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Ausgabe:

1965

Spalte:

61-63

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wendland, Heinz-Dietrich

Titel/Untertitel:

Einführung in die Sozialethik 1965

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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Gl

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 1

62

Werk seinen katholischen Charakter, der indessen nicht nur der
freien Entfaltung der hier vertretenen Fachwissenschaften nicht
hinderlich ist, sondern der auch Raum läßt für die wichtigsten
Themen der evangelischen Kirche und ihrer Sozialethik sowie
für die Mitarbeit evangelischer Theologen, Historiker und
Juristen.

Die Literaturverzeichnisse zu den einzelnen Beiträgen sind
vorzüglich und in sich eine Stärke des Lexikons. Wie in solchen
Fällen regelmäßig, so sind auch hier der Nennung älterer Titel
Grenzen gezogen, wie auch in einigen Fällen die evangelische
Literatur so begrenzt ausgewählt ist, daß die Ergänzung durch
die Angaben der RGG:l und das im Erscheinen begriffene Evangelische
Staatslexikon empfohlen werden muß.

Der verantwortliche Herausgeberkreis, die Professoren
Clemens Bauer, Fr. Aug. Frhr. von der Heidte, Heinz Müller, Max
Müller und Helmut Ridder haben sich in Verbindung mit der im
Verlag Herder tätigen Redaktion (Chefredakteur Walter Dedek)
ein Verdienst erworben, das in der ganzen Wissenschaft, die
evangelische Theologie eingeschlossen, dankbar anerkannt
w-erden wird.

Göttingen Wolfgang T r i 11 h aa s

Wen Jland, Heinz-Dietrich, Prof., Dr. D.: Einführung in die Sozialethik
. Berlin: de Gruyter 1963. 144 S. kl. 8° = Sammlung Göschen,
Bd. 1203. DM 3.60.

Ein sehr lehrreiches Büchlein mit weitem Horizont, allerdings
bisweilen mehr historisch als geographisch. Denn es ist
ganz aus dem Blickwinkel der Deutschen Bundesrepublik geschrieben
, und nicht nur, was die thematische Auswahl anbetrifft.

Im Prinzipiellen und im theologischen Ansatz muß man
Wendland aber weitgehend zustimmen:

W. verlangt nicht eine christliche Gesellschaftsordnung,
wohl aber christliche Grundforderungen (13); und zwar besonders
dies: daß das Menschscin und Personscin des Menschen gegenüber
Entmenschungen und .sozialen Dämonien' oder .Strukturen
der Destruktion' (P. Tillich) gewahrt bleibe (33). Die
Kirche hat kein sozialethisches Programm zu propagieren, sondern
im konkreten Fall sich schützend vor Bedrängte zu stellen.
Es geht nicht um .christliche Gesellschaft', sondern um Bewahrung
ihrer Menschlichkeit; und in diesem Sinne kann ein „christlicher
Humanismus ... Leitbegriff der Sozialethik" sein (17).

Es sind nun im wesentlichen folgende Sachbereiche, an denen
die angedeutete Konzeption durchgeführt wird, auf welche
Wendlands „Einführung in die Sozialethik" aber auch beschränkt
bleibt: „Die Kirche in der modernen Gesellschaft" (Kap. II),
„das Gemeinwesen als Demokratie" (Kap. III) und „Probleme
der Wirtschaftsethik" (Kap. IV) (nach einem einführenden Kapitel
über „Voraussetzungen und Grundfragen" — christlicher
Humanismus gegen die Mächte der Verkehrung — und mit einem
zusammenfassenden Ausblick: Kap. V „Leitbilder der sozialen
Gestaltung" mit dem Gedankengang: Da sich die verschiedenartigen
Interessen keineswegs von selbst ausgleichen (127), bedarf
es der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen und des Wahrnehmens
von Gesamtverantwortlichkeit — letztlich für die
Menschheit, 12S — durch die Kirche; hierbei besonders Abwehr
aller Utopien, die nur den Blick verdunkeln für die Dämonien
der Gesellschaft).

Über die drei Hauptkapitel sei noch folgendes mitgeteilt
(und kritisch angemerkt):

Die Kirche, obwohl in der „pluralistischen Gesellschaftsordnung
" nur „Verband unter Verbänden" (55, 58), ist doch,
soziologisch gesehen, der „Mutterboden" (45) für das Wahrnehmen
christlicher Verantwortung im politischen Bereich. Sie gibt
nicht nur dem Einzelchristen Rückhalt und Verbundenheit mit
Gleichgesinnten, sondern wirkt als Institution selber: besonders
um je und wieder die Einheit der menschlichen Gesellschaft
geltend zu machen (62) und als „Anwalt des Menschen" (62)
gegen „Entmenschungen", die vielfältigste Gestalten annehmen
können (71 ff.), aufzutreten. Die Form solcher Wirksamkeit
sollte aber nicht in Block- und Frontbildung bestehen, weil
damit die .Solidarität' mit dem .Gegner' verloren geht.

„Der Versuch der Stärkung des christlichen Einflusses durch
Sammlung der Christen schlägt um in die Aufhebung der christlichen
Solidarität, der Liebe, die auch und gerade den Nicht-Christen gilt und
eben dadurch die Wahrheit des Evangeliums Nicht-Glaubenden bezeugt
" (65).

In der Demokratie sieht W. diejenige politische Ordnung
und Methode, „mit der heute relativ am besten die Freiheit
und die Personwürde des Menschen respektiert. . . werden
kann" (75). Sie verlangt aber — indem sie statt Untertanen den
mitdenkenden Bürger voraussetzt — ein hohes Maß an ethischem
Bewußtsein, wie es 6ich in Verantwortungsfreude oder in der
Überwindung egoistischen Interessendenkens realisieren muß.
Dieses muß die Kirche mitbegründen helfen (8 5). Es gibt aber
kein spezifisch christliches politisches Handeln, sondern es ist
christlich genug, wenn das Sachgemäße und Vernünftige „nach
dem Maßstab des Gemein-Wohls der Gesellschaft" (88) erreicht
wird. Allerdings geschieht das nicht automatisch, sondern muß
immer erneut gegen zerstörerische Kräfte (zumal gerade der
Boden des rein Rationalen „Leidenschaften" und „Ideologien
" ansaugt, 88) durchgesetzt werden. Und dieses Durchsetzen
bedarf alsdann der christlichen Liebe als starkmachenden Motivs
(vgl. S. 132 f., wo Liebe auch als Norm, nicht nur als Motor im
Sozialethischen verlangt wird, was aber darauf hinauskommt,
daß sie auf das Niveau der aristotelischen „Billigkeit" herabgestimmt
wird, wodurch u. E. die Probleme verdeckt und entschärft
werden).

Sonst muß kritisch angemerkt werden, daß W. die Demokratie
bzw. den Staat zu formal und rein organisatorisch als bloßen Vcr-
waltungs- und Wohlfahrtsstaat versteht (letzteren freilich mit Recht
gegen kulturpessimistischcs u. a. Verächtlichmachen der durch diesen
gewährten Sicherheit verteidigend, 111 ff.); dagegen jenem Problem,
daß Staaten (und nicht erst heute) sich von Weltanschauungen und
Philosophien tragen lassen — die fundamentale Voraussetzung schon
Piatos für seinen Staat —, nicht gerecht wird. Zumindest wird man hinsichtlich
dessen, von welcher Ideologie oder Philosophie sich staatliche
Wirksamkeit beflügeln und in ihren Maßnahmen rechtfertigen
läßt, erhebliche Unterschiede machen müssen, statt daß man alles unter
das Verdikt des Totalitarismus stellt. Es ist doch z. B. etwas fundamental
Verschiedenes, ob ein Staat eine Erwählungs- (samt Ver-
werfungs-) Ideologie verficht oder ob man zu bloßer Arbeitsorganisation
eine Arbeits m o r a 1 meint hinzufügen zu sollen
(welche die Kirche natürlich kritisieren, aber doch nicht ersetzen kann).
Auch lehrt die theologische Anthropologie ja lange genug die Einheit
von Leib und Seele des Menschen, der immer .totus homo' ist, als daß
man noch von dem Axiom ausgehen dürfte, daß zwar die Kirche die
.Leiber' mit zu bedenken, aber der Staat an den .Seelen' nichts zu beanspruchen
habe.

Ein Ausweg aus diesem Dilemma, daß verschiedene Instanzen den
totus homo beanspruchen, ist nun eben auch nicht dies, daß man nur
gewissen Verbänden in der „pluralistischen Gesellschaftsordnung", aber
nicht dem Staat, das Recht, ideologisch aktiv zu werden, zuspricht.
Das ist gewiß die bequemste Lösung, eine eigentliche kann aber nur
auf der Ebene liegen, daß man sich in der Konkurrenz durchsetzt, nicht,
daß man die Konkurrenz des Staates als 6olche dämonisiert.

Ausführlich behandelt W. Probleme der Wirtschaftsethik
, besonders in der Abwehr jeder Verächtlichmachung
des bloß Ökonomischen. Als Problem erscheint einmal
dies: die rechte innere Einstellung zur Arbeit zu finden
(zwischen Vergötzung der Arbeit als Schöpfertum und Entwertung
, ja Dämonisierung der Arbeit, 100), wobei „Dienst
Gottes" als umfassenderer Begriff angesehen wird (in
Abwehr der Glcichsetzung von Arbeit als Beruf mit Berufung)
und das „Freisein von der Arbeit" als notwendiger Gegenpol
verlangt wird. Sodann erscheint als ethische Problematik am
Wirtschaftlichen die S o z i a 1 k r i t i k, die sich auf jeweilige
und gegenwärtige Notstände beziehen müsse, wie es diakonische
Aufgabe der Kirche sei, „neuentdeckten Notständen" (114) zu
begegnen.

Problematisch erscheinen uns Wendlands Ausführungen zur
Frage des Eigentums. Von welcher theologischen Voraussetzung
aus will man bspw. „die Notwendigkeit von Großeigentum
" — privater Art — an Produktionsmitteln (106) begründen
? Überhaupt müßte eine heutige christliche Sozialethik
in deutscher Sprache am Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus
(Kommunismus) etwas vorurteilsfreier und gerechter ver-