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Ausgabe:

1966

Spalte:

306-308

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Müller, Karl Ferdinand

Titel/Untertitel:

Der Kantor 1966

Rezensent:

Albrecht, Christoph

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 4

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Das .Allgemeine und Allgemeinste', das dem Verf. sich ergeben
hat, bedarf keines Eingehens, so z. B. „Die Heiligengcstalt
im Hymnus gewinnt nur durch ihr Verhältnis zur Gottheit Sinn
und Bedeutung" ; „So ist er (der mal. Hymnus) eine Art Göttlicher
Komödie im Sinne Dantes . . ."; „Der Hymnus ähnelt eher einem
Gobelin als einem Gemälde. Nur ganz wenige Hymnen sind
gemäldeartig, und sie sind die Ausnahmen." (Einl., S. 27)

Daß die Hymnen des Ambrosius am Anfang der „mittelalterlichen
Hymnendichtung" stünden, wird, wenn auch noch so
oft wiederholt (hier S. 48), darum nicht wahr. Am Anfang stehen
die Hymnen des Hilarius. Die Behauptung, daß er damit „nie die
erhoffte Wirkung in der Nachwelt erzielen konnte" (S. 70), setzt
voraus, wir wüßten, worauf er hoffte; davon abgesehen sind sie
noch 250 Jahre nach seinem Tode im Gebrauch bezeugt (633), und
nichts legt nahe anzunehmen, sie hätten die erste Hälfte des
7. Jahrhunderts nicht wer weiß wie lange überlebt.

Dafür daß Nunc sanete, Rector potens, Rerum deus von
Ambrosius verfaßt seien, liegen nicht nur „nach Simonetti keine
Beweise vor" (S. 51), vielmehr schlechthin keine. Über Jesu
Corona virginum hat G. Ghedini das Entscheidende ausgesprochen
(La Scuolia cattolica, 68, 1940, 277 f). Wie Aeterno
Christi munera sich von allen seinen echten Hymnen unterscheidet
, hat schon Beda (de arte metrica 11) gesehen. An der
immer wieder behaupteten „Volkstümlichkeit" des jambischen
Dimcters (und der sogen, ambrosianischen Strophe) scheint der
Verf. doch wenigstens zu zweifeln (S. 64).

Die Bezeichnung der Hymnen-Dichtung des Prudentius als
»romantisch" hätte er besser nicht übernommen; der Begriff ist
um das Jahr 400 übel angebracht.

Die rein chronologische Einteilung des Gcschichtsverlaufes in
Jahrhunderte läßt numerische Abschnitte, wie von 401 bis 500,
als geschichtliche Einheiten erscheinen, hier das 5. als „Das
stille Jahrhundert". Freilich wäre nach dem Verf. weder Paulinus
(Nolanus) noch Gclasius I. in der Geschichte der Hymnen-
Dichtung zu nennen (S. 97. 110). Das Zeugnis des gewissenhaften
Gennadius für Paulinus (lecit.. . et hymnorum) unterliegt keinem
Zweifel, ebensowenig, daß darunter weder die Natalicia
noch seine Psalmen-Paraphrasen zu verstehen sind. Die authentische
Bestätigung ist m. W. noch nie angeführt worden, nämlich
der Brief des Paulinus an Alypius, indem er ihn bittet: et hoc
rogo scrihas mihi, quem hymnum meum agnoveris (Härtel
P- 18), nämlich unter den übersandten, wie sich ergibt, von Alypius
erbctcnen Hymnen. Daß Gelasius I. Hymnen verfaßt hat, ist nicht
eine „in den .Ephemerides liturgicae' (und anderswo auch) enthaltene
Behauptung", vielmehr von demselben Gennadius bezeugt:
Gelasius ... iecit et hymnos in similitudinem Ambrosii
GPiscopi, quos ego legi. Der Satz des berühmten Kapitels der
Confcssiones über das institutum, hymni et psalmi ut cane-
rentur .. .: ex illo in hodiernum retentum, multis iam ac
Paene omnibus gregibus tuis et per cetera Orbis imitan-
''bus, besagt für das 5. Jahrhundert noch sehr viel mehr als die
tarnen Paulinus, Orientius (dessen 24 cantica ihm nicht bloß .zugeschrieben
' sind), Scdulius und Gclasius; dasselbe gilt von der
regula Lyrincnsis, der Cacsarius seine Vorschriften für Psalmodic
u°d Hymnodie zum größten Teil entnommen hat. Nach Gelasius
lst alsbald Ennodius (f 521) zu nennnen; das 5. Jahrhundert war
nicht „still", noch war das Jahr 500 ein Epochen-Jahr.

8 Die Hymnologic des 5. und noch der nächstfolgenden Jahrhunderte
hat vor allem sich bewußt zu sein, daß unsere mögliche
J^enntnis verschwindend ist gegenüber dem für immer Llnwiß-
"arcn, sowohl durch den Verlust eines kaum zu überschätzenden,
~as wenige Erhaltene wohl um das Vielfache überwiegenden Teils
er Texte überhaupt, wie mangels Aufzeichnungen der örtlich
Verschiedcnen Hymnarien.

Der zugestandene Raum zwingt abzubrechen. Der Verf. hat
e'bcr die Erwartungen der Benutzer seines Buches schon so weit
8edänipft (S. 7 f), daß am Ende alle weiteren Ansprüche als fehl
^•gebracht abgewiesen sind. Aber der von ihm selbst erhobene
^pruch, alle weiteren Untersuchungen hätten sich in seinen
'•Kähmen einzufügen", läßt sich, in diesem wie in allen entfachenden
Fällen, nicht aufrecht erhalten. Echte, originale Forschung
läßt sich nicht ausrichten auf ein vorentworfenes Bild.
Wichtige hymnologische Ergebnisse werden allein solche sein, die
es berichtigen, vielleicht umstürzen, nicht, die es nur en detail
ausführen würden.

Heidelberg Wnllher Bulst

Müller, Karl Ferdinand: Der Kantor. Sein Amt und seine Dienste.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1964]. 224 S. 8°.
Kart. DM 14.80.

Karl Ferdinand Müller unternimmt es, eine schmerzlich
empfundene, Lücke zu schließen, indem er das Kantorenamt in
Geschichte und Gegenwart beleuchtet. Christoph Wetzeis Beitrag
in Lciturgia IV („Die Träger des liturgischen Amtes im
evangelischen Gottesdienst") beschränkt sich im wesentlichen auf
den Apostel Paulus und Martin Luther und fordert schon deshalb
eine Ergänzung. Das gleiche gilt für Arno Werners 1933
erschienene Arbeit „Vier Jahrhunderte im Dienste der Kirchenmusik
. Geschichte des Amtes und Standes der evangelischen Kantoren
, Organisten und Stadtpfeifer seit der Reformation".

Müller fragt: „Wo hat der Kantor seinen Platz im Rahmen
der Ämter und Dienste der Kirche im Laufe der Geschichte gehabt
? Wo ist er heute in der Gemeinde anzusiedeln und welche
Aufgaben fallen ihm zu? Welche Stellung nimmt er in der Gemeinde
ein? Wo hat er seinen ,Sitz im Leben'?"(S. 11). Er vermeidet
also betont eine isolierte Darstellung eines kirchlichen
Amtsträgers, sondern bettet seine Ausführungen in umfassende
Betrachtungen des jeweiligen musik- und liturgiegeschichtlichen
Hintergrundes ein. Ausgangspunkt ist die Alte Kirche. Die
mancherlei Äußerungen des Neuen Testaments über die Ämter in
der Urgemeinde werden dabei leider nicht beachtet; eine evangelische
Besinnung über das heutige Verständnis der kirchlichen
Ämter (in diesem Falle speziell des Kantorenamtes) sollte aber
gerade hier einsetzen. Die Ausführungen über den Gottesdienst
und die Kirchenmusik von der Didache über die Apostolischen
Konstitutionen und Gregor den Großen bis zum Ausgang des
Mittelalters geben einen guten Überblick.

Der Zusammenhang vom Psalmengesang der Synagoge mit der
christlichen Psalmodie wird aufgezeigt; der Kantor als Sänger bzw. Vorsänger
im Tempel- und Synagogengottesdienst wird als Vorbild für den
entsprechenden Dienst in der Urgemeinde angesehen. Bei der Ausbildung
der kirchlichen Ämterordnung seit dem 4. Jahrhundert wird der Kantor
mehr und mehr auf den unteren Stufen dieser Ordnung, beim clerus
minor, angesiedelt, obwohl man auch zu dieser Zeit noch um den
charismatischen Charakter des kantoralen Dienstes wußte. Das Verkümmern
der Ämter des clerus minor im Mittelalter brachte für den
Kantorenberuf eine Wende: Die Entwicklung des priesterlichen Amtes
führte mehr und mehr zu seiner Alleinherrschaft in der Vielzahl der
liturgischen Funktionen. Die Folge war einerseits der Weg zur Privatmesse
, die keinen Kantor mehr brauchte, andererseits die Besetzung des
Kantorenamtes durch Vertreter des clerus major — was zu einer Steigerung
des Ansehens des Kantorats führte. In beiden Fällen bedeutet das
die Aufgabe des eigentlichen Kantorenamtes. Der aus dem Klerikerstande
kommende Kantor hatte als kirchlicher Würdenträger eigene Insignicn,
Stab und Chormantel und war meist eine gelehrte und geachtete Persönlichkeit
(z. B. Dufay, Ockeghem und Josquin). „Aus dem charismatischen
Sänger der Urgemeinde hatte sich der kirchliche Amtsträger entwickelt,
aus dem Chor der Kleriker eine kirchliche Institution." (50)

Im 13. Jahrhundert beginnt dann noch eine andere Entwicklungslinie
, die bis in die Gegenwart hineinführt: die Verbindung
von Stadt- oder Ratsschullehrer und Kantor. Der Kantor hatte im
Lehrerkollegium meist die Stelle des Konrektors. Das antike
Kulturerbe, etwa die griechischen Musikanschauungen, fließen in
den Schultraditionen des lateinischen Mittelalters in die Kirchenmusik
ein.

Luthers Neuordnung des Gottesdienstes bringt eine Neuregelung
der Ämter mit sich. Mit der Aktivierung der Gemeinde
kommt es zu einer neuen Wertschätzung von Amtsträgern, die
durch ihren Dienst die Gemeinde in einem besonderen Stück
repräsentieren. Die Liturgie gibt der Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts
das Gepräge, was nicht ausschließt, daß den Schöpfungen
dieser Zeit „ein großer Zug von Unbefangenheit und Spielfreudigkeit
" (64) eigen ist. In den ersten zwei Jahrhunderten der evangelischen
Kirche haben Kantor und Choralchor die Aufgabe, Vorsänger
der Gemeinde zu sein; der Gemeindegesang wird noch nicht