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Ausgabe:

1966

Spalte:

187-188

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Christian

Titel/Untertitel:

Gottes Gerechtigkeit und Gottes Volk 1966

Rezensent:

Michel, Otto

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187

Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 3

188

sich angeglichen haben, und das Verdienst reklamieren, den Weg
gebahnt und miterzwungen zu haben. Dürfen die Auguren also
lächeln, wenn sie sich begegnen? Mir scheint, so einfach dürften
wir es uns und unsern Partnern nicht machen. Kongresse mögen
demonstrieren, daß moderne Wissenschaft epidemisch um sich
greift und massenweise Spezialisten züchtet. Wo aber und wie
weit dienen sie noch dem Geist und der Wahrheit und der Sammlung
um die grundlegenden und entscheidenden Fragen statt dem
organisierbaren Betrieb, den auswechselbaren Relativitäten, der
Zerstreuung und Selbstvergessenheit? Man sollte die vorliegenden
Bände auch mit der Frage lesen, ob und wie weit in Rom Paulus
selber freigesetzt wurde oder seine Famuli sich nur in seine
Bande mitverstrickten.

Tübingen Ernst Kä s eman n

Müller, Christian: Gottes Gerechtigkeit und Gottes Volk. Eine
Untersuchung zu Römer 9—11. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1964. 116 S. gr. 8° = Forschungen z. Religion und Literatur d. Alten
u. Neuen Testamentes, hrsg. v. E. Käsemann u. E. Würthwein, 86.
Kart. DM 11.80.

Die hier vorgelegte Göttinger Dissertation, die unter dem
Einfluß E. Käsemanns entstanden ist und offenbar in seine Auseinandersetzung
mit R. Bultmann eingreift, will den Nachweis
dafür geben, daß tatsächlich der Begriff der „Gerechtigkeit Gottes"
auch den schwerwiegenden Kapp. Rom. 9—11 zugrundeliegt. Worin
E. Käsemanns und Chr. Müllers Kritik an R. Bultmann besteht,
wird am deutlichsten auf S. 24 beschrieben: Gerechtigkeit ist für
R. Bultmann ein existentialer Strukturbegriff, eine im göttlichen
Urteilsspruch eröffnete ontologische Möglichkeit der eigentlichen
Relation zu Gott. Das Recht, das der Mensch als sein Recht
durch einen Prozeß zu erlangen versucht, ist die Voraussetzung
für die Erfassung des Seins vor Gott; daß die Gerechtigkeit nach
alttestamentlich-jüdischer Tradition das Handeln Gottes für den
Menschen ist, kommt zu kurz. Damit hängt ein individualistischer
Zug in Bultmanns Theologie zusammen: die anthropologische
Zuspitzung liegt für ihn deutlich in Rom. 7, da ja Bultmanns Auffassung
von Geschichte wesentlich vom Gesetz bestimmt ist;
dagegen fällt es ihm — im Unterschied von F. Chr. Baur — schwer,
den Zusammenhang von Rom. 9—11 in das Ganze des Briefes einzuordnen
(S. 26).

In der Forschungsgeschichte findet in der Gegenwart
A. Schlatters Auffassung von „Gerechtigkeit Gottes" immer mehr
Beachtung: Gott ist in jeder Aussage, die Paulus macht, als der
Schöpfer gedacht, der den Menschen in das von ihm gewollte
Verhältnis zu sich bringt. Gerechtigkeit Gottes ist seine schöpferische
Tat (der Genitiv ist also bei A. Schlatter als Gen. subj. aufzufassen
). Die Rechtfertigung ist ebenfalls vom Vollzug des
Rechtes aus gedacht: wenn Gottes Wirken das Recht schafft, dann
wird das Verhältnis zu ihm begründet und alles Böse ausgeschieden
(S. 22). Chr. Müller stellt a. a. O. 22 fest: „Obwohl sich diese
Sätze mit ähnlichen Bultmanns berühren, hält er doch viel stärker
als dieser fest, daß des Menschen Verhältnis zu Gott immer von
Gottes Handeln bestimmt ist" (S. 26).

Gegen die Darstellung der Forschungsgeschichte Chr. Müllers
möchte ich allerdings einen sachlichen Einspruch
erheben. Indem er eben keine Forschungsgeschichte im ernsthaften
Sinn darstellt, wird nicht deutlich, daß mein Kommentar eine
Auseinandersetzung mit A. Schlatter und R. Bultmann ist, daß er
also mit Hilfe und Ausarbeitung der neuen Quellen zu den Problemen
Stellung nimmt, die bei A. Schlatters Gerechtigkeitsbegriff
vorliegen. Von A. Schlatter unterscheidet meine Arbeit die
stärkere Heranziehung von Apokalyptik und Rabbinat, auch der
Qumranquellen. Daß von da aus gesehen mein Kommentar nicht
eine Wiederaufnahme oder Abschwächung einer früheren Position
genannt werden kann, dürfte doch deutlich werden (vgl. S. 17
Anm. Ii S. 221 in der Besprechung Chr. Müllers S. 17). Ganz auffallend
bleibt allerdings, daß im ganzen Forschungsbericht ein
Gespräch mit K. Barths Römerbrief-Kommentar und seinen Ausführungen
über „Gerechtigkeit Gottes" grundsätzlich fehlt. Die
Literatur auf S. 114 erwähnt ihn überhaupt nicht mehr.

Um den inneren Zusammenhang von Rom. 1—8 zu Rom. 9—11
geht also die theologische Diskussion; dann nimmt sie allerdings

eine These meines Kommentars auf, die ausdrücklich auf S. 207
so formuliert wird: „ R ö m. 9—11 geben die Kriterien
dafür, ob Rom. 3, 21 ff (Rechtfertigungslehre)
richtig verstanden wurde". Ich habe diesen Satz auf
S. 207 1. forschungsgeschichtlich (Auseinandersetzung mit M.
Luther und der folgenden theologischen Argumentation, mit
F. Chr. Baur und seiner Erklärung, mit K. Barth, R. Bultmann und
A. Schlatter), 2. exegetisch als Norm für mein exegetisches Verständnis
von Rom. 9—11 formuliert und bin bereit, auch jetzt
noch ihn durchzuhalten. Es bleibt aber die Frage, ob Chr. Müllers
Exegese dieser exegetischen Norm genügt. Allerdings gebe ich zu,
daß eine Reihe von Besprechungen meines Kommentars überhaupt
nicht diesen Angelpunkt, auf den mir alles ankam, gemerkt hat.
Jetzt tritt er in seiner Bedeutung, wenn auch nur in einem sehr
begrenzten Rahmen, heraus. Bei mir kam es nicht nur
auf ein Gegenüber zu R. Bultmann und A.
Schlatter, sondern auf die ganze Forschungsgeschichte
an.

Vielleicht kann ich zwei Absichten Chr. Müllers als berechtigt
und auch von mir aus als theologisch legitim anerkennen:
1. ihm geht es wie mir um die Überwindung einer individualistisch
und anthropozentrisch ausgerichteten Rechtfertigungslehre. 2. auch
ihm kommt es auf ein Geschichtsverständnis an, das sich nicht
idealistisch oder romantisch von der Rechtfertigung löst und sich
in Rom. 9—11 so festsetzt, als seien Rom. 1—8 nicht geschrieben.
Weder die moderne hegelsche Geschichtsbetrachtung noch auch
eine romantische Israelverklärung — ganz abgesehen von der völlig
kritiklosen Geschichtsklitterung der allgemeinen Politik — sollten
das Recht haben, auf Rom. 9—11 sich legitim zu berufen.

Für die Exegese der paulinischen Texte sind folgende Thesen
Chr. Müllers wichtig. 1. die dtxatoovvr] ftsovin Rom. 10, 3 spricht
von der Wirkung des Christusereignisses auf das Gottesvolk, die
fj ex fieov dixaioovvt] in Phil. 3, 9 ist eine persönliche Confes-
sio des Paulus. Die übliche Definition von dtxaioovvrj ist unzureichend
: die Person ist dann früher als die ihr zukommende
Relation. Für Paulus dagegen kommt der eine Partner des Verhältnisses
nur dann zu seinem Recht, wenn auch der andere sich
diesem Recht unterwirft. Paulus blickt nicht so sehr
auf zwei Partner, sondern auf den Vorgang
zwischen ihnen. Es kommt ihm auf Rechtsverwirklichung
an (S. 74).

2. Prädestination vollzieht sich in der Wortverkündigung-
Wegen dieser Verbundenheit sind Erwählung und Verwerfung
keineswegs definitive Zustände. Der Schöpfer, nicht irgendeine
Tat des Menschen, auch nicht die Tat des Glaubens, konstituiert
das Sein des Geschöpfes. Deshalb spricht hier der Apostel den
Menschen auf seine Geschöpflichkeit, nicht auf seine Entscheidungsfreiheit
an. Paulus entzieht sich sowohl idealistischer wie
auch existentialer Interpretation: für diese ist Verantwortlichkeit
ohne Entscheidungsfreiheit undenkbar. Die paulinische Rechtfertigungslehre
ist nur als Radikalisierung des Schöpfungsgedankens
verstehbar (S. 81).

3. Die Kirche ist das wahre, eschatologische Israel (Gal. 6, 16)»
steht aber nicht in geschichtlicher Kontinuität zum irdischen
Israel. Israels Gottesvolkexistenz besteht darin, daß es diese
Gottesvolkexistenz verlieren muß. Alte Schöpfung wird durch
neue Schöpfung aufgehoben, aber die neue Schöpfung bezieht sich
auf die alte Schöpfung zurück (S. 99).

Ich halte alle drei Thesen für diskussionsreif und möchte
keineswegs ihre Gültigkeit bestreiten; sie werden durch die
Römerbrief-Exegese im Einzelnen zu bestätigen sein. Bedenke"
habe ich aber gegen den Versuch, das Schöpfungs- und Rechtsmotiv
so zur Grundlage der gesamten Konstruktion zu machen»
daß gerade hier die eigentliche Weichenstellung des Ganzen ge'
sehen wird (vor allem S. 98 die beiden Schlußabschnitte; ungena11
das Zitat Barn. 6, 13). Man fragt sich, ob nicht ein biblisch berechtigtes
Grundmotiv aus bestimmter Absicht überdehnt wird. Je"
möchte auf Richtigstellung einzelner Zitate und exegetischer Hin'
weise hier verzichten — außer dem Hinweis, daß seltsamerweise
mein Name und Kommentar auf S. 115 falsch zitiert wird.

Tubingen Otto Michel