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Ausgabe:

1965

Spalte:

837-838

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Wolska-Conus, Wanda

Titel/Untertitel:

La topographie chrétienne de Cosmas Indicopleustès 1965

Rezensent:

Altendorf, Hans-Dietrich

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 11

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eigentlich auf demselben Boden dualistischer Grundanschauungen
und neigt kaum weniger zu Askese und Enkratie als seine Gegner
. In einem gewissen Sinne gehört die Enkratie wirklich zu den
echten apostolischen Traditionen und auch vom Hintergrund der
hellenistischen Weltanschauung aus stehen kirchliche und häretische
Enkratiten auf dem gleichen Boden. In seiner Polemik vermischt
Clemens Argumente gegen Libertinisten und Enkratiten.
Er verteidigt Schöpfung und Geschöpf, Ehe und Fortpflanzung
gegen jede Art von Mißdeutung und Mißbrauch. Er wendet sich
gegen ihre Abwertung durch den Enkratismus und sieht darin
Unglauben und Gottlosigkeit. Gesetz und Evangelium, Schöpfergott
und Erlösergott gehören für Clemens unbedingt zusammen.
In seiner Polemik aber verallgemeinert Clemens offenbar. Vorwürfe
, die eigentlich nur Tatian treffen, wie etwa die Imitatio
Christi im Verzicht auf Ehe und den Genuß der Güter dieser
Welt (Keuschheit und Armut) werden auf den Enkratismus im
ganzen übertragen. Umgekehrt werden Tatian und seine Anhänger
als Gnostiker verurteilt. Der Verfasser nimmt Tatian gegen
den Vorwurf der Gottlosigkeit und der Mißachtung des Schöpfers
in Schutz. Die Warnung davor, zwei Herren zu dienen, ist
echt neutestamentlich. Die geistige Gemeinschaft der Ehegatten
im Gebet bezeichnet der Verfasser im Hinblick auf den musikalischen
Terminus Diatessaron Harmonie als musicalita spirituale;
fleischliche Gemeinschaft wäre Auflösung in Sittenlosigkeit.
Wenn auch die persönlichen Anschauungen Tatians dualistisch-
gnostisch erscheinen mögen, so gehören sie doch nicht in die
Sphäre der Gnosis hinein. Der Boden, auf dem Tatian steht, ist
der kirchliche, es ist der Boden seiner syrischen Heimatkirche,
der er nach der Trennung von Rom sein Leben geweiht hat. Die
Frömmigkeit des syrischen Christentums allerdings war enkrati-
tisch geprägt.

Sind mit all dem die Fragen und Probleme der Tatian-
Forschung auch gewiß nicht endgültig gelöst, so verdanken wir
dem Verfasser doch eine schärfere Zeichnung und gerechtere Beurteilung
Tatians und damit zum mindesten Ansätze zu seiner
Rehabilitierung gegenüber den traditionellen Anklagen und Anregungen
zu einer neuen, verständnisvolleren Einordnung des
Schöpfers der Evangelien-Harmonie in die Geschichte des christlichen
Glaubens, der mit diesem seinem Werk die Einheit der
Wahrheit bezeugen wollte.

Gieflen Georg B e r t ra m

Wols ka, Wanda: La topographie chretienne de Cosmas Indicopleu-
stes. Theologie et science au VIe siede. Paris: Presses Universitaires
de France 1962. XV, 329 S. m. 23 Abb. i. Text, 15 Taf. gr. 8° =
Bibliothequc Byzantine, publ. par P. Lemerle, Stüdes 3. NF 40.—.

Wanda Wolska gibt im vorliegenden Buche eine eingehende
und sorgfältige Darstellung einer der seltsamsten Schriften der
altchristlichen Literatur, der „Christlichen Topographie" des angeblichen
Indienfahrers Kosmas, die er wohl gegen die Mitte des
6. Jahrhunderts in Alexandria verfaßt hat. Das Werk hat eine
gewisse Berühmtheit erlangt wegen der in ihm ausgesprochenen
grundsätzlichen Ablehnung des „heidnischen" ptolemäischen
Weltbildes, das die Kugelgestalt der Erde zugrunde legt. Es ersetzt
es durch das „biblische", das die Erde als eine im Wasser
schwimmende Scheibe ansieht. Kosmas hat eine Anzahl sehr
interessanter Bilder beigegeben, die seine Ansicht vom Weltgebäude
veranschaulichen sollen. Man hat oft gefragt, wie er zu
seinen „reaktionären" Überzeugungen gekommen sei und ist
manchmal der Meinung gewesen, er habe auf uralte babylonische
Überlieferungen zurückgegriffen. Das Verdienst der Verfasserin
besteht darin, das ziemlich umfangreiche und unübersichtliche, daher
den Leser leicht ermüdende Werk geduldig durchgearbeitet
und die leitenden Ideen herausgehoben zu haben. Das Buch ist
also eine willkommene Einführung in die „Topographie", die
hoffentlich dazu beitragen wird, einer nicht selten begegnenden
mißbräuchlichen Verwendung Einhalt zu gebieten, die in willkürlichem
Herausgreifen von einzelnen Zügen besteht, die unzulässig
verallgemeinert werden. Indem die Verfasserin Aufbau und Einzelthemen
der Weltbeschreibung in ausführlichen Zitaten und
Umschreibungen vorführt, sichere und vermutete Quellen vom
geistigen Eigentum des Kosmas zu scheiden versucht und vor

allem auf die geistige Umwelt achtet, gewinnt sie ein unverzerrtes
Bild, das den Stempel der Echtheit trägt. Kosmas ist danach
keineswegs in erster Linie Träger verschollener Überlieferungen,
sondern er steht in enger Berührung mit den Fragen des Tages,
die in Alexandria diskutiert werden.

In den zwei Hauptteilen der Arbeit wird diese Einordnung vorgenommen
: Teil I, „Cosmas et l'Orient", geht den nestorianischen
Zügen nach; die Verwandtschaft mit Ausführungen Theodors von
Mopsuestia, von Mar Aba, Thomas von Edessa, überhaupt den östlichen
Vorstellungen der Welt in Gestalt der Bundeslade wird breit dargelegt
. In gleicher Breite (das Buch hatte ohne Schaden knapper ge-
fasst werden können) beschäftigt sich der zweite Hauptteil mit
„Cosmas et Alexandrie", der eindringlich klarmacht, wie Kosmas bis
in Einzelheiten das von ihm so bitter bekämpfte „unbiblische" sphärische
Weltbild voraussetzt; er verdammt es, aber er muß das in der
Begrifflichkeit und in den Anschauungsformen des Gegners tun. Das erklärt
die oft bemerkte widerspruchsvolle und unklare Gedankenführung
: Kosmas ist kein vom Neuen unberührter naiver Vertreter alter
Kosmologie, sondern er ist ein Mann, in dessen Brust schon zwei Seelen
wohnen: das ihm als Bildungsgut selbstverständlich vertraute ptole-
mäische Weltbild, das auch die zeitgenössischen Christen übernahmen,
meint er durch das seiner Meinung nach allein der göttlichen Offenbarung
(und der auf seinen Reisen erlebten Wirklichkeit!) entsprechende
biblische verdrängen zu müssen. Das geschieht bei ihm gewollt, oft we-
wenig überlegt und zuweilen verkrampft, daß das Ergebnis ein unbefriedigender
Kompromiß ist. Man hat ihn, der keineswegs ein ungebildeter
Mann ist, deswegen oft gescholten oder auch lächerlich ge-
madit, aber das Sdieitern seines Vorhabens liegt in der Natur der Sache.
Bemerkenswert ist jedenfalls, mit welcher Energie und Zähigkeit hier
das biblisdic Weltbild im Gegensatz zum „heidnischen" der Philosophie
und Wissenschaft als richtig erwiesen werden soll. Kosmas steht damit
nun nicht völlig vereinzelt da, sondern er läßt sich in eine biblizistische
Strömung innerhalb der altchristlichen Frömmigkeit eingliedern, die
oft übersehen wird; nicht zufällig hat er einen geistesverwandten Kosmologen
früherer Zeit wie den Chrysostomusgegner Severian von Ga-
bala für sich entdeckt und fleißig ausgeschrieben. Der Einordnung des
Kosmas in diese Tradition schenkt Wolska freilich keine Aufmerksamkeit
; sie wäre aber aufschlußreich; ich hoffe, dem Thema einmal im Zusammenhang
nachgehen zu können. Die gelehrte Verfasserin hat sich
vielmehr bemüht, die Stellung des „Indienfahrers" auf andere Weise
schärfer als bisher zu erfassen: indem sie die einzelnen Abschnitte des
Buches abhört auf ihren nestorianisierenden oder nichtnestorianisieren-
den Charakter und indem sie (in langen Exzerpten) entsprechende Partien
aus den kosmologischen Ausführungen des gleichzeitigen alexan-
drinischen Aristoteleskommentators Johannes Philoponos vergleicht,
glaubt sie sehr ins Einzelne gehende Aussagen über die Quellen des
Kosmas machen zu können. Sie meint auch, ermitteln zu können, wie er
übernommene Stücke entweder unverändert gelassen, mißverstanden
oder der eigenen Auffassung angepasst habe. Vor allem erschließt sie
eine förmliche Polemik zwischen Kosmas und Johannes. Beide hätten
sich in ihren Darlegungen aufeinander bezogen und miteinander disputiert
. So eindrucksvoll die in der Tat bemerkenswerten Entsprechungen
und Entgegensetzungen in der Zusammenstellung Wolskas wirken: dafür
, daß gerade und nur Kosmas und lohannes miteinander streiten,
hat sie keinen vollen Beweis erbracht. Ich will derartige Beziehungen
nicht gänzlich ausschließen, aber sie müßten durch sorgfältige Einzeluntersuchungen
genau ermittelt werden. Die Hinweise der Verfasserin
rechtfertigen nicht ihre bestimmten Behauptungen. Wir müssen uns
vorerst damit begnügen, allgemeiner zu sagen, daß Kosmas sich mit
seinen Fragestellungen im intellektuellen Milieu Alexandrias bewegt
(zu dessen vornehmsten Vertretern Johannes gewiß gehört), dabei will
er aber andersartige Überlieferungen zur Geltung bringen.

Wanda Wolska kündigt eine Neuausgabe der „Topographie"
in den Sources Chretiennes an. Sie ist mit den Problemen des
Buches, seiner geistigen Umwelt und den antiken Kosmologien
so vertraut, daß man wünscht, sie möchte ihre Studien darüber
fortsetzen. Vielleicht kommt sie in den Quellenproblemen doch
noch zu Ergebnissen, die meine Zurückhaltung als unberechtigt
erweisen. Jedenfalls: Das Buch ist ein stoffreicher und eindringlicher
Kommentar zu Kosmas (auch einige der Bilder werden erklärt
), übersichtlich gegliedert und elegant geschrieben, der eine
wirkliche Förderung darstellt; ausführliche Register sind beigegeben
.

Es sei noch bemerkt, daß W. Wolska in der Lage ist, neuere
russische Literatur zu benutzen; vor allem von V. Pigulevskaja
werden Beobachtungen zur Literatur des 6. Jahrhunderts mitgeteilt
, die die Beachtung der Patristiker zu verdienen scheinen.

Tübingen Hans-Dietrich Alten dorf