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Ausgabe:

1966

Spalte:

232-233

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Schwerin, Hans Joachim

Titel/Untertitel:

Die systematische Position der gegenwärtigen Theologie gegenüber dem Naturrecht 1966

Rezensent:

Schwerin, Hans-Joachim

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 3

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natürliches Wesen den Weg zu Gott sucht, sondern Gott sein Erlösungswerk
, das auf den völlig in Frage gestellten Menschen gerichtet ist, allein
ausübt. Ausführlich wird analysiert, wie die hier angedeutete Entwicklung
Ton einer Schrift zur anderen klarer hervortrat und eine fortschreitende
Distanzierung sowohl von den idealistischen als auch von den realistischen
Strömungen jener Zeit brachte.

Dabei wird diese Entwicklung stets in den Zusammenhang des
Lebensganges von St. gestellt. Zum Beispiel wird gezeigt, daß sie Steffens
zu einer Abgrenzung gegen Schleiermacher, dessen bester Freund er war,
führte. Obwohl er diesem menschlich verbunden blieb, sah er sich genötigt
, dessen theologischen Ansatz in harter Auseinandersetzung als
einen gnostischen abzulehnen. Gleichzeitig setzte er der Union zwischen
den lutherischen und reformierten Kirchen, die von Schleiermacher gefördert
worden war, die Vorstellung einer Union, die auf bedingungslosem
Glauben beruhe, entgegen. Auch wird geschildert, daß ihn seine
philosophische Entwicklung zur Verselbständigung gegenüber Schelling,
mit dem er ebenfalls zeit seines Lebens befreundet war, führte. Hatte er
einst an dessen Seite gestanden und als Empiriker zusammen mit ihm die
neuere Naturphilosophie begründet, so hat er später bei seiner Suche nach
dem neuen Grundtypus des Erkennens den von Schelling vertretenen
Grundtypus als geistige Selbsttat verworfen. Dargestellt wird weiterhin,
daß Steffens von seiner Wahrheitserkenntnis her jeweils zu politischem
Engagement gelangte. Wenn er im Februar 1813 durch eine spontane
Ansprache an seine Breslauer Studenten zu demjenigen wurde, der die
Erhebung des Volkes zum Freiheitskrieg gegen Napoleon einleitete, so
lag dieses Auftreten begründet in seinem philosophischen Wollen. Ebenso
waren es später folgerichtige Äußerungen seines Erkenntnisstandpunkts,
wenn er ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung gegen die Verherrlichung
des Deutschtums sowie des Turnens auftrat und schließlich als
Wortführer der Lutheraner, die in ihrer Selbständigkeit bedroht waren,
dem preußischen König anbot, auf seine Professur zu verzichten und das
Land zu verlassen.

Steffens hat bei größter Intensität des inneren Erlebens eine Ent-
widclung durchlaufen, die mitzuverfolgen geradezu erregend ist. Aus dem
Kreis der frühen Romantiker in Jena herkommend, hat er einen höchst
bedeutsamen Weg zurückgelegt. Als Naturwissenschaftler und Philosoph
ist er im Alleingang, ja im Widerspruch zu allen, die ihn umgaben, dahin
gekommen, das Erkennen auf den lutherischen Glauben zu gründen. Bis
in die Gegenwart hinein scheint es keinen Denker zu geben, der das
Erkennen an eine so weitgehende Überwindung der menschlichen Eigenmächtigkeit
bindet, wie er es tat. Hat er darüber sein Ziel. Vernunft und
Offenbarung zu vereinigen, erreicht? Nun, er wußte selbst, daß er es
nicht tatsächlich erreichte, und spürte sogar deutlich, daß ihm hierfür
bestimmte Denkmöglichkeiten fehlten. — Will man dazu übergehen, sein
Werk zu beurteilen und wirklich auszuwerten, so muß man allerdings
eine Vorbereitung treffen. Man muß einen theologischen Standpunkt, der
Steffens' Anliegen aufnimmt, erarbeiten. Es genügt nicht, daß man das
Werk etwa von einem Glaubensstandpunkt, der das Erkennen noch ausklammert
, her lediglich ablehnt. Zur Vorbereitung der Beurteilung wird
daher eine Untersuchung zum Problem Vernunft und Offenbarung geführt
, bei der der evangelische Glaube dazu kommt, das Erkennen zu
bejahen (248—310). Dabei sollen die Schranken, die noch für Steffens
bestanden, überwunden und neue Denkformen aufgetan werden. Hierzu
aber wird die eingangs erwähnte Richtung, die christliche Verkündigung
selbst für das Erkennen zu gewinnen, eingeschlagen.

Begonnen wird mit der Gesetzesverkündigung. Indem gezeigt wird,
wie die moderne Naturwissenschaft die Situation des Menschen vor dem
Naturgesetz aufdeckt, wird versucht, die Gesetzesverkündigung gewissermaßen
in ihrem Weltaspekt zu erfassen (251—276). Es folgt dann die
Gnadenverkündigung. Sie wird auf die ermittelte menschliche Situation
bezogen. Indem sie hierbei auf die Welt der Sinne angewendet wird,
erfährt sie ebenfalls eine bestimmte Entschränkung. Und zwar wird
zunächst der Appell, den Glauben anzunehmen, behandelt. Er wird erweitert
zu der Aufforderung, ein auf den Glauben gegründetes Erkennen
zu üben (277—292). Dabei werden die Strukturen dieses Erkennens als
christlicher Grundtypus begrifflich entfaltet. Schließlich wird auch die
Verheißung, die dem Glaubenden zuteil wird, auf das Erkennen bezogen
(292—302). Sie wird auf die Situation des Menschen, der sich um das
neue Erkennen bemüht, in Anwendung gebracht. Auf diesem hiermit nur
kurz angedeuteten Wege wird also versucht, vom evangelischen Glauben
her den Bereich der Sinneserfahrung aufzunehmen.

Wenn dann abschließend von dem so erarbeiteten Standpunkt aus
die eigentliche Beurteilung des Werkes Steffens' vorgenommen wird
(311 ff), kann diese nur so beschaffen sein, daß sie sich ihrerseits in der
Redeweise der Verkündigung vollzieht. Am Anlaß des Werkes Steffens'
wird daher der Mensch der Gegenwart verkündigend angesprochen.
Hierbei wird zuerst aufgedeckt, inwiefern Steffens' philosophischer
Ansatz — sogar in seiner reifsten Ausbildung — vor dem Naturgesetz
keinen Bestand hat. Ist dadurch geklärt, daß man sich mit diesem Ansatz
nicht zufriedengeben darf, so folgt danach der Appell, ein Erkennen, wie

es Steffens eigentlich vorgeschwebt hat, zu verwirklichen. Und zwar soll
das Erkennen nun den christlichen Grundtypus annehmen und dadurch so
beschaffen sein, daß der Gott der Gnade als der allein Wirkende und
allein Offenbarende begriffen werden kann. Endlich wird demjenigen, der
sich um ein solches Erkennen bemüht, die zur Verkündigung gehörende
Verheißung zugesprochen. Ihm wird eine Verheißung zuteil, die sein
persönliches Weltverhältnis betrifft und die gleichzeitig sogar für das
philosophische Wollen Steffens' eine Erlösung einschließt.

Schwerin, Hans-Joachim: Die systematische Position der gegen'
wärtigen Theologie gegenüber dem Naturrecht. Diss. Halle 1964. 159.
XIII S.

Die gegenwärtige Theologie steht den nach 194 5 verständlichen
Naturrechtsdeutungen meist kritisch gegenüber. Nur E. Brunner hat das
Naturrecht systematisch zu begründen versucht, obwohl er die grundlegenden
philosophischen Problemstellungen, sowie die Frage nach dem
Verhältnis der Schöpfung zur Wesenssünde nicht eindeutig beantwortet.
Versuchen wir die antinaturrechtlichen Argumente der gegenwärtigen
Theologie zu sammeln, so ergibt sich ein antinaturrechtliches philosophisches
und theologisches System, das im Folgenden beschrieben werden
soll.

Das philosophische System, für das u. a. H. Thielicke, Kl. Ritter und
J. Ellul anzuführen sind, gründet sachlich in Kants Ablehnung der Erkennbarkeit
des transzendenten Ding an sich. Daraus folgt die Ablehnung
allgemeingültiger ethischer Normen und Werterkenntnisse, die R«'a'
tivierung des ethischen Apriori, die Formalisierung des suum cuique, des
Personbegriffs, sowie der Grundrechte.

Das theologische System antinaturrechtlicher Art gründet in der
einseitigen Fassung des Schöpfungsbegriffs, welcher für die ercatio ex
nihilo aufgespart wird, die creatio contisua wird abgelehnt (Barth.
Thielicke u. a.). Jegliche schöpfungsmäßige Relation Gottes zu seinem
ebenbildlichen Geschöpf wird entweder formalisiert (Barth) oder überhaupt
abgelehnt (Thielicke). Der Gottesebenbildlichkeitsbegriff wird
entweder unter der Voraussetzung christozentrischer Maßgaben a's
formale Schöpfungsrelation gestaltet oder aber mit der Glaubcnsrclation
zu Christus geradezu identifiziert. Der Mensch wird jenseits der
Christusrelation unter dem vorwiegend hamartiologischen Aspekt gc'
sehen, welcher die Möglichkeit der Erkenntnis absoluter Werte überhaupt
ausschließt. Hamartiologische und empirisch-relativierende Gesichtspunkte
begegnen einander.

Trotz der überwiegend antinaturrechtlichen Position der gegenwärtigen
Theologie wird bei einigen Vertretern das Naturrecht teilweise
anerkannt. Es habe die heuristische Funktion einer nach absoluten
Normen fragenden Problemstellung zu erfüllen, es habe als Phänomen die
Frage nach der Geltung und dem Gehalt des Rechts offenzuhalten. Es
sei überhaupt als Hinweis auf eine transzendente Ordnung zu deuten
(Thielicke, Ellul, Ernst Wolf u. a.). Daß mit der teilweisen Anerkennung
des Naturrechts systematische Positionen philosophischer und theologischer
Art implizite angesprochen sind, welche von den antinaturrechtlich
orientierten Aspekten der jeweils explizierten Systematik her gar nicht
erlaubt sind, und also Widersprüche entstehen, ist offenbar.

Die eigene Position versucht gegenüber der philosophisch begründeten
Naturrechtskritik die folgenden Gesichtspunkte geltend zu machen:
Die von der Wertethik (Scheler, Hartmann) entdeckte Erkenntnis apriorischer
Wertmaterien impliziert den Charakter einer nur rezeptiven
Unmittelbarkeit, die die Anwendung des in erkenntnistheoretischen
Überlegungen bedingten Schemas .Subjekt—Erscheinung—Objekt' auS'
schließt. Damit ist auch die These der Unerkennbarkeit des transzendenten
Ding an sich im Bereich der ethischen Werterkenntnis irrelevant.

Die bloße Phänomenalität ethischer Wertmaterien verbürgt n'^l[
deren Allgemeingültigkeit, die dennoch begründbar ist. Wie Kant naen
den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt, womit er indirekt
Allgemeingültiges intendiert und den Erfahrungshorizont transzendiert.
so frage ich nach den Bedingungen der Möglichkeit der Gemeinschaftsentfaltung
überhaupt. Es erweist sich, daß ohne ein Mindestmaß ethischer
Werterfüllung keine Gemeinschaftsgestaltung möglich ist. Folglich sin"
ethische Wertgehalte theoretisch als Voraussetzung, empirsch als Strukturelement
gemeinschaftlichen Lebens zu deuten, welchen darum Unbedingt'
heit eignet. Analog kann nur das verantwortet werden, was ethischen
Wertgehalten entspricht, weshalb auch in dieser Beziehung die ethisch1-
Allgemeingültigkeit erfaßbar ist.

Dies gilt für alle Wertgehalte, auch für den Gerechtigkeitswert, der
im ,suum cuique' und im .neminem laedere' indirekt als Gehalt de
Freiheit die Personachtung begründet. Dieser Naturrechtsbegriff lä"
sich in gesellschaftlich unterschiedlichen Verhältnissen nachweisen.

Die eigene Position versucht gegenüber der theologisch begründeten
Naturrechtskritik folgende Gesichtspunkte festzuhalten: Die Folgewirkung
der Gottesebenbildlichkeit ist nach Gn. 1, 28 die menschliche Herrschaft'