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Ausgabe:

1965

Spalte:

97-99

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schoeps, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Studien zur unbekannten Religions- und Geistesgeschichte 1965

Rezensent:

Mann, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 2

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lichkeit nicht untergeordnet, sondern von ihm freigegeben wird.
Aber auch die Anerkennung der nun thematisch gewordenen
Gegenwart der Christentumsgeschichte hängt an einem solchen
Verständnis der christlichen Zukunft im Zusammenhang der
christlichen Überlieferungsgeschichte. Man kann diese verschiedenen
Sachverhalte auf einen einfachen Gegensatz bringen, an
dem sich die Konturen des Problems erkennen lassen:

Wer eine historische Begründung des christlichen Glaubens
im überlieferungsgeschichtlichen Sinne und so eine vernünftige
Rechenschaft über ihn ablehnt, und stattdessen das ungesicherte
Wagnis des Glaubens provozieren möchte, wird auch an der
totalen Ungesichertheit der dunklen Zukunft Interesse haben
und — darin vermitteln sich diese beiden Aspekte — eine ständige
Lust am Untergang des jeweils Bestehenden, des Christentums
, der christlichen Welt, der Kirchentümer etc. verspüren.

Wer dagegen die moderne Differenzerfahrung des historischen
Bewußtseins im Zusammenhang der christlichen Überlieferungsgeschichte
zu begreifen sucht und sie durch theologische
Überhöhung nicht absolut setzt, sondern sich derjenigen
wissenschaftlichen Einsicht bedient, die das verhindert, wer also
eine historische Begründung in diesem differenzierten Sinne für
möglich und wünschenswert hält, wird auch der Zukunft ähnlich
vertrauensvoll das, was theologisch-wissenschaftlich möglich ist,
abgewinnen wollen und so, auf diese Weise, am Bestehenden,
am Christentum mitwirken wollen.

Die Zukunftsorientierung des geschichtlichen Denkens muß

ALLGEMEINES

S c h o e p s, Hans-Joachim: Studien zur unbekannten Religions- und
Geistesgeschichte. Göttingen: Musterschmidt-Verlag [1963]. 355 S.
8° = Veröffentlichungen d. Gesellschaft f. Geistesgeschichte, hrsg.
v. H.-J. Schoeps, Bd. 3. Lw. DM 36.—.

Der Band enthält siebenundzwanzig Aufsätze in den fünf
Abschnitten Qumran, Neues Testament, Klementine, Judaica,
Neuere Geistesgeschichte. Es handelt sich um Forschungen, die,
wie der Verfasser betont, „wissenschaftliches Neuland beackern",
daraus erklärt 6idh die Titelformulierung des Gesamtwerks.
Diese Formulierung ist berechtigt. In nahezu jedem der Aufsätze
trägt Schoeps neue Erkenntnisse oder auch aufsehenerregende
Theorien vor, die er mit eingehenden und ausführlichen
Quellenbelegen stützt. Im vorletzten und letzten Abschnitt vor
allem eröffnet er ganz unbekannte Perspektiven.

Im ersten der Qumranaufsätze stellt Schoeps die Opposition
gegen die Hasmonäer dar. Der „böse Priester" des
Habakukkomentars sei wahrscheinlich Alexander Jannai gewesen
, der den Führer der Sadoqiten an einem Versöhnungstag
überfallen und mit seinen Anhängern ins Exil getrieben habe
(S. 18). Damaskusgemeinde, Essäer und Ebioniten hätten in
einem „inneren Entwiddungszusammenhang" miteinander gestanden
, dies hätten, nach dem zweiten Aufsatz, die Höhlenfunde
bisher ergeben; so erklärt Schoeps 1951, und er hält
daran fest. 1959 erläutert er diese Ansicht — dies der dritte
Aufsatz — und ergänzt sie durch die Vermutung, daß der ermordete
Lehrer der Gerechtigkeit identisch sei mit dem Sacharja
ben Berechja von Matth. 23, 3 5.

Mit großer Behutsamkeit untersucht Schoepi die Stellung
Jesu zum Gesetz. In Jesu Messiasbewußtsein sei der Beginn des
Weges zu suchen, der schließlich „aus dem Judentum herausführen
mußte" (S. 60). Bei Jesu Selbstverständnis handle es sich
um ein „Messianisches Menschensohnbewußij sin", vnd dies
enthalte den „Schlüssel zum Verständnis seiner Gestalt" (S. 64).
Schoeps, der diese These als Religionshis jriker aufstellt,
distanziert sich damit bewußt von einer heute weithin akzeptierten
Auffassung. Man kann vielleicht vereinfachend sagen,
daß jene Theologie, welche mit Paulus (2. Kor. 5, 16!) das
Kerygma vom „historischen Jesus" so weit als möglich abzurücken
bestrebt ist, dazu neigt, Jesus das Messias- und Men-
6chensohnbewußtscin abzusprechen; Schoeps tendiert mehr zur
anderen Richtung, und das hängt auch damit zusammen, daß er
Paulus als denjenigen ansieht, der eine „Theologie des Miß-

also aus ihrer Funktion verstanden werden, die sie für die Herstellung
der Gegenwart des Christentums hat, ihre Bedingungen
und Möglichkeiten lassen sich von da aus allgemein aussprechen.
Sicher handelt es sich dabei um eine starke Veränderung dessen,
was sonst „Eschatologie" genannt wird. Denn diese Zukunftsproblematik
, die im Horizont der Universalgeschichte als der
Einheit der Wirklichkeit steht, ist aus den Bedingungen des
modernen theologischen Denkens entsprungen, sofern dieses in
seiner Weise auf die Herausforderung durch den christlichen
Gottesbegriff Antwort zu geben versucht. Aber gerade um
solche veränderten Themen sollte es in diesen Bemerkungen
ja gehen.

Der Aufwand, der nötig ist, um die Bedingungen des einfachen
und unmittelbaren christlichen Lebens und Glaubens zu
formulieren, scheint groß zu sein und ist es auch. Denn die
Infragestellungen, die ihm entgegenstehen, sind ungeheuer. Damit
bestätigt die Theologie aber nur in der ihr angemessenen
Weise das, was im Blick auf den Glauben und die Frömmigkeit
Vertrauen und Gewißheit heißt. Der Unterschied zum Glauben
liegt darin, daß dieses gleichsam wissenschaftlich angewandte
Vertrauen seine Möglichkeit zur Entfaltung aus der inneren
Konsequenz des wissenschaftlichen Denkens erhält, das nicht
nur radikale Infragestellung, sondern auch die Selbstbindung
des denkenden Menschen ermöglicht. Die Theologie kann nie
so allgemein und so bedeutungsvoll sein wie ihr Thema, aber
sie braucht hinter dessen Anspruch nicht mehr als nötig zurückzubleiben
.

Verstands" hinsichtlich des Judentums allgemein und des jüdischen
Gesetzes im besonderen inauguriert habe (S. 132 ff.). Hierzu
äußert sich Schoeps eingehend und, soweit es der Rahmen
zuläßt, mit zahlreichen Quellenbelegen in dem wichtigen Aufsatz
Religionsphänomenologische Untersuchungen zur Glaubensgestalt
des Judentums; dieser Aufsatz ist ein wichtiger Beitrag
sowohl für wesentliche Grundsatzfragen neutestamentlidher
Theologie wie vor allem für den Problemkreis Kirche und Israel.

Überhaupt scheint mir die aktuellste Bedeutung des Buches
eben in dem zu liegen, was Schoeps in mehreren Aufsätzen zu
diesem letztgenannten Problemkreis sagt. Nur auf weniges kann
hier besonders hingewiesen werden. Da ist einmal die Darstellung
der seit dem achtzehnten Jahrhundert entscheidend veränderten
geistigen Situation des Judentums: den Tannaiten
des zweiten Jahrhunderts sei es gelungen, das Judentum in der
Glaubenswirklichkeit des Gesetzes zu erhalten, bis erst mit der
Emanzipation diese Gesetze zu „Fiktionen" wurden (S. 144),
und dadurch sei das Judentum heute etwas grundsätzlich anderes
als durch die Jahrtausende hindurch bis ins achtzehnte Jahrhundert
hinein. Dennoch bleibe ein Wesentliches bestehen: die
Verwirklichung der Thora durch den E i n ze 1 n e n. Und so
bleibe auch das Problem Israel und Kirche immer noch als theologisches
bestehen. Und Schoeps bekennt sich in dieser Frage zu
der Lösung Franz Rosenzweigs: „daß niemand aus den Weltvölkern
anders zu Gott dem Vater kommt als durch Jesus
Christus", daß Israel jedoch durch die Erwählung schon beim
Vater sei (S. 186); deshalb sei die Spekulation des Paulus über
die Hcilsgeschichte Rm. 9—11 als aus der obengenannten „Theologie
des Mißverstands" zu begreifen — ein Ärgernis freilich für
jeden, der „unter Glauben das Schwören in verba apostoli versteht
" (S. 195).

Damit ist natürlich das theologische Recht jeder Israel-
missioi in Frage gestellt. Diese Gedanken sind nicht nur aufregen
/. sie sind vielleicht furchtbar. Aber wir kommen als Theologe
/ in unserer Zeit und Lage nicht an ihnen vorbei, einerlei
wie rir uns letztlich zu ihnen stellen. Schoeps zwingt uns damit
zu einer Frage an uns selbst, die mehr oder weniger latent
längst in der Luft liegt. Es ist die existenzielle Frage, die keine
vorschnelle dogmatische „Erledigung" erlaubt: ob wir wirklich
den Mut haben, den Juden, der den Weg der Thora geht, für
des Heils verlustig zu erachten. Sollten wir hier mit der Antwort
auch nur zögern, so bedarf unsere Christologie erheblicher
dogmatischer Neuansätze!