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Ausgabe:

1965

Spalte:

820-822

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Tradition und Situation 1965

Rezensent:

Bernhardt, Karl-Heinz

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 11

820

Zollikon 195 8, dienen. Wilkens versucht den Entstehungsprozeß
des Joh.-Ev. von einem Grundevange'ium bis zur heutigen
Gestalt herauszuarbeiten, wobei er Grundevangelium und Jetztgestalt
auf den gleichen Verfasser zurückführt. Den Terminus
a quo für diese literarische Entwicklung setzt er „etwa um das
Jahr 70" (S. 173), den Terminus ad quem um das Jahr 100. Das
Grundevangelium sei „überhaupt älter als Matthäus und Lukas.
Vielleicht hat es hier nicht einmal Markus gekannt". — Ich bin
mit Wilkens in der Annahme apostolischer Verfasserschaft einig
und betone wie er „die ungeheure Freiheit des 4. Evangelisten
der Tradition gegenüber, die in der Vollmacht echten Zeugen-

tums gründet". Auch die Priorität — freilich des Gesamt-Evan-
geliums - vor Matth, und Luk. erkenne ich an. Aber die Konzipierung
des Joh.-Ev. hat nicht erst um 70 begonnen, sondern war
bereits 68 fertig. Grundsätzlich bestreite ich Wilkens' These:
Es gibt keine wirklichen Spuren, die darauf hinweisen, daß sich
das 4. Evangelium in irgendeiner Form, sei es positiv oder
negativ, zu den Synoptikern verhielte" (S. 174). Diese Behauptung
dürfte z. B. von E. Stauffer in seinem oben zitierten Aufsatz
über die Historischen Elemente im vierten Evangelium und auch
durch unsere vorstehenden Darlegungen widerlegt sein.

ALLGEMEINES, FESTSCHRIFTEN

Stähl in, Wilhelm: Symbolon. II. Folge. Erkenntnisse und Betrachtungen
. Zum 80. Geb. i. Auftr. d. Evang. Michaelsbruderschaft mit
einem Geleitwort hrsg. v. A. K ö b e r 1 e. Stuttgart: Evang. Verlagswerk
[1963]. 361 S. 8°. Lw. DM 25.—.

Zum 80. Geburtstag des ehrwürdigen Altbischofs stellt die
Midiaelsbruderschaft wieder eine Sammlung von Vorträgen und
Aufsätzen zusammen. Einer datiert von 1945, die übrigen verteilen
sich auf die 50er und 60er Jahre. Sie gruppieren sidi um
5 Themenkreise: Zur Auslegung der Heiligen Schrift — Zum
Verständnis der christlichen Lehre — Fragen des christlichen Gottesdienstes
— Zur Gestalt der Kirche — Zum Verständnis des
christlichen Lebens. Es ist der reife Ertrag einer Lebensarbeit,
die sich mit persönlicher Anteilnahme und zugleich immer mit wissenschaftlicher
Gründlichkeit um die Fragen von Kirche und Gottesdienst
bewegt hat. Das gibt den Aufsätzen ihren besonderen
Wert und Tiefengehalt.

Zu den exegetischen Problemen werden Tatsachen in die
Erinnerung gerufen, die heute aktueller sind als je. Bibel und
Kirche stehen in einem unlöslichen Wechselverhältnis. „Weder
kann ... die Schrift losgelöst von der Existenz der Kirche verstanden
und ausgelegt werden, noch auch kann die Kirche sich
über die Schrift erheben und dadurch das Verständnis der Schrift
als ihrer Norm im Grunde unfruchtbar machen" (S. 12). Das Evangelium
würde zu einer „Buchreligion" verfälscht, „wenn man
behauptet, daß alle theologischen Arbeitsergebnisse rein exegetischer
Art seien" (11). Kirchliches Schriftverständnis wird vollzogen
von der ganzen Kirche, der una saneta catholica et apos-
tolica ecclesia (14). Damit ist die Einengung auf das reformatorische
Schriftverständnis (15) und überhaupt „das schreckliche
Entweder-Oder-Denken" abgewehrt, das unfähig macht, „das
Widersprüchliche als innere Einheit zu sehen" (17). Und damit
überhaupt jede Versuchung, eine bestimmte theologische Uberlieferung
der Heiligen Schrift überzuordnen (38) und damit „den
eigentümlich dialektischen Charakter aller biblischen Aussagen"
zu verkennen (39) und, dialektische Aussagen verabsolutierend,
zu gefährlichen Halbwahrheiten zu gelangen (22). Vielmehr erschließt
sich die Heilige Schrift im „Umgang' — dies Wort in der
Vielfalt seiner Bedeutungen verstanden: Prozession, Einfühlung,
persönlicher Kontakt (40 ff). Das heißt in diesem Fall: Ehrfurcht.
Liturgie, Bereitschaft zum Hören.

Damit stellen sich zwangsläufig die Fragen des zweiten Problemkreises
: Welche Relevanz besitzt die kirchliche Lehre? Eine
ganze Reihe von Aufsätzen kreist um diese Probleme. Sie umkreisen
sie von verschiedenen Seiten und unter wechselnden
Aspekten. In einer Synodalrede von 1945 (S. 239 ff.) wird die
Verbindlichkeit des Dogmas betont: „Die Kirche ist nicht mehr
. . . ein Sprechsaal verschiedener Meinungen" „Dogma redet . . .
von dem, wovon unsere Brüder gelebt haben in den Monaten
und Jahren der Gefangenschaft, das . . . was sie an die Wände
ihrer Zellen geschrieben haben, was auf ihren Lippen war, wenn
sie zum Tode geführt wurden".

Zugleich wird andererseits sehr nachdrücklich darauf hingegewiesen
, daß die Lehre nicht abgelöst werden kann von ihrem
lebendigen Vollzug im Leben der Kirche, von Sakrament und
Gebet. Elf Jahre später, in einem Quatemberaufsatz von 195 5/56

„Reine und gesunde Lehre" (8 5 ff.) wird das dynamisch-vitale
Moment stärker betont: „Reine" Lehre, in der jede Formulierung
gestützt und gesichert ist, könnte genau so steril und giftig
werden wie chemisch reines Wasser. Noch stärker betont ein
Aufsatz von 1960 „Wort und Wirklichkeit" (90 ff.) den Ereignischarakter
aller gesprochenen Worte: „Wirklichkeit" (von
wirken) ist etymologisch und sachlich etwas wesenhaft anderes
als „Realität" (von „res"). Unter diesem Gesichtspunkt wird —
hier und anderswo — vieles Ausgezeichnete gesagt — z. B.: „Der
Verfall der Liturgie und der Wirklichkeitsschwund der religiösen
Rede sind kommunizierende Röhren; eins bedingt und steigert
das andre" (101). Gerade in der Sachbestimmung des Liturgischen
wie auch in der Aufdeckung und Analyse etymologischer Zusammenhänge
liegt von je Stählins eigentliche Meisterschaft. Trotzdem
wäre zu fragen, ob hier dem Moment der Realität — dem
objektiven, normierenden, richtenden Gegenüber — genügend
Rechnung getragen wird. Dies umsomehr, als der Verf. hier dasselbe
zu sagen meint wie Gogarten mit der These von der Nicht-
objektivierbarkeit der Glaubensaussagen und Guardini mit dem
Begriff der „zutreffenden Uneigentlichkeit" (97 f.). Beides ist
schon in sich nicht dassalbe. Guardini meint das stete Hinaus der
transzendenten Wirklichkeit über alle konkreten Aussagen, ohne
daß diese dadurch in ihrer Objektivität und Verbindlichkeit entwertet
würden, während bei Gogarten Objektivität und Verbindlichkeit
in Frage gestellt werden. Stählin meint vermutlich durchaus
nicht dasselbe wie Gogarten. Trotzdem bleibt die Frage nach
der Objektivität offen. Hier müßte die Diskussion einsetzen
(vgl. meine Besprechung des 1. Bandes von „Symbolon" in ThLZ
1959, 84, Sp. 902 f.) — vermutlich die Diskussion mit der
Theologie der Michaelsbruderschaft überhaupt. Dementsprechend
zeichnet sich in dem — in Vielem sehr wertvollen — Aufsatz
„Über die lutherische Spendeformel" ziemlich deutlich eine am
Funktionalen orientierte Sakramentslehre ab, die dem zentralen,
lutherischen Anliegen — der Inkarnation — nicht gerecht wird
(173 ff.). Für Luther war es von gleichem Gewicht wie die Rechtfertigungslehre
, denn an der realen Inkarnation hing für ihn nicht
nur die Heilsgewißheit, sondern auch der Schöpfungsglaube und
damit überhaupt die trinitarische Gotteslehre der Alten Kirche. --
Auf eine Reihe anderer gewichtiger Aufsätze zu liturgischen Themen
— z.B. „Über das Gloria Patri", „Die Tageszeiten", Die
Zurüstung zum geistlichen Amt" sei wenigstens hingewiesen.

Hamburg Helmut Ech t e r n a c h

[Weiser, A.:] Tradition und Situation. Studien zur alttestament-
lichen Prophetie. Artur Weiser zum 70. Geburtstag am 18. 11. 1963
dargebracht von Kollegen, Freunden und Schülern, hrsg. v. E. W ü r t h-
wein u. O. Kaiser. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1963].
VII, 156 S., 1 Taf. gr. 8°. Kart. DM 15.-; Lw. DM 20.-.

Festschriften erwecken nicht selten den Eindruck einer willkürlichen
Sammlung von Gelegenheitsarbeiten oder Verlegenheitsarbeiten
aus den verschiedensten Fachgebieten. Dieser Eindruck
ist in dem vorliegenden Bande insofern glücklich vermieden
worden, als die Herausgeber im Hinblick auf den Mitarbeiterkreis
und die Thematik für eine weise Beschränkung gesorgt
haben. So sind nur Aufsätze von Mitarbeitern A. Weisers am
.Alten Testament Deutsch' aufgenommen, die fast sämtlich Themen
aus dem Bereiche der alttestamentlichen Prophetie behandeln,
ein Gebiet, dem sich der Jubilar auch in seinen eigenen Arbeiten
in besonderem Maße zugewandt hat. Auf diese Weise wird er-