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Ausgabe:

1966

Spalte:

257-259

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Einführung in das Studium der evangelischen Theologie 1966

Rezensent:

Jüngel, Eberhard

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257

Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 4

258

Aufschrei gegen die Entleerung der Existenz, der sich in der
existentialistischen Kunst, Literatur und Philosophie dokumentiert
. In den Darstellungen der Entleertheit, Sinnlosigkeit und
Lebensangst wird der Verlust eines überzeugenden telos bewußt.
Weder die Wissenschaft noch die Technik sind fähig, ein telos,
ein inneres Ziel des menschlichen Seins, zu geben. Diese Situation
ist besonders gut in asiatischen Ländern wie Japan zu beobachten,
wo nach dem Eindringen der westlichen Welt die dringendste,
überall erhobene Frage die Frage nach dem telos ist. Die alten
Antworten haben für die meisten Menschen ihre Gültigkeit verloren
, die neuen Antworten kommen in der Form des heutigen
westlichen telos zu ihnen, das, wie schon ausgeführt, ein innerer
Widerspruch und daher kein echtes telos ist. Bewußtseinsspaltung,
Indifferenz gegen alles Fragen und Desintegration sind die Folgen.

Wenden wir uns jetzt unserem speziellen Thema zu, so
müssen wir uns auf drei wichtige wissenschaftliche Ereignisse beziehen
, die im letzten Jahrhundert Wandlungen im Selbstverständnis
des Menschen bewirkt haben. Sie haben negativ und positiv
gewirkt. Einerseits haben sie die Situation verschärft, das heißt
den dritten in sich widerspruchsvollen feJos-Begriff gestützt,
anderseits haben sie dazu beigetragen, ihn zu erschüttern.

Die wissenschaftlichen Ereignisse sind: die Theorie der Evolution
, die Wiederentdeckung des LInbewußten und der mechanistische
, reduzierende Behaviourismus. Die Theorie der Evolution,
die gerade vor 100 Jahren aufkam, traf wie ein Schock das traditionell
-theologische Selbstverständnis des Menschen, und nicht
nur das theologische, sondern auch das humanistische. Sie schien
den Menschen in ein zufälliges Produkt eines sinnlosen Universums
zu verwandeln und ihn seiner Größe und seiner Würde zu
berauben. Der Schock verschwand, als die Auffassung sich durchsetzte
, daß die Theorie der Entstehung des Menschen noch nichts
über sein Wesen aussagt. Und im weiteren Verlauf erkannte die
Theologie sogar, daß die Evolutionslehre dem Symbol der Schöpfung
, nämlich der klassischen Lehre von der kontinuierlichen
Schöpfung der Welt durch Gott, viel angemessener ist als die Vorstellung
von einem höchsten Wesen, das den Weltprozeß erschafft,
sieh dann zurückzieht und gelegentlich später wieder in ihn eingreift
. Das Selbstverständnis des Menschen als einer ihrer Kreatür-
lichkeit sich bewußten Kreatur wurde durch die Theorie der Evolution
nicht negiert, sondern vertieft. Man lernte wieder, was
frühere Generationen unter dem Eindruck der Galileischen und
^ewtonschen Physik und Astronomie hatten lernen müssen: daß
die religiöse Dimension, die Dimension dessen, was uns unbedingt
angcht, nicht vermengt werden sollte mit dem Bereich methodischer
Erkenntnis der endlichen Wirklichkeit, wie sie der Wissenschaft
entspricht.

Der zweite Schock, der das Selbstvcrständnis des Menschen
traf, ereignete sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
durch den Einfluß der wissenschaftlichen Wiederentdeckung des
a'ten philosophischen Begriffs des Unbewußten. Die Art, in der
das in dem Werk von Sigmund Freud geschah, bewirkte deshalb
e'nen Schock, weil erstens die sittlichen Konsequenzen, besonders
Jj'e sexualethischen, gefährlich erschienen, zweitens weil Sigmund
£reud seine Entdeckung mit stark antireligiösen Gedanken verband
und drittens, weil vor allem die moralistische bürgerliche
Gesellschaft die Entdeckung ihrer unbewußten Motive nicht erjagen
konnte. Es war besonders dieser letzte Punkt — die Entdeckung
des ideologischen Charakters der bewußten menschlichen
"andlungen —, der schließlich trotz allem Widerstand das Selbst-
Verständnis des Menschen im 20. Jahrhundert wandelte. Es ist

wichtig, darauf hinzuweisen, daß die gleiche Analyse ein halbes
Jahrhundert vorher vom früheren Marx in bezug auf die Gesell-
schaftszusammenhänge gemacht worden war. Und es muß ferner
darauf hingewiesen werden, daß die existentialistischen Analysen
der menschlichen Situation in dieselbe Richtung gehen und sich
oft mit Freudschen und Marxschen Ideen verbinden. Das Resultat
dieses schweigenden Bündnisses von Existentialismus und moderner
Psychoanalyse war erstens, daß die existentialistische Literatur,
Kunst und Philosophie in all ihren Formen in enger Zusammenarbeit
mit der Psychoanalyse stand und eine Fülle ihrer Ideen in
sich aufnahm; zweitens, daß heute das existentialistische Selbstverständnis
des Menschen als philosophische Grundlage in die
Psychotherapie hineingenommen worden ist und drittens, daß die
Wandlung im Selbstverständnis des Menschen, die auf diese Weise
hervorgerufen wurde, der religiösen Auffassung der menschlichen
Situation zu neuer Bedeutung verhalf.

Ein dritter Einfluß der Wissenschaft auf das Selbstverständnis
des Menschen übte der „reduzierende Behaviorismus" aus, d. h.
eine Auffassung vom Menschen, bei der alles, was im Menschen
geschieht, auf letzte materielle Elemente und ihre Bewegungen
reduziert wird, sowohl im Physikalischen wie im Psychischen,
wobei oft das Psychische auf das Physikalische zurückgeführt wird.
Die theoretische Grundlage dieser Gedanken ist die Lehre von
den bedingten Reflexen, die praktische Anwendung ist das soziale
und psychologische Manipulieren, das, was mit dem englischen
Wort „social engineering" gemeint ist, d. h. den Menschen in ein
Maschinenteil verwandeln und ihn dann manipulieren. Aber der
eigentliche Grund für solche Haltung liegt tiefer, er liegt in dem
dämonischen Element, das wie in allen Dingen so auch in der
Wissenschaft erscheint, nämlich in dem inneren Zwang, alles, dem
sie begegnet, in ein Objekt zu verwandeln, das im Moment der
Beobachtung nichts anderes als ein Objekt ist. Notwendigerweise
gibt es bei jeder wissenschaftlichen Untersuchung ein Objekt, das
dem forschenden Subjekt gegenüberstehen muß, damit Forschung
überhaupt möglich wird. Je weniger Subjektivität, je weniger
spontane Reaktionen ein Seiendes hat, desto genauer kann es
analysiert werden. Das hat oft dazu geführt, daß man alle Dinge
als bloße Objekte angesehen hat, als Dinge, die allseitig und in
jeder Beziehung bedingt sind. Dann wird das Universum mit dem
Menschen in ihm zu einer Summe von Dingen, die man analysieren
und manipulieren kann. Das logische Objekt ist zum ontischen
Objekt geworden. Aber die wichtigste Frage bleibt unbeantwortet,
die Frage nämlich: Wer kontrolliert psychologische Manipulationen
und „social engineering"? Auch die Wissenschaft kann diejenigen
nicht zu bloßen Objekten machen, die die Träger der Wissenschaft
und ihrer Anwendung sind. Und diese Ausnahme genügt, um jedes
Verständnis des Menschen unmöglich zu machen, das auf reduzierenden
Behaviorismus gegründet ist. Ein Behaviorismus, der
das nicht nur indirekt und gegen seinen Willen, sondern offen
anerkennen würde, wäre nicht länger ein „reduzierender" Behaviorismus
.

Aus all dem geht hervor, daß keines der drei großen wissenschaftlichen
Ereignisse der letzten hundert Jahre einer humanistischen
Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Menschen im
Wege steht. Und ich schließe mit der Hoffnung, daß der immer
wachsende Protest gegen die Entmenschlichung des Menschen nicht
durch Wissenschaft und Technik, sondern durch ihre Absolutsetzung
in Theorie und Praxis bald mehr als ein Protest werden
möge: der Sieg eines Selbstverständnisses des Menschen, das alle
Dimensionen der vieldimensionalen Einheit, die der Mensch ist,
in Betracht zieht.

ALLGEMEINES

°"ren, Rudolf: Einführung in das Studium der evangelischen Theorie
. Unter Mitarb. v. M. Linz, R. Bach, G. Eichholz, J. Moltmann,
K-G. Steck, E.Wolf hrsg. München: Kaiser 1964. 183 S. 8°. Kart.
DM 9,_.

y Das Buch füllt trotz mehrerer dem Studenten zugänglicher
^eröffcntlichungcn gleichen Themas, auf die im Vorwort vom
rsg. ausdrücklich hingewiesen wird, eine Lücke. Und es füllt sie
Sieben Fachvertreter geben knappe Einführungen in ihre Disziplinen
. Dabei gewinnt der Leser einen Einblick in die gegenwärtige
Problematik der fünf Hauptfächer der evangelischen Theologie
und darüber hinaus in Probleme der Missionswissenschaft,
Ökumenik und Philosophie. Jeder Beitrag ist in sich geschlossen,
weist aber zugleich jeweils auf den Zusammenhang mit den anderen
Disziplinen der Theologie hin. Dem Studenten wird also der Weg
zum Detail und zur Einheit in der Theologie gewiesen. Voraussetzung
dafür ist freilich eine gewisse Übereinstimmung in der
Grundintention theologischen Fragens und Arbeitens. Im Rahmen
dieser Übereinstimmung heben sich dann die einzelnen Beiträge