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Ausgabe:

1965

Spalte:

834-837

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Bolgiani, Franco

Titel/Untertitel:

Vittore di Capua e il "Diatessaron" 1965

Rezensent:

Bertram, Georg

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. K

834

Hier setzten unsere Zweifel ein. Trifft man damit noch den,1 Sinn von
Diakonie im neutestamentlichen Verständnis? Wir wissen mit Krimm
um den „blinden Fleck" im Auge der Diakonie des 19. Jahrhunderts,
so daß die evangelische wie die katholische Diakonie den Weg zu einer
sogenannten „Gcsellschaftsdiakonie" spät oder gar zu spät fand. Mag
die hier vorgelegte Auffassung von Diakonie sich in einer weitgehenden
Übereinstimmung mit einer Stimmungslage modernem Theologie befinden
, die vielleicht nicht einmal so sehr beabsichtigt worden ist, so
muß der Widerspruch deutlich angemeldet werden. Es gibt eine „soziale
Versuchung der kirchlichen Diakonie, wenn ihr vorgespiegelt werde,
die Kirche sei verantwortlich für das soziale Glück der Menschen".

Die hier vorgetragene Abgrenzung Krimms wird durch die tägliche
Praxis der Diakonie immer zwangsläufig durchbrochen. Weder handelt
es sich bei personalen Bedrohungen um „Zustände", man denke nur an
die Gemeinschaftsunfähigkeit, verwüstete Ehen etc. Auch die Verkündigung
, wenn sie echt und nicht überfremdet ist, schafft nicht nur „Gesinnungswandel
", sondern verhilft in wirkliche Gemeinschaftsbezüge
innerhalb des kirchlichen Raumes.

Bei der Auswahl der Quellen überrascht uns die ausgezeichnete
Zusammenstellung aus der Reformationszeit, die den Neuaufbruch zum
diakonischen Dienst eindrucksvoll belegt. Im Blick auf die Orthodoxie
weist der Herausgeber darauf hin, daß man „unendlich viel Sand durch
seine Finger gleiten lassen mußte, ehe eine diakonische Perle zurückblieb
". Ungeachtet dieser nicht geringen Schwierigkeiten konnten doch
19 instruktive Beiträge zum Abdruck gelangen. Wir vermissen nur
Quellcnstücke aus dem weitgespannten Sozialreformprogramm Ernst des
Frommen, des mit bedeutendsten Fürstens des 17. Jahrhunderts. Es ergibt
sich dann ein etwas anderes Bild.

Bei August Hemann Francke, der auf den sozialen Reformplänen
Ernst des Frommen fußt, vermissen wir gerade die wesentlichsten
Stücke aus seinem „Großen Aufsatz". Carl Hinrichs hat in seinem Werk
über Friedrich Wilhelm I. jene Neuorientierung über den Halleschcn
Pietismus in der wissenschaftlichen Forschung eingeleitet, die Franckes
politisch-soziale Reformbewegung förmlich neu entdeckt hat. Man gewinnt
aus den abgedruckten Quellenstücken aber nicht das richtige Bild
nach dem neusten Forschungsstand.

Bei den Qellenauszügen zur Diakonissenarbeit hat der Herausgeber
dankenswerterweise die in ihrer selbständigen Bedeutung lange
unterschätzten oder übersehenen Beiträge Friedrich Heinrich Härters in
Straßburg in drei Belegen deutlich werden lassen.

Vor allem interessiert uns die Quellenzusammenstellung in
der VI. Abteilung: Die evangelische Kirche und die soziale Frage.
Hier ist ein geschlossenes Gesamtbild entstanden, bei dem auch
beschämende Dokumente einer erschreckenden Befangenheit und
Rückständigkeit nicht beiseitegeblieben sind. Man möchte hier
die Bitte anfügen, ob nicht die christliche Gewerkschaftsarbeit,
die um die Jahrhundertwende eine beachtliche Stellung gewonnen
hat, in einer Neuauflage berücksichtigt werden könnte. Auch
einige Quellenauszüge säkularer Sozialprogramme wären hilfreich,
wie z. B. aus der Aufklärung, vom Marxismus, Liberalismus etc.

Da Anregungen ausdrücklich erwünscht werden, möchten wir
noch auf die evangelischen Sozialreformer Victor Aime Huber
und Rudolf Todt hinweisen. Sie verdienen es, nicht vergessen zu
werden. Bei Friedrich Naumann könnten noch Quellenauszüge
aus seinem kühnen und herausfordernden „Arbeiterkatechismus"
beigefügt werden. In seinem „Konservativen Christentum" finden
wir eine glänzende Analyse der Geschichte der sozialen Frage
innerhalb Kirche und Innerer Mission seit 1848, die sonst nirgend
auftaucht.

Eine letzte entscheidende Frage bricht bei der Feststellung
von Krimm auf, daß in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhundert
„so viel taubes Gestein vorliegt", daß man auf diese
Zeit in dem geplanten 3. Band „Neuzeit und Gegenwart" ganz
verzichten kann. Darüber muß ernsthaft gesprochen werden. So
ganz unwesentlich und uninteressant 6ind diese 30 Jahre wohl
nicht. So stellten die 5. und 6. Vorlesung in Adolf von Harnacks
„Wesen des Christentums" über das „Evangelium und die Armut
oder die soziale Frage" eine wesentliche Dokumentation
evangelisch-sozialer Entschlossenheit dar. Ihre ganz praktische
Auswirkung zeigte sich in der Hilfestellung des Evangelisch-
Sozialen Kongresses für die ausgesperrten Ruhrarbeiter bei dem
großen Streik von 1905. Hier läßt sich noch viel instruktives
Material finden. Die Neuansätze nach 1945 sind ohne diese Vorgeschichte
nicht verständlich. Die Evangelischen Akademien und
auch die Evangelische Sozialakademie besitzen hier eine nicht unwesentliche
Vorgeschichte.

Nicht viel anders scheint es mit der DEVA zu liegen. Ist
diese Peinlichkeit innerhalb einer Geschichte der Diakonie so unwesentlich
, daß sie nicht „urkundenmäßig noch länger dem Gedächtnis
der Nachwelt erhalten zu bleiben braucht"? Als warnendes
Beispiel möchte die Sache nicht vergessen werden. Über ein
halbes Jahrhundert hat sich der Central-Ausschuß geweigert, praktische
Schritte in der Frage der Wohnungsnot der Arbeiter zu
unternehmen. Friedrich von Bodelschwingh war ein erfolgloser
Mahner. Selbst die Zweigvereine der Inneren Mission wurden vor
Taten von Berlin aus gewarnt. Als der Central-Ausschuß dann
die Sache doch erstmalig in die Hand nahm, endete sie so peinlich
. Andererseits bildete dieser Bankrott einen Markstein in der
Geschichte der Diakonie. Die Kirche sprang mit sechs Millionen
für die enttäuschten Sparer ein. Es war die größte finanzielle Leistung
, mit der die verfaßte Kirche seit der Gründung der von ihr
relativ unabhängigen Inneren Mission unter die Arme gegriffen
hat. Sie war bei aller Peinlichkeit doch ein weithin sichtbares
Zeichen dafür geworden, daß die Evangelische Kirche in
Deutschland die Sache der Diakonie als ihre eigene bekannte.

Die immer wieder so verkannte Zeit der „Weimarer Republik
" liefert bei der Verankerung diakonischer Arbeit auch im
Staat die Ansätze, die nach 1945 weiter ausgebaut worden sind.
Wir fragen dann, ob im Anhang der Abdruck katholischer Quellen
unter der Überschrift „Katholische Einflüsse" die Sache wirklich
trifft. Dem christlichen Sozialismus auf katholischer Seite sind
im 19. Jahrhundert keine weiterführenden Erkenntnisse geschenkt
worden, als sie der Protestantismus in seiner Auseinandersetzung
mit der Arbeiterfrage gewann. Die sehr kritische katholische Forschung
sieht keinen wesentlichen Vorsprung in ihrem Lager. Unter
den Quellen vermissen wir Franz von Baader, der als gläubiger
katholischer Christ im 19. Jahrhundert als einer der ersten die
Situation des Proletariats erkannte und um die Heranführung der
katholischen Priester an die soziale Frage vor Ketteier gekämpft
hat.

Bei den „Angelsächsischen Einflüssen" fehlt uns Thomas
Chalmers. Wir erinnern an Karl Holls wegweisenden Aufsatz über
ihn. Wenn der Herausgeber im Vorwort zum 1. Band stark die
Kontinuität der Entwicklung von der apostolischen Zeit bis zur
Reformation betont, so möchten wir wünschen, daß der in Vorbereitung
befindliche 3. Band nicht „unverzüglich" mit der Gegenwart
beginnt, nachdem der 2. Band um die Jahrhundertwende
abschließt.

Doch sollen diese Fragen nicht den Dank mindern und die
Freude an dem doppelbändigen Quellenwerk, das den Rang eines
Standardwerkes besitzt. Man wird diesen Zugang zu den Quellen
nicht mehr entbehren wollen.

München Eridi Beyreuther

Kahle. Wilhelm: Über den Begriff „Ende des konstantinischen Zeitalters
(ZRGG XVII, 1965 S. 206—234).

Meinardus, CHto: The Ethiopians in Jerusalem. Erste Hälfte, I—III,
(ZKG LXXVI, 1965 S. 112-147).

KI HC H EN GESCHICHTE: ALTE KIRCHE

B o I g i a n i, Franco: Vittore di Capua e il „Diatessaron". Memoria.
Torino: Accademia delle Scienze 1962. V, 97 S., 1 Taf. gr. 8° =
Memorie dell'Accademia delle Scienze di Torino, Ciasse di Scienze
Morali, Storiche e Filogiche. Serie 4a, N. 2.

—La Tradizione Ercsiologica sull'Encratismo. II: La confutazione di demente
Alessandria. (Parte prima). Ebda 1962. 128 S. gr. 8° = Estratto
dagli Atti della Accademia delle Scienze di Torino. Vol. 96
(1961-62).

Die Untersuchung über Viktor von Capua und das „Diatessaron
" betrifft eine Einzelfrage aus dem Gesamtproblcm des
abendländischen Diatessaron, wie es dem Bischof von Capua vorlag
und wie er es im Codex Fuldensis vom Jahre 546 dem Abendland
vermittelt hat. Der Bischof als Herausgeber bezeichnet nämlich
in seiner Vorrede das Werk Tatians nicht als Diatessaron,
sondern als Diapente. Um einen bloßen Lapsus kann es sich dabei
nicht handeln. Denn der Bischof hat auf die Herausgabe große