder übel entschließen
muß, sie selber zu machen — oder eben ganz auf sie zu
verzichten" (83). Ersteres glaubte V. als Psychiater und Religionswissenschaftler
tun zu können. Letzteres tut Bultmann, und es wäre
mindestens die Ehrlichkeit des Entschlusses zum Verzicht zu achten.

Nicht nur der Mythos sondern auch der Verzicht auf ihn ist
eine „Gestalt des Bewußtseins", deren Bedingtheit aus einer Lage
es anzuerkennen gilt. Diese Lage geht aber weiter zurück als auf
die Folgen der modernen Technik, die V. mit den üblichen Klischees
beschreibt (56). Die „Entmythologisierung" ist als entscheidender

Zug in der Weltanschauung des dritten Standes (Groethuysen) zu
begreifen. Nach V. vollzieht sie sich in folgenden Schritten (63):
1. Eliminierung des Mythischen, 2. Rationalisierung der somit
herausdestillierten „Wahrheit" und deren Objektivierung, 3. Neu-
umkleidung dieses rationalen Restes mit existentieller Begrifflichkeit
. Dieser Weg ist weit mehr als nur der Bulcmanns. Er ist der
Weg, auf dem die Theologien des westlichen Christentums sich
heute am ehesten zu einander und zur Welt hin öffnen zu können
scheinen.

Basel JohnHennig

N i e b u h r , H. Richard: Radikaler Monotheismus. Theologie de*
Glaubens in einer pluralistischen Welt. Übers, v. F. Weidner. Gütersloh
: G.Mohn [1965]. 135 S. 8°. Lw. DM 14.80.

Im Anschluß an Rudolf Bultmanns Formel vom „radikalen
Gehorsam Jesu" und Erik Petersons Verständnis des „Monotheismus
als politisches Problem" kommt der 1962 verstorbene Systematiker
der Yale Divinity School zu seinem Thema: den Nachweis
zu führen, daß wir praktisch im Konflikt zwischen dem vom
christlichen Glauben geforderten Monotheismus und einem vor-
wie nachchristlichen Heno- oder Polytheismus leben, wobei dann
im nachmythologischen Stadium der Gegenwart eine kulturelle
oder religiöse Gemeinschaft zum Gegenstand des Vertrauens und
der Loyalität gemacht wird. Sind auch die religiösen Riten und
Institutionen des Westens monotheistisch, so lassen sich in ihnen
doch zahlreiche Tendenzen zum Polytheismus oder zum heno-
theistischen Glauben feststellen. Dem radikalen Monotheismus
entspricht der radikale Glaube, der immer Glaube an eine Person
ist. Hier wird reflektiert über die Zusammenhänge von Sein und
Wert: das Sein, letztlich das Sein Gottes, ist verläßlich als Bewahrer
und Geber von Wert in einem Universum von Werten.
In Christus ereignet sich der radikale Glaube, als Beweis der
Treue des Seins zu allen Wesen und als Aufruf zur Entscheidung
für Gottes universale Sache. Niebuhr entdeckt bei einem Blick in
Geschichte und Gegenwart eine Fülle von Rivalitätsverhältnissen
zwischen Monotheismus und Henotheismus. Es geht ihm hier vor
allem um den Aufweis des Konflikts zwischen der Loyalität zu
vorletzten Gruppen und Bereichen wie Familie, Stamm. Nationalstaat
, wobei gerade beim modernen Nationalstaat der Konflikt
am schärfsten ist. Ebenso ist auch der Gedanke der politischen
Gleichheit aller Menschen religiös bedingt als Konsequenz des
Glaubens an den einen Gott, und immer wenn dieser Gedanke
verworfen wird, geschieht das aus religiösen Gründen, nämlich
weil dann der Glaube an mehrere Wertzentren aufgetreten ist.
Auch innerhalb der Wissenschaften spielt sich der Kampf der verschiedenen
Glaubensweisen ab. Auch dort gibt es die Spannung
zwischen dem Anspruch der Teilwahrheit und dem Bekenntnis zur
Universalität der Wahrheit.

Niebuhr geht es um den Aufweis der theologischen Problematik
der heutigen pluralistischen Gesellschaft, die eben darin
besteht, daß jedes Teilgebiet für sich letzte Loyalität und jede
endliche Größe unendliche Hingabe verlangt. Im Grunde beziehen
sich alle Menschen und Menschengruppen auf ein höchstes Wertzentrum
, dem sie eine innige Beziehung zum Sein zusprechen, und
das eben ist das Wesen der natürlichen Religion als Apotheose
endlicher Größen. — Das Buch geht eigene Wege der Argumentation
, ist in Partien schwierig zu lesen, stellt aber im ganzen
einen durchaus aktuellen Beitrag zu einer der wichtigsten inneren
Lebensfragen der heutigen Gesellschaft dar.

Heidelberg Heinz-Horst Sch rey

Vidier, A. R.: Einwände gegen das Christentum. Vier Cambridge1
Diskussionsvorträge, eingeleitet, u. hrsg. Aus dem Englischen übertr.
v. G. Kurzu. S. Summerer. München: Beck [1964], 101 S. 8 •
DM 6.50; Lw. DM 8.80.

Der kontinentale Theologe oder theologisch interessierte Laie
muß davor gewarnt werden, dieses Büchlein mit falschen Erwartungen
in die Hand zu nehmen. Die kirchlichen Probleme diesseits
und jenseits des Kanals scheinen sehr unterschiedlicher Natur z°
sein. So ist das Unternehmen der vier Cambridger Theologen mehr
von vergleichendem Interesse als hilfreich für unsere Situation.

Der erste Beitrag befaßt sich mit „moralischen" Einwänden.
In ziemlicher Breite liest man über die Berechtigung der Vor'