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Ausgabe:

1966

Spalte:

253-258

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

Wie hat die Wissenschaft im letzten Jahrhundert das Selbstverständnis des Menschen gewandelt? 1966

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 4

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Fertigung und Heiligung. Weil die menschliche qualitas in der
Rechtfertigung durch den Glauben anders wird, kann Gottes
Willen entsprochen werden. Schließlich ist der Zusammenhang
von Schöpfung und Christologie zu bedenken. Wir könnten, wie
W. Eiert, reden vom Ethos im Reich der Schöpfung und vom
Ethos im Reich der Gnade. Das ist aber nicht vor allem aus-
einandcrzuteilen, sondern auch zusammenzusehen. Der Zusammenhang
von Schöpfung und Christologie-Soteriologic meint die Verbindung
von Humanuni und Christianum. Nach der Heiligen
Schrift geht es um den Menschen nach Gottes Willen, somit um
das Humanum unter dem Aspekt des Christianum. Das Humanum
wird nicht zerstört vom Christianum, auch nicht „überhöht". Es
wird in das rechte Licht vor Gott gerückt und kommt durch den
Glauben unter die Anwaltschaft des Geistes. Es ist eine weitgehende
Unterscheidung, ob das Christianum für die V e r b i n d-
' i c h k e i t einer Ethik behauptet oder für das Gelingen
wirklicher Menschlichkeit verstanden wird in der Kraft des Heiligen
Geistes, dessen „Erstlinge" (Jak. 1,18) die an Christus
Glaubenden sind. Der Ursprung des Ethos steckt nicht im
Neuen Testment, aber dort findet das Gesetz seine Erfüllung
durch die Liebe. Der von Gott in Christus bereitete Weg, in der

geschenkten Gemeinschaft mit ihm durch den Glauben das Gebot
zu hören, zu verstehen und zu befolgen, ist das Neue. Durch
Gottes Eingreifen findet das Humanum zum Christianum. Gewiß
so, daß das Christianum erst den Weg zum wahren Gehorsam
eröffnet und dabei das bloße Humanum in seinem Sündersein
aufdeckt, aber es schließlich aus der neuen Qualität des geschenkten
Glaubens in einer gerichteten und heilgemachten Menschlichkeit
gehorsam wird.

Die Frage nach dem Gehorsam erweist sich als die Frage
nach Gottes Willen, den er als Schöpfer in seinen Zeugnissen
dem Geschöpf kundtut, und nach der Erfüllung seines Willens.
Wie weit Gotte6 Wille gehört und befolgt werden wird und
inwieweit nicht, das entzieht sich menschlicherseits zwar endgültiger
, aber nicht völlig einiger Einsicht. Die Begegnung mit
Gottes Willen weckt jedenfalls den Sinn für die Wirklichkeit von
Sünde und Vergebung. Die Erhellung des Glaubensweges im
Gehorsam unter der Vergebung ist für die gegenwärtige Besinnung
zur Krise des Ethischen ein Anliegen, bei dem der umfassende
Zusammenhang, in den die Frage nach dem Gehorsam
gehört, für die gegenwärtige Theologie und Ethik neu zu
sprechen anfängt.

Wie hat die Wissenschaft im letzten Jahrhundert
das Selbstverständnis des Menschen gewandelt?*

Von Paul T i 11 i c h f

Als erstes möchte ich fragen, was unter den zentralen Be- tigsten Beiträge der Wissenschaft aus den letzten hundert Jahren

griffen des Themas zu verstehen ist. Zuerst das Wort Wissen- zu nennen, wenn auch innerhalb eines umfassenden Rahmens. Lind

Schaft: Ich verwende es in dem Sinne, daß es jede Form von weiter: Was bedeutet das Wort: Selbstverständnis des Menschen?

'"ethodisch-erkenntnismäßigem Ergreifen der Wirklichkeit umfaßt. Es ist die Antwort auf die Frage nach dem telos, dem inneren

Nicht nur alle Naturwissenschaft und Soziologie, sondern auch Ziel jedes Lebensprozesses. Ich werde das griechische Wort

demente der Geschichtsschreibung und der Philosophie sind mit telos gebrauchen und meine damit die innere Gerichtetheit alles

Angeschlossen. Darüber hinaus entsteht die Frage, ob auch die menschlichen Seins. Es ist nicht Willkür, daß ich dieses in der

Praktische Anwendung der Wissenschaft in allen Bereichen mensch- klassischen und vor allem spätantiken Welt wichtige Wort hier

''eher Kultur noch zur Wissenschaft zählen kann, also auch die einführe, um unsere eigene Situation verständlich zu machen. Ich

durch die Wissenschaft entwickelte Technik. Ich glaube, daß im Zu- tue es, um die Mißverständnisse zu vermeiden, die mit den deut-

Sarnmenhang unserer Frage der Einfluß der von der Wissenschaft sehen Worten „Ziel" und „Zweck" unausweichlich verbunden

geschaffenen technischen Wirklichkeit nicht unbeachtet bleiben wären. Zweck hat den Beiklang von einem Ziel, das über den

*ann, sicherlich nicht bei der Jahrhundertfeier eines großen Insti- Lebensprozeß hinausgeht, das nicht unmittelbar im Lebensprozeß

uts für Technologie. Eine dritte Frage bezieht sich auf den Aus- selbst enthalten ist. Telos jedoch ist das mit dem Sein selbst ge-

^uck „Selbstverständnis des Menschen". Man muß fragen: welcher gebene innere Ziel, das vielleicht am klarsten in der Aristotelischen

Renschen oder welches Menschen? Die Antwort darauf lautet: Neubildung entelechia zum Ausdruck kommt. Telos ist das, was

?« wenigen Menschen, die in ihrem Selbstverständnis von den jedem einzelnen Ding die Gerichtetheit seines Seins und seines

Wissenschaften direkt, und weiter: der vielen Menschen, die durch Lebensprozesses gibt, das, wohin die gegebene Natur eines Dinges

■c technische Anwendung der Wissenschaften indirekt beeinflußt führt oder zum mindesten treibt. Jeder Baum zum Beispiel wird,

ind Wenn wir das Thema so weit fassen, dann ist unmittelbar angefangen vom Stadium des Samens und weiter während seines

c"tlich, daß es sich um Menschen in allen sozialen Klassen und ganzen Lebensprozesses zu jener inneren Seinsmächtigkeit geleitet,

i eVte auch in allen Kulturen und Nationen handelt, sowohl der dje der verwirklichte Baum in sich trägt, eine Mächtigkeit, die uns

uitiviertesten, zum Beispiel in Asien, als auch der primitivsten, beeindruckt, wenn immer wir einen Baum als Baum anblicken.

Beispiel in Afrika. Überall hat die Realität der technischen

Welt das Verständnis, das der Mensch von sich selber hatte, ins Was aber ist in analoger Weise das telos des Menschen? Mit

Banken gebracht oder bereits fundamental verändert. Aber es dieser Frage soll sich unsere heutige Betrachtung beschäftigen. Es

niuß auch eine Einschränkung gemacht werden: Es gehören keines- ist die Frage, um die sich in der westlichen Welt Philosophie und

^fgs alle Menschen zu dem in unserem Thema genannten Men- Theologie von Anbeginn an bemüht haben. Drei grundlegend ver-

"n, nicht einmal die Mehrzahl der Menschen. schiedene Antworten sind darauf gegeben worden. Alle drei sind

c , .. , . . . i .. i , heute noch wirksam, aber nur die dritte stammt aus der modernen

Wor* ■ ct,a, . ^ 5 T" .. i einschränkenden Zcjt das heißt aus den ,etzten 500 Jahren innerhaib der Geschichte

orte im Titel „im letzten Jahrhundert , die sich auf den An aß des Westens. Es ist die Zejt_ in der im Westen Wissenschaft und

einio i YcrsammlunS, ^ziehen. Aber das Jahr 1961 und selbst Tcchnik vorherrschend wurden.
q 'ge Jahrzehnte vorher oder nachher haben nur eine begrenzte

Deutung innerhalb der gesamten Wirkung der Wissenschaft auf Die erste Definition des Begriffs telos ist die klassisch-
jr? Selbstvcrständnis des Menschen in der Geschichte der west- griechische: Das innere Ziel des Menschen ist die Aktualisierung
ldlen Kultur gehabt. Dennoch beabsichtige ich, einige der wich- seiner Potentialitäten, die Verwirklichung des ihm wesenhaft
---- Möglichen. Um das zu erreichen, muß er jene Entstellungen seiner

• fvi ,,„ ... .11^ i , Natur überwinden, die Folgen von Irrtum und Leidenschaften

) Übersetzung von: How has Science in the last Century changed ■ j rv t c ■ j . i„i„„ j.- u_ -j___ i u j- u

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des Massachusetts Institute of Technology in Cambridgc/Mnss. am Heraklit und Sokrates sie blieb wirksam bis zu den Stoikern und

sch ■f — Unwesentlich gekürzter Vorabdruck aus dem demnächst er- Epikureern. Sie ist auch heute noch lebendig, von neuem belegt

einenden MI. Band der „Gesammelten Werke" von P. Tillich. Evang. durch die Renaissance und durch die klassische deutsche Philoso-

agswcrk Stuttgart. — Mit freundlicher Erlaubnis des Verlages. phic und Dichtung, und sie ist noch wirksam in Menschen, die im