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1966

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 4

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andersetzung verdient. Pädagogisch gesehen steht das Buch auf
hohem Niveau. Diese Aufforderung müßte eigentlich an jedes
Buch über Kierkegaard gestellt werden, wenn der Leser das Ganze
nicht noch nebelhafter vernehmen soll. Viele Wörter müssen einer
speziellen Analyse und Definition unterworfen werden, und das
gilt nicht am wenigstens von dem so viel strapazierten Wort Dialektik
. Diem hat selber ein großes Buch über „Die Existenzdialektik
von Sören Kierkegaard" publiziert (1950). Ich selbst habe
in meinem Buch „Sören Kierkegaards Geschichtsphilosophie"
(1956) in zahlreichen Fußnoten erklärt, was „dialektisch" in den
verschiedenen Kontexten bedeuten muß, und das Wort kann bei
Kierkegaard beinahe alles bedeuten. Diem versucht in dem hier
erwähnten Buch sorgfältig in selbständigen Kapiteln Begriffe wie
„Die Dialektik der Mitteilung" und „Die Existenzdialektik" zu
erklären, und all dies tut er außerordentlich gut. Es wäre aber
einfacher gewesen, wenn er ganz kurz bemerkt hätte, daß „Die
Dialektik der Mitteilung" synonym ist mit „Die Methode der
Mitteilung" oder „Das Wesen der Mitteilung", und entsprechend
bedeutet „Existcnzdialektik" nur, was unter „Existenz" zu verstehen
ist.

In einem Punkt kann ich dem Verfasser nicht beipflichten,
Wo er den Streit Kierkegaards mit dem „Corsaren" erwähnt, dem so
verhöhnten und verdammten Witzblatt, das von dem jungen
Dichter Goldschmidt redigiert wurde. Wie die meisten Kierkegaard
-Forscher steht der Verfasser hier ungeteilt auf der Seite
derer, die mit Kierkegaard meinen, daß Frater Taciturnus „ein
höheres Recht" hätte. Rein moralisch hatte Kierkegaard sich einer
verhängnisvollen Indiskretion — P. L. M0ller betreffend — schuldig
gemacht. Statt mit einer Moralpredigt wurde er nun von dem
■•Corsaren" mit Witz angegriffen, und Kierkegaard, der sonst
ein Meister des Witzes war, erwiderte nicht mit Witz, sondern
fit Pathos, und damit hatte er das Spiel verloren. Die Götter
hatten ihm ja versprochen, daß er die Lacher auf seiner Seite
immer haben dürfte — und nun hatten die Götter ihr Versprechen
»icht gehalten I In Kierkegaards eigenen Schriften können die
Pseudonyme mit sich selber Spaß machen, andere aber durften es
"•cht. Da ist die Grenze für den Humor Kierkegaards.

Ein kleiner Fehler scheint S. 68 oben in der Eile entstanden
Zu sein. Diem schreibt, daß es, Kierkegaard zufolge, zwar ein
System des Seins geben könne, sofern dies, wie bei Hegel, von
dem Sein des Denkenden selbst abstrahiert, aber ein System des
Daseins könne es nicht geben. Das Letztere ist natürlich richtig —
ll|id das Erstere auch, wenn nur „Sein" mit „Denken" ersetzt
wird. Es heißt in der „Nachschrift", daß es zwar ein System des
Denkens gibt, ein System des Daseins aber gibt es nicht für einen
existierenden Geist, es gibt es nur für Gott, — der folglich nicht
Dasein haben kann, aber Sein; man könnte mit Hermann Cohen
^"•gleichen.

Es lohnt sich aber nicht, sich in Kleinigkeiten zu verlieren, es
Httß genügen, das Buch als eine instruktive und klare Introduk-
**0M in die Gedankenwelt Kierkegaards zu empfehlen.

Kopenhagen Seren Holm

^chüepp. Guido: Das Paradox des Glaubens. Kierkegaards Anstöße
f"r die christliche Verkündigung. München: Kösel [19641. 293 S. 8".
Mr. DM 28.50.

Das ist der kühne Versuch, aus dem Gesamtwerk Kierkegaards
etwas wie eine „Kcrygmatik" (Lehre von der christlichen Versündigung
) zu destillieren. Viel Positives (wenngleich nicht
l^adezu Neues) kommt da zutage, obwohl der Verfasser gegen
"fnluß dcs Buches zeigen muß, wie oft K. aus dem Christlichen
a"glcitct. Die benutzte Literatur wird auf viereinhalb Seiten ausgebreitet
; es sind zahlreiche Bücher katholischer Autoren darunter
jetwa: Haeckcr, Guardini, A. Brunner SJ, Dempf, Fries, Kuhn, de
r|W, Marcel, Peterson, Przywara SJ, Steinbüchel, um nur "die

buntesten zu nennen). Aber das soll nicht heißen, wichtige
'"'otestantische K.-Litcratur fehle völlig; im Gegenteil: oft zitiert
^Crdcn Diem und Hirsch; in den zahlreichen Anmerkungen, die

?st immer den Text zugleich bestätigen und erhellen, finden wir
[ '-'''falls uns vertraute Namen wie Künneth, Schlink, Geismar,
^ Richter, Thielicke, Trillhaas, Schütz, Fendt, Nigg. Anz, Lögstrup

"w- Auch dem Verfasser fernerstchende Autoren werden an

treffender Stelle als K.-Interpreten und Gewährsmänner herangezogen
: Adorno, Buber, Löwith, Ziegler, Jean Wahl usw.

Schon aus dieser jedwede Einseitigkeit vermeidenden Zitierfreude
ist zu schließen, daß die Katholizität dieser Predigtlehre
keine konfessionalistischen Scheuklappen kennt. Lins interessiert
aber nach so viel lauem Ja zu K.s Ansichten von der christlichen
Predigt vielmehr die negative Kritik an K.

Wir fassen diese Verneinungen, freilich ganz unsystematisch und
nicht ganz vollständig, in Thesen zusammen:

1. K. selbst kommt vom Heidentm, das er durch die Begriffe
Spekulation und Verzweillung kennzeichnet, nicht gänzlich los.

2. K. als dem großen Einzelnen ist das konkrete Verhältnis zum
Du und die konkrete Gemeinschaft nie zur existentiellen Wirklichkeit
geworden.

3. Sein Verhältnis zu Gott ist nicht ein Dialog mit Ihm, sondern
ein Monolog vor Ihm, ein Dialog mit sich selbst.

4. K.s Glaube an das Wirken des Heiligen Geistes vermag sein
Denken nicht in ganzer Tiefe zu durchdringen: „das Dialektische hat das
Trinitarische aufgelöst" (Schütz).

5. In K.s Grundkategorie des Einzelnen steckt ein „Keim der
Irreligiosität und des Rationalimus".

6. Wenngleich K. auf die Freiheit als das tiefste Geheimnis des
Verhältnisses des Menschen zu Gott hinweist, beeinträchtigt er die
Freiheit doch, indem er sie heimlich zu erklären versucht: durch den Begriff
der absoluten Forderung und von daher durch den Begriff der
wesentlich verstandenen Schuld. Damit hängt indirekt zusammen, daß
sich im Gottes- und Christusbild K.s gnostisch-mythische Züge finden.

7. K. schrickt zurück vor dem. was er die ..objektive Ungewißheit"
des Glaubens nennt, und rückversichert sich gegen das Religiöse durch
das Ethische.

8. Daß Christus deswegen leidet, weil er von den Menschen verschmäht
wird, ist viel paradoxer als das, was K. das absolute Paradox
nennt, nämlich daß Christus in die Welt gekommen sei, um zu leiden.
Dieses um zu bedeutet bereits ein Zugeständnis an die Vernunft.

9. Im Grunde ist schon K.s Idee der an den Einzelnen gerichteten
absoluten Forderung ein Postulat der Vernunft.

10. K. hat letztlich Hegels Idee des absoluten Geistes ersetzt durch
die Idee der absoluten Forderung, also anstelle der einen spekulativen
Erklärung des Christlichen eine andere gesetzt.

11. Die Erlösung durch Christus ist bei K. ausschließlich Erlösung
des Einzelnen. Daß durch die Sünde Adams die Menschheit als solche
vom Heil ausgeschlossen wurde, fehlt nämlich bei K. Damit ist zuletzt
die Erbsünde geleugnet. K. kann nur eine allgemeine ,,Erbsündigkeit"
(Hirsch) lehren.

12. Daß die Gnade gleich ursprünglich ist wie Gottes Forderung,
daß also Gott der Fordernde und der gnädig sich Herabneigende ist,
vermag K. nidit zu fassen; deshalb ist Gnade für K. wesentlich Begnadigung
.

Verwunderlich genug, wie der Verfasser trotz dieser (und
anderer) zahlreicher Negationen noch eine Kerygmatik, eine
Predigtlehre aus K.s Schriften zu eruieren vermochte; weit verwunderlicher
aber, daß dies ein römisch-katholischer Theologe
zustande bringen konnte.

Berlin Helmntli Bürgert

Beniner i Johannes: Läßt sich die Utopia des Thomas Moore ..ökumenisch
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Breton, Stanislas: La Passion du Christ et la Reflexion philosophique
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Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1966. 134 S. kl. 8° = Sammlung

Göschen, 1221. DM 3.60.