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Ausgabe:

1965

Spalte:

727-740

Autor/Hrsg.:

Baumbach, Günther

Titel/Untertitel:

Zeloten und Sikarier 1965

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 10

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unbewußt bestimmen sie kirchliches Leben und Reden und den
Stil traditioneller Frömmigkeit noch immer. Wer jedoch heute
glauben will, muß gelehrt werden, den Weg des Denkens zu
gehen. Glauben ohne Denken ist ein Ausweichmanöver, das der
Wirklichkeit des Lebens fern bleibt. Das läßt sich leicht sagen,
aber man muß auch erkennen, wie oft Stil und Form unserer
Frömmigkeit zu diesem Fluditweg dennoch unbewußt einladen.
Unsere Neigung, den Glauben als eine besondere Situation, als
eine eigene Provinz, als ein vom natürlichen Fluß des Lebens
abgehobenes Terrain anzusehen und zu meinen, daß dort das
Gefilde der Frömmigkeit mit ihren überlieferten Weisen sei, ist
verdächtig groß. Dieser Neigung widerstehen heißt: Denken und
Glauben aufeinander beziehen. Denn Glauben ohne Denken ist
für einen erwadisenen Menschen so kindisch, als wollte er andere
wesentliche Entscheidungen oder Situationen seines Lebens gedankenlos
übernehmen. Das eine geht so wenig wie das andere,
und es ist vollauf berechtigt, wenn viele der Kirche distanziert
gegenüberstehende Mensdien diese Zumutung ablehnen. Es
kommt hinzu, daß die Lebensfremdheit und die Indolenz manches
Zeitgenossen, der sich auf seinen sogenannten Glauben beruft
, nur zu deutlich zeigt, wie unsinnig dieser eingeschlagene
Weg ist.

Dabei geht die gegenwärtige Situation mit ihrer erschreckenden
Diskrepanz zwischen theologischem Denken und der Frömmigkeit
der Gemeinde zum guten Teil gerade in Sachen mangelhafter
theologischer Information zu Lasten der Kirche. Es hat
Zeiten gegeben, in denen die Predigt der Kirche aus vielerlei
Motiven ihre Gemeinden über die gegenwärtige theologische Situation
vollkommen im Linklaren gelassen hat, und man kommt
auch heute sehr oft an der Frage nicht vorbei, ob diese Zeiten
wirklich schon ganz zu Ende sind. Die Verkündigung der Kirche
und ihre anderweitigen Verlautbarungen bis hin zu den Lebcns-
erdnungen sind bis in den Bezirk des Unbeabsichtigten hinein
beredte Beispiele. Jedenfalls ist soviel deutlich: Wer heute gelehrt
werden will, in den Dingen des Glaubens nüchtern, klar und ver-
antwortlidi zu denken, der wird im Durchschnitt von dem Angebot
kirchlicher Verkündigung nicht immer befriedigt sein können
. Es kommt noch erschwerend hinzu, daß ein nicht geringer
Kreis von Menschen sich der Verkündigung der Kirche aus vielerlei
Gründen gar nicht aussetzt, deswegen aber nicht minder
intensiv theologisch interessiert ist und theologisch fragt. Daher
ist es eine unabweisbare Notwendigkeit, die traditionellen Formen
kirchlicher Verkündigung immer wieder zu durchbrechen und
auf andere Weise zu versuchen, jene Denkhilfen zum Glauben
zu geben, auf die jeder heute angewiesen ist. So könnte man ein
wenig überspitzt sagen: Die Funktion, die früher Andachtsbücher
gehabt haben, müssen heute Darlegungen übernehmen, in denen
es um gedankliche Klärungen geht, wie 6ie uns die Theologie unserer
Tage an die Hand gibt. Man kann ja nicht Andacht halten,
man kann auch nicht beten in der Gegenwart, wenn man nicht
das, was man damit tut, gründlich durchdenkt. Es muß uns um der
Lebendigkeit und nicht zuletzt auch um der Argumentationsfähigkeit
gegenüber Andersdenkenden willen daran liegen, Theologie
und Glauben wieder ganz und gar aneinanderzurücken,
Theologie und Glauben wieder in ihrem gegenseitigen Durchdrungensein
zu begreifen, damit wir die Geistlosigkeit eines vermeintlichen
Glaubens überwinden. Das dürfte mit der beste Dienst
sein, den man heute der Kirche tun kann.

Wer sich auf diese Bahn begibt, wagt sich freilich auf einen
harten Weg. Denn es hat nur Sinn weiterzugehen, wenn man
radikal zu fragen und radikal zu argumentieren bereit ist. Das
aber bedeutet immer wieder, liebgewordene, mitgebrachte Vorstellungen
abwerfen zu müssen, und es bedeutet audi, neugewonnene
immer wieder kritisch in Frage stellen zu lassen. Es gibt auf
keinem Gebiet Erkenntnis ohne Schmerz, und das ist auch hier
so. Ratlosigkeit und Verlegenheit werden einem oft nicht erspart
bleiben. Jenseits dieses Durchgangsstadiums werden dann manche
oder gar viele herkömmliche Weisen und Übungen eines traditionellen
Glaubens nicht mehr möglich sein. Wir werden zugleich
aber die Freiheit und den größeren Atem zu neuen Weisen und
eigenen Wegen finden. Denn der Glaube und die von ihm geprägte
Frömmigkeit wandeln sich am Leben, und zugleich prägen
sie das Leben. Das ist mehr als nur ein Austausch von unmodernen
mit modernen Vokabeln. In Wandlungen der Frömmigkeit
allein kann der Glaube sich und seinem Ursprung treubleibcn.

V.

Überblicken wir die genannten Aspekte, die ja ihrerseits
auch nur Auswahlcharakter haben, so zeigt 6ich, daß das rationale
Moment in allen eine entscheidende Rolle spielt. Wird also
hier der Glaube und seine Lebensform, die Frömmigkeit, an die
Ratio ausgeliefert? Sind Glaube und Ratio miteinander identisch
geworden, ist die Ratio Maßstab?

Wir kommen damit auf unsere Eingangsüberlcgungen zurück.
Am verstehenden Menschen sich orientieren, heißt noch nicht ihn
verabsolutieren. Die Ratio konsequent in die Lebensform und
Lebensdeutung des Glaubens einzubeziehen, heißt noch nicht, sie
zum absoluten Maßstab erheben. Aber unser Welt- und Lebensverständnis
wird generell derart durch rationale Durchdringung
bestimmt, daß davon niemand absehen oder dahinter wieder zurück
kann, es sei denn um den Preis wahrer Lebens- und Welt-
verantwertung — es sei denn um den Preis des Glaubens! Wenn
dies aber so ist, dann gibt es auch für den gelebten Glauben keinen
Weg an der Ratio, am Denken vorbei. Vielmehr liegt auf diesem
Weg die Möglichkeit neuer Erfahrungen des Glaubens am
Material des Lebens. Und dies heißt auch: So erst kann begriffen
werden, daß in der Verkündigung und ihrer Erhellung
menschlich-geschichtlichen Lebens von Horizonten die Rede ist,
die letztlich rational gerade nicht aufgehen. Aber: Das rational
nicht Aufgehende gewährt sich uns heute nicht im vorrationalen
Feld, sondern im begreifenden Durchschreiten aller intellektuellen
Möglichkeiten, die Zeit und Geschichte uns aufgegeben
haben.

Dieser Weg führt zugleich fort von allen bloß individuellen,
innerlichen Formen der Frömmigkeit vergangener Zeit. Gelebter
Glaube gewinnt wohl heute nur in dem Maße seine zu reditferti-
gende Gestalt, da der Einzelne sich gesellschaftlich zu begreifen
vermag. Was das überhaupt bedeutet, für Formen und Strukturen
der Frömmigkeit, für die Verkündigung und das Handeln der
Kirche, das muß immer aufs neue bedacht werden. Dazu bedarf es
dringlich der Aufarbeitung wesentlicher „nichttheologischer" Erkenntnisse
seitens der Theologie und der Kirche.

Zeloten und Sikarier

Von Günther Baumbach, Berlin

Die Auffindung der Qumrantexte und ihre wissenschaftliche
Auswertung in den letzten Jahren hat manche festgefügte Meinung
in Frage gestellt. Das durch diese Texte notwendig gewordene
wissenschaftlidie Umdenken bezieht sich nun aber
nicht, wie in der ersten Entdeckerfreude vermutet wurde, darauf,
daß die ,,Qumranliteratur unsere bisherige Auffassung von den
Anfängen des Christentums umzuwälzen verspricht" und deshalb
„alles, was bis heute über das Neue Testament existiert, umge-

Herrn Professor D. Dr. Johannes Schneider zum 70. Qehurtstag

schrieben werden muß"1. Fragwürdig ist vielmehr alles das geworden
, was über das Judentum und seine Gruppierungen in den
Neutestamcntlichen Zeitgeschichten weithin als opinio communis
vertreten wurde; denn die hinter den verschiedenartigen
Qumranschriften stehende Gemeinschaft läßt sich in unser bisheriges
schematisches Bild von dem Judentum des 1. nachchrist-

') E. Wilson: Die Schriftrollen vom Toten Meer, 1956, 67.