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Ausgabe:

1965

Spalte:

140-141

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Klein, Laurentius

Titel/Untertitel:

Über Wesen und Gestalt der Kirche 1965

Rezensent:

Kinder, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 2

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welche Gott, der Schöpfer, eine Fülle von Diensten auf der Erde
in Bewegung erhält. . . Der Nächste treibt seine Forderung, die
er an uns zu stellen hat, selbst ein, und zwar durch den bloßen
Druck, den seine Nöte und Bedürfnisse in unserm Dasein ausüben
, selbst wenn wir ihn nicht lieben" (S. 182). Darin ist nach
W. der Mensch „dem allmächtigen Gesetz Gottes ausgeliefert"
(ebda.). Daß dieses Gesetzesverständnis mit dem paulinisch-
reformatorisch verstandenen Gesetz der Gottes- und Nächstenliebe
nicht zu tun hat, dürfte deutlich sein. Wie mit der soziologischen
Wirklichkeit, so wird das Gesetz bei W. auch mit der
psychologischen gleichgesetzt: „Die Angstzustände, die Schlaflosigkeit
, die Schwäche in verschiedener Hinsicht, die Angst vor
dem Tode, in all diesem erkennt der Mensch eine gegen ihn gerichtete
Kritik und Anklage und eine an ihn gerichtete geheime
Forderung" (S. 120). So meint denn W.: „Wenn in unserer
Gegenwart das Evangelium nicht diesem Gesetz gegenüber gepredigt
wird, dann wird in Wirklichkeit kein Evangelium für
unsere Zeit gepredigt" (ebda.). Man kann an diesem Beispiel
studieren, wieweit „lutherische" Theologie sich heute von der
reformatorischen Grunderkenntnis Luthers entfernt hat. Denn
Luther stellte das Evangelium in den Gegensatz zum Gesetz als
unbedingter persönlicher Forderung Gottes, die den Menschen
dem ewigen Gericht ausliefert, und sah im Evangelium nicht die
Befreiung von gesellschaftlichen und seelischen Nöten, sondern
den ewigen Freispruch vom Verdammungsurteil Gottes. Die Besorgnis
, daß diese reformatorische Predigt des Evangeliums an der
Wirklichkeit unserer Zeit vorbeiginge, ist völlig unbegründet,
weil Gottes unbedingte Forderung uns in unserer konkreten
Wirklichkeit genauso bindet, wie sie Menschen anderer Zeiten
gebunden hat. Das Gesetz Gottes wird nicht in der Wirklichkeit
vorgefunden, sondern ist als Gottes Wort über unserer Wirklichkeit
, in der wir primär vor Gott stehen und erst sekundär
in innerweltlichen Beziehungen, zu predigen, ebenso wie
das Evangelium als Befreiung vom ewigen Gericht in Jesus
Christus.

Der zweite Gesichtspunkt, unter dem W. den Zusammenhang
von Schöpfung und Christusgeschehen herauszustellen sucht,
ist der Rekapitulationsgedanke. Das Handeln Gottes in Christus ist
die Wiederherstellung der Schöpfung, speziell des gefallenen, dem
Tode ausgelieferten Menschen. Dies wird an der umgekehrten
Analogie von Sündenfall und Christusgeschehen verdeutlicht.
„Das Leben Christi ist das Leben Adams in entgegengesetzter
Bewegungsrichtung" (S. 50). Während Adam sein Leben „an sich
zu reißen suchte" und es damit verloren hat, gab Christus es im
Gehorsam dahin in den Tod und ist darum zum Auferstehungsleben
erhöht. In Christus ist aber dadurch die Menschheit wiederhergestellt
, daß er mit ihr als irdischer Mensch den Weg in den
Tod ging. Dies bestimmt seine menschliche Natur, in der er in
der Versuchung und im Sterben zugleich den Fall Adams überwand
und damit schon in der Knechtsgestalt unter dem Gesetz das Bild
des geschaffenen Menschen wiederherstellte, das dann in seiner
Auferstehung ohne Versuchung und Tod vollendet und gesteigert
wird. Christus ist das wiederhergestellte Menschenbild.
Die göttliche Natur Christi kommt darin zum Ausdruck, daß
Gott der Schöpfer in diesem Christusweg zugleich der Handelnde
ist, der nicht nur in Christus selbst seine Schöpfung wiederherstellt
, sondern zugleich durch den auferstandenen Christus in
Wort und Sakrament an der Menschheit wiederherstellend handelt
. Die Kirche ist selbst die wiederhergestellte Menschheit,
aber bezieht zugleich in ihrem Handeln, durch Mission und
Diakonie die übrige Menschheit in das göttliche Handeln ein. W.
bemüht sich hier, die Einheit und Kontinuität des göttlichen
Handelns in Welt und Kirche, in Schöpfung und Gesetz wie in
Mission und Diakonie darzustellen. Dieser Zusammenhang wird
bis ins Ethische, ja ins Gesellschaftliche hineinverfolgt, insofern
das Sterben und Auferstehen Christi als des neuen Menschen
sich im gesetzesfreien Berufsdienst in der Gesellschaft realisiert.
Im liturgischen Lobgesang der Kirche eint sie sich mit dem
Gotteslob der nichtmenschlichen und darum nichtgefallenen
Schöpfung. Dies alles schließt für W. nicht aus, daß die Wiederherstellung
der Menschheit erst in der Auferstehung der Toten
in allen Völkern zum Ziel kommt.

So interessante Perspektiven diese Rekapitulationstheologie
im Einzelnen eröffnet, so bedenklich ist sie doch aufs Ganze gesehen
. Zunächst setzt der Wiederherstellungsgedanke eine Urstandslehre
voraus, die weder einen biblischen noch einen dogmatischen
Grund hat und sogar die altprotestantische Urstandslehre
weit überschreitet. Merkwürdigerweise redet W. ständig von
Wiederherstellung, ohne das Urstandsproblem auch nur zu berühren
. Jedenfalls ist die „neue Kreatur" nach dem Neuen
Testament nicht die Wiederherstellung eines supralapsarischen
Idealzustandes. 1.Kor. 15,45 spricht ausdrücklich dagegen. Ferner
steht hinter dieser Rekapitulationslehre ein unbiblischer An-
thropozentrismus. Es geht dem NT wohl um das Heil, die
Rettung des Menschen, aber zuletzt doch um die Herrschaft
Gottes und seine Verherrlichung. Schließlich: Wenn W. gegenüber
einer auf dem 2. Glaubensartikel aufgebauten Theologie
eine auf dem 1. Artikel von der Schöpfung basierende entwickeln
will, so dürfte dies doch eine falsche Alternative sein. Denn das
Evangelium hat es immer mit dem dreieinigen Gott zu tun. Das
heutige Problem des Zusammenhangs von Welt und Kirche kann
darum nicht von einer Theologie des 1. Artikels gelöst werden.

Ein besonderes Kennzeichen des vorliegenden Buches ist
seine Sakramentsauffassung, besonders seine Tauflehre. Die Taufe
gilt hier nicht nur als das „Hauptsakrament" (S. 20), dessen
Wirksamkeit „sich durch das ganze Erdenleben hindurch fortsetzt
" (S.. 59), ja 60gar „mich durch den Tod hindurch zur Auferstehung
führt" (S. 3 3), sondern das ganze Heilshandeln Gottes
am Menschen wird geradezu für die Taufe monopolisiert. Die
Taufe „schenkt jedem Getauften das Auferstehungsleben Christi"
(S. 206). „Nichts kann zur Taufe noch hinzugefügt werden
(S. 15). Predigt und Abendmahl „entfalten nur das, was schon
in der Taufe lag" (S. 137). Die Taufe „entfaltet ihren Inhalt in
der Bekehrung" (S. 34). „Der Schöpferratschluß Gottes, den
Menschen nach seinem Bilde zu schaffen, wird also in der Taufe
verwirklicht" (S. 16). „Die neue Schöpfung lebt in jedem Getauften
" (S. 34). „Die Sakramente . . . sind . . . der Himmel selbst
(S. 198). In all diesen Sätzen wird ein Sakramentsmechanismus
behauptet, der sogar noch die katholische Sakramentsmagie des
ex opere operato übertrifft. Natürlich betont auch W., daß
„hinter der Predigt wie hinter den Sakramenten der durchs Wort
wirkende Christus steht" (S. 25), aber dieser durch Wort und
Sakrament wirkende Christus verliert seine Freiheit ihnen gegenüber
und muß seine Aktivität an die menschlich-sakramentale
Handlung abgeben. Dieser Taufautomatismus widerspricht sowohl
der Rolle, die die Taufe im NT im Zusammenhang mit Wort und
Geist spielt, wie auch dem lutherischen Bekenntnis, das die Wirksamkeit
von Wort und Sakrament unter den Vorbehalt des:
ubi et quando visum est Deo (CA V) stellt. Das Verhältnis von
Wort, Geist und Taufe wird denn auch im Buch nirgends geklärt
. Daß das Wort ebenso verstockt, wie es lebendig macht,
wird nicht beachtet. W. sieht nicht, daß die Identität von Gottes
Handlung und menschlicher Taufhandlung nur für den die Zusage
des Wortes sich persönlich aneignenden, vom Heiligen Geist
gewirkten Glauben gilt und nicht wie bei W. als allgemeine
dogmatische Theorie aufgestellt werden kann. Nicht Predigt und
Sakrament als solche sind oder wirken das Heil, sondern
dies ist und tut allein der lebendige Christus in Predigt und
Sakrament durch den Heiligen Geist, wo und wann er will. Hier
gilt es Luthers: Christus solus gegen einen seiner Nachfahren
wieder geltend zu machen. Diese Kritik schließt nicht aus, daß
das Buch durch seine Eigenständigkeit auch gerade in seinen zum
Widerspruch reizenden Thesen überaus anregend ist.

Mainz Werner Wi es n e r

Klein, Laurentius, u. Peter Mein hold: Über Wesen und Gestalt
der Kirche. Ein katholisch-evangelischer Briefwechsel. Freiburg/Br.:
Herder [1963]. 124 S. kl. 8° = Herder-Bücherei Bd. 160.

Auf der evangelisch-katholischen Publizistentagung 1962
hatten der Evangelische Pressedienst und die Katholische Nachrichten
-Agentur die Anregung zu diesem Briefwechsel gegeben.
Dieser wurde in der Zeit vom 9. August 1962 bis zum 11. April
1963 zwischen dem jungen Abt der Benediktinerabtei St. Matthias
in Trier und dem Kieler Kirchenhistoriker als echter Brief-