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Ausgabe:

1965

Spalte:

849-851

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Meinhold, Peter

Titel/Untertitel:

Goethe zur Geschichte des Christentums 1965

Rezensent:

Philipp, Wolfgang

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849

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 11

850

Des Verf.s kritische Einstellung gegenüber manchen von
Rathofers Thesen ist sicher berechtigt. Aber es ist ihm m. E.
nicht gelungen, den zwingenden Nachweis für seine Interpolationstheorie
zu führen; ähnlich steht es mit den von ihm vorgebrachten
Konjekturvorschlägen. Der Philologe wird daher bis
zum bündigen Beweis des Gegenteils — sich beim Heliand auf
die vorliegende Überlieferung stützen müssen und das Werk als
Einheit zu betrachten haben2. Dennoch wird man bei weiterer
Beschäftigung mit dem Heliand die Darlegungen des Verf.s nicht
übergehen dürfen. Vielleicht finden sich doch noch neue Argumente
, die geeignet sind, die Richtigkeit der einen oder anderen
These zu beweisen.

Leipzig Ernst Walter

-) Wann und wie können Interpolationen in den Text hineingekommen
sein? Hier ist der Spekulation weiter Spielraum gelassen.
Kann der Helianddichter nicht unter Umständen — unter dem Einfluß
irgendwelcher anderen Anschauungen oder mit neuen Intentionen
— seinen eigenen Text selbst „interpoliert" haben, als einige Jahre nach
der ersten Fertigstellung verstrichen waren? Ist das dann eine Interpolation
oder nicht?

Mcinhold, Peter, Prof. D.: Goethe zur Geschichte des Christentums.

Freiburg-München: Alber [1958]. XII, 282 S. gr. 8° = Deutsche Klassik
und Christentum. Lw. DM 16.50.

Als ersten Beitrag zu dem umfassenden Thema „Deutsche
Klassik und Christentum" legt der Verf. fünf Abhandlungen vor,
die ursprünglich in „Saeculum" (Jb. f. Univ. gesch. 1950—56) erschienen
waren und sich in erweiterter Form zu einem in sich
geschlossenen und folgerichtigen Aufbau vereinen. Der Verf. ist
der Meinung: Kennt man Goethes Anschauungen von der Geschichte
des Christentums, so kann man ihnen die Motive, die
der Stellung Goethes zum Christentum schlechthin zugrunde liegen
, unmittelbar entnehmen. In der Geschichtsauffassung selbst
wiederum wirken die Kategorien einer ursprünglich theologischen
Geschichtsschau nach. In flüssig und anziehend geschriebener Darstellung
legt der Verf. eine Fülle von — teilweise wenig bekanntem
— Belegmaterial für diese These vor, die in fesselnder Weise
historische und systematische Gesichtspunkte eint.

Art und Herkunft der tragenden Geschichtsschau umreißt das
erste Kapitel („Der junge Goethe und die Geschichte des Christentums
") bereits in aller Deutlichkeit. Es ist die Sicht Gottfried
Arnolds in seiner „Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie"
von der Depravation der Kirche nach den reinen Anfängen des
Urchristentums. Der Versuch zu erweisen, wie diese spirituali-
stisdie Sicht Goethe in allen Lebensstadien bestimmt, durchzieht
das gesamte Werk M.s als roter Faden. Von ihr geprägt sind die
drei theologischen Jugendschriften „Brief des Pastors zu . . .";
„Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen. . ." und das
„Fragment vom Ewigen Juden". Die zunehmend depravierte
Kirche hat das Geheimnis der Religion preisgegeben und in
Moral verwandelt. Der wiederkehrende Christus würde von seiner
Kirche nicht erkannt werden und in ihr „nichts seiniges" erkennen
. Das Wesen des Christentums ist der einfädle Christusbezug
; der Orden der wahren Christus jünger geht durch die
Konfessionen hindurch. Fremde Religionen werden nach dem
gleichen Gesetz aufgefaßt und auf dem Wege des Gefühls eine
Urgestalt der Religion gesucht. Auch das Wesen des Menschen
wird durch die „Konfessionalisierung" in Staaten und Völker ja
nicht berührt.

Ob diese spiritualistische Schau der „Begegnung mit dem
Katholizismus in Italien" standhält, wird im zweiten Kapitel
untersucht. Auch in Italien hindert der Spiritualismus Goethe
daran, ein echtes Verhältnis zur Geschichte zu gewinnen. Er fühlt
sich als Protestant, wenn sich der Spiritualismus in ihm gegen
das „seelenlose Gepränge" auflehnt. Die Natur kann für ihn
gleichsam an die Stelle eines offenbarenden Logos treten; Geschichte
und Tradition sind dagegen letztlich geistlos.

Diese Haltung verstärkt sich in Italien so, daß Geist und
Geschichte schließlich in unlöslichem Widerspruch zueinander stehen
: der Gedanke, Gottes Leben könne sich in der Geschichte
manifestieren, ist nicht mehr vollzichbar.

Mit der Rolle insgeheim wirkender christlich - dogmatischer
Reminiszenzen beschäftigt sich das dritte Kapitel „Die Deutung
der Religionsgeschichte". Das Motiv der Inkarnation offenbart
sich in dem wichtigen Fragment „Die Geheimnisse". Zwölf
Rittermönche (Verkörperungen der Religionen) scharen sich um
„Humanus", den „Vermittler", der in vielem der Rolle Christi
entspricht. Humanus kann von seinen Freunden scheiden, weil
sein Geist sich in ihnen allen inkarniert. Das Thema der Weltgeschichte
ist der Kampf des Glaubens mit dem Unglauben —
wobei Glaube formlose Gottesunmittelbarkeit bedeutet und Unglaube
jede Art der Objektivierung des Glaubens in Lehre und
Kult. Besonders der Islam wird positiv und nach pietistischen
Kategorien gedeutet. Wie er unterliegen alle Religionen mit der
Zeit der depravierenden Objektivation. Das Motiv der Trinität
erscheint in Goethes drei Religionen der Ehrfurcht — Ehrfurcht
vor dem, was über uns ist ( ethnische Religion ), vor dem, was
unter uns ist (christliche Religion), vor dem, was uns gleich ist
(Gemeinschaft der Heiligen). Weil fast alle Religionen eine Erscheinung
der Gottheit in menschlicher Gestalt kennen, wird in
der „Pädagogischen Provinz" die Gestalt Christi relativiert.
Scharf hebt Goethe seine Trinität der Ehrfurchtsreligon von der
„Natürlichen Religion" der Deisten und Rationalisten ab: Ehrfurcht
ist keine Gabe der Natur, sondern Produkt der Erziehung
.

Mit den universalen dualistischen Perspektiven Goethes beschäftigt
sich an vierter Stelle die Abhandlung „Der alte Goethe
und die Kirchengeschichte". Den intensiven kirchen- und dogmen-
gcschichtlichen Studien des alten Goethe entspringt die Ansicht,
daß durch Kirchen- wie Profangeschichte sich ein kontinuierliches
„Boxen" hindurchzieht, wie es analog einst zwischen Arianera
und Orthodoxen stattfand. Das Widerspiel zwischen revolutionären
und konservativen Ideen ist überzeitlich wirksam; in den
Dogmenkämpfen der Christen setzt sich die fatale Sophisterei
der Antike fort. Rom. Katholizismus kann als nacktes Heidentum
erscheinen, dem gegenüber der furor protestanticus erwacht;
die Bestrebungen der romantischen „Mittelältler" sind verächtlich
. Auch die Einstellung zur Reformation ist dualistisch: Neben
das Lob der Gestalt (nicht der Sache) Luthers tritt die scharfe
Kritik reformatorischer Kirdienbildung — die Brüdergemeine wird
von der Depravation ausgenommen. Die fünfte Abhandlung
schließt unter dem Titel „Die Konfessionen im Urteil Goethes"
das Buch. Die bekannte Ausdeutung der Sakramente in „Dichtung
und Wahrheit" wurzelt nach Meinung des Verfs. ebenfalls
in Goethes Spiritualismus, der den eigentlichen Kern in der Hülle
zu suchen vermag. Besonders hervorgehoben wird Goethes Kritik
allen Parteigeistes. Er vermag sich im Alter als den einzelnen
frommen Ketzer zu verstehen, dem die Gegner (auch in solchen
Auseinandersetzungen wie denen um die „Farbenlehre") als geschlossene
Gilde gegenüberstehen. Konfessionalisierende Formen
des kirchlichen Lebens oder die Welt ancelsädisischer Denominationen
fordern Goethes Widerspruch heraus. Den Gedanken, Religion
sei Opium für das Volk, führt Verf. letztlich auf Goethe
zurück, der die in den Schlaf „lullenden", „narkotischen Predigten
" Fr. W. Krummachers rügt, weil sie Gemeinden armer Weber
über ihre erbärmliche soziale Lage hinwegtäuschen wollen. Mit
Goethes Bekenntnis zum Hypsistariertum schließt das Werk: „In
den Hypsistariern hat Goethe das Ideal einer jenseits der Konfessionen
und der Religionen sich erhebenden Gottesverehrung
verkörpert gefunden: der, der sich von jeder ,Sekte' und .Partei'
löst, um von ihnen allen frei zu sein, ist bereit, sich dieser Sekte
anzuschließen, weil sie seinem Ideal am nächsten kommt. Es ist
ihm nicht bewußt gewesen, daß er damit nun den Sündenfall des
Geistes seinerseits wiederholt, der ihm als Verhängnis der Geschichte
überall entgegengetreten und an den geschichtlichen Erscheinungen
so zuwider gewesen ist" (281 f.).

Man muß dem Verf. zubilligen, daß er im Rahmen des straff
eingegrenzten Themas seine These überzeugend durchgeführt
und belegt hat. Für den Theologen und Germanisten und insbesondere
auch für den Religionspädagogen ist das Buch aufschlußreich
und wertvoll. Für manchen Leser muß sicher deutlich darauf
hingewiesen werden, daß das Werk nicht den Titel „Goethes