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Ausgabe:

1965

Spalte:

932

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hessen, Johannes

Titel/Untertitel:

Der Absolutheitsanspruch des Christentums 1965

Rezensent:

Philipp, Wolfgang

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Seite 1

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931 Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 12

Theologen, und daß er selbst für sich das Christsein nicht einmal in
Anspruch nimmt . . . Die Scheu verlangt, historisch die biblischen Religionen
in ihrer Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit zu sehen, dann
(trotz allem Schrecklichen) anzuerkennen, was in ihnen an grenzenloser
Wahrhaftigkeit, Liebeskraft und Freiheit wirklich war. Es ist das, was
gemeinsam sein könnte und dann selber das Blut der Philosophie
wäre" (S. 53 f.).

„Die Konfession wird gleichgültig . . . Das Verbindende ist die von
Vernunft durchglühte Religion" (ib.).

Im letzten Teil nimmt das Buch sogar eine beinahe überraschende
Wendung in der Richtung, daß Jaspers der Überzeugung
Ausdruck gibt, daß das protestantische Christentum — soziologisch
gewiß weniger lebensfähig als das katholische —, wenn es
sich in erneuerter Reformation konsequent als Denkungsart statt
als Lehre und Position verstünde, zum Besten des biblischen Ursprunges
zurückzuführen und von diesem aus von geradezu
schicksalsentscheidender Bedeutung für das „Abendland" (!)
werden könnte (S. 477 f., 520 ff.). Freilich nur an eine durch das
Feuer Kierkegaardscher Absage an sog. Christentum hindurchgegangene
neue Pfarrer- (weniger Theologen-)generation könne
hierbei gedacht werden. Für heute schon sollte aber jedenfalls
gegenseitiges Sich-Respektieren von Philosoph und Theologe zu
Maxime und Brauch werden (S. 5 36), auch wenn beider Denkweisen
sich in einem Kopf gegenseitig ausschließen.

Wenn abschließend noch kurz Stellung genommen werden
soll, so wäre folgendes zu sagen:

Im Blick auf das erste und zweite Gebot kann man der
kritisch bis polemischen Grundtendenz von Jaspers (nur
Chiffern, keine leibhaftige Realität Gottes!) sicher weitergehend
zustimmen, als er selbst — Theologen seiner Generation und
Nähe vor Augen (s. bes. S. 48 5 ff.) — wohl erwartet. Theologen
und Pfarrer werden in der Tat lernen müssen, daß ihre Aufgabe
noch ganz andere Dimensionen hat, als alle Menschen vor die
„Entscheidung" zu stellen. Intellektuelle Redlichkeit darf nicht
bloß das (neuerdings) große Wort der Prinzipienerörterungen
sein.

Andererseits steckt in der von Jaspers herausgestellten
Problematik eine Aporie, die auch er nicht sprengt. Wenn die
„Chiffern" wirklich Chiffern sein, d. h. Existenz wie Geschichte bestimmen
sollen, dann müssen sie m e h r als Chiffern sein. Wenn
man sie verabsolutier t—wie Jaspers denAkzent setzt,249—,
hören sie gewiß auf, Chiffern zu sein; wenn man sie aber relativiert
— wie man sofort hinzusetzen muß —, nicht minder
'vgl. S. 486/7). Ohne Anspruch auf .wirkliche Wahrheit' gibt es
auch keinen geistigen „Kampf der Chiffern", nicht einmal echte
Dialektik, wird Philosophie zur unverbindlichen Phänomenologie
(vgl. S. 283). Anders gesehen: Was Jaspers will („Im alternativen
Denken bringen wir die Chiffern zur Klarheit und zur
Schwebe", 249), ist nur überindividuell möglich (Hegel). Wer als
Einzelner ganz ohne Entscheidung bleibt, trägt nichts zum „Reich
der Chiffern" bei.

Damit rechtfertigen wir nicht jeden Anspruch, sehen aber
das Problem darin, daß man bei der Vielzahl der Ansprüche und
der Chiffern Unterschiede hinsichtlich ihres Wahrheitswertes
macht. Jaspers sieht den Wahrheitswert aller Chiffern auf einer
Ebene (ihr Geltungswert ist ihm ein prinzipielles Problem) und
kommt von hieraus sogar — paradoxerweise — zur Ablehnung
der Entmythologisierung: Alles ist Mythos, aber auch alles
soll Mythos bleiben, damit das „Reich der Chiffern" nicht
rationalistisch verstümmelt wird (S. 431). Den Mythos einfach
als bloße Chiffer verstehen, statt Unterschiede zu machen! Aber
gerade das protestantische Prinzip (vgl. S. 521), historisches Verstehen
und kritischer Sinn insbesondere, verlangen, mit jedem
Dogma für sich fertig zu werden, während es an die katholische
Wirklichkeit erinnert, wenn man alles beisammenläßt und
gemeinsam in die Sondersphäre des nur uneigentlich Geltenden
versetzt, wobei es eine bloße Frage der Terminologie sein kann,
ob man diese Sondersphäre die der „Chiffern" oder die des
„Glaubens" nennt.

Dem Philosophen liegt freilich immer nahe, das Problem von
Glaube und Offenbarung pauschal und prinzipiell auf eine Formel

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bringen zu wollen, der theologische Historiker dagegen prüft die
Einzelfälle und differenziert. (Von diesem Gegensatz her sind
wohl die recht harten Worte, die sogar Bultmann sich sagen
lassen muß — 431, vgl. andererseits 482 —, zu verstehen). Der
theologische Systematiker schließlich könnte folgenden Satz von
Jaspers als das Wesentlichste und Tiefste seines Buches ansehen:

„Nicht Gottesleugnung wendet sich gegen Gottesglauben,
sondern der verborgene Gott gegen den offenbarten" (S. 481).

Das könnte in einer theologischen Konzeption Platz
haben, es könnte aber auch so sein, daß dieser Gegensatz nur
überindividuell seine eigentliche Kraft und seinen eigentlichen
Sinn hat.

Berlin Hans-Georg F r i t z s c h e

Hessen, Johannes, Prof. D. Dr.: Der Absolutheitsanspruch des
Christentums. Eine religionsphilosophische Untersuchung. München
u. Basel: E.Reinhardt [1963]. 112 S. 8° = Glauben und Wissen,
Nr. 25. Kart. DM 4.80.

Mit der vorliegenden kleinen Schrift nimmt der Verf. seine
1917 kirchlicherseits verworfenen Überlegungen zur Absolut-
heitsfrage des Christentums wieder auf. In vier Abschnitten —
Erkenntnistheoretische Besinnung, Phänomenologische Betrachtung
, Wertphilosophische Überlegung, Geschichtsphilosophische
Untersuchung — werden Zitate von E. Troeltsch, O. Karrer, J.
Pohle, J. Bautz, Hermann Schell (!), M. Scheler, Fr. Heiler, M.
Müller, Th. Steinmann, N. Söderblom, W. Bousset, H. Stephan,
H. Scholz, G. Mensching, R. Eucken, P. Mezger, R. Rolland,
R. Otto, A. Schweitzer, J. B. Hirscher, Fr. Paulsen, Fr. X. Kiefl,
H. Lotze, M. Dibelius, K. Schumann u. a. florilegienhaft zusammengetragen
. Unter der Voraussetzung, daß die Absolutheit des
Christentums inklusiven Charakter hat und Offenbarung außerhalb
der „christlichen Religion" einschließt, wird eine „rationale
Rechtfertigung" des christlichen Absolutheits g 1 a u b e n s für
möglich erachtet (Wesenserfüllung der Religion, Selbst- und
Sendungsbewußtsein Jesu). Die Absolutheit des Christentums an
sich ist eine reine Sache des Glaubens, d. h. hier des christusmystischen
Dezisionismus. Der Meinung des Verf.s, daß seine
Ausführungen „zuletzt fast mehr den Charakter einer religiösen
Meditation als einer wissenschaftlichen Abhandlung hatten" (72)
wird man auch über die Phänomenologie hinaus zustimmen
dürfen.

Marburg/Lahn Wolfgang P h i I i p p

Bergenthal, Ferdinand: Zur transzendentalen Grundlegung der
Religionsphilosophie (Wissenschaft und Weisheit 28, 1965 S. 92—103).

Cole, Preston: The Function of Choice in Human Existence (The

Journal of Religion 45, 1965 S. 196—210).
C u e n o t, Claude: Die geistige Biographie Teilhard de Chardins

(ZW 36, 1965 S. 225—242).
Edwards, A.:E1 sistema maduro de Ortega y Gasset (Stromata XXI,

1965 S. 3—8).

Forell, Urban: Autoritätsbegriffe vom logischen Gesichtspunkt
(NZSTh 7, 1965 S. 71-99).

Gäßler, Fidelis: Eine geschichtsphilosophische und philosophiegeschichtliche
Studie über den Stand des philosophischen Fragens
(Wissenschaft und Weisheit 28, 1965 S. 128—132).

Guggenberger, Alois: Nimmt das Gute in der Welt zu? Zur Auseinandersetzung
mit der Eschatologie und Ethik Teilhard de Chardins
(I) (ZW 36, 1965 S. 243-251).

Hagens, B. van: Sulla distinzione reale tra sostanza corporea e
quantitä (Salesianum XXVII, 1965 S. 134—153).

Hennig, John: Zur Stellung des Begriffes „gegenwärtig" in Religionsund
Geistesgeschichte (ZRGG XVII, 1965 S. 193-206).

Holm, Sören: Holberg, Grundtvig, Kierkegaard, drei dänische Denker
(NZSTh 7, 1965 S. 49—61).

Ittel, Gerhard Wolfgang: Lucretius Redivivus? Eine Auseinandersetzung
mit Bertrand Russeis Auffassung über den Ursprung der Religion
(ZRGG 17, 1965 S. 43-62).

Krieger, Evelina: Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins
(Wissenschaft und Weisheit 28, 1965 S. 123—128).

Krone, Sebald: Zu Teilhard de Chardins Weltbild (Wissenschaft und
Weisheit 28, 1965 S. 132-135).